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4. August 2021
Seit Beginn der Corona-Pandemie haben die USA konjunkturstützende Maßnahmen in Höhe von USD 5,3 Bill. bzw. 25,5% des BIP ergriffen. Dieser fiskalische Impuls könnte sogar – bei Umsetzung der noch in Planung befindlichen Konjunkturprogramme – auf über USD 9 Bill. oder 40% des BIP 2020 anwachsen. Zwar kann der Erfolg dieses großen US-Wirtschaftsexperiments noch lange nicht abschließend beurteilt werden. Dennoch zeichnet sich schon jetzt ab, dass die USA mit ihren massiven Staatsausgabenprogrammen einen neuen Trend in der Wirtschaftspolitik eingeleitet haben. Auch wenn ein entschiedenes Einschreiten der Finanzpolitik zur Krisenabwehr wohl unvermeidlich war, hat der Trend zu immer höheren öffentlichen Haushaltsdefiziten und Staatsschulden mittlerweile besorgniserregende Ausmaße angenommen. Die Rekordverschuldung konnte bislang nur dank der Niedrigzinsen und der faktischen Monetarisierung von Staatsschulden durch die Notenbanken unter Kontrolle gehalten werden. Das aktuelle Gleichgewicht aus niedrigen Zinsen und hohen Staatsschulden bleibt ein fragiles Gebilde, welches in ganz entscheidender Weise eine weiterhin niedrige Inflationsdynamik voraussetzt. Sollte die Inflation aber dauerhaft nach oben schießen und die Zentralbanken nicht entsprechend gegensteuern, könnte die Preisdynamik außer Kontrolle geraten. Sollten die Zentralbanken jedoch zu stark auf das geldpolitische Bremspedal treten, könnten steigende Risikoprämien und Anleiherenditen schlimmstenfalls eine Schuldenkrise auslösen. [mehr]
Deutschland-Monitor Seit Beginn der Corona-Pandemie haben die USA konjunkturstützende Maß nahmen in Höhe von USD 5,3 Bill. bzw. 25,5% des BIP ergriffen . Dieser fiskali sche Impuls könnte sogar - bei Umsetzung der noch in Planung befindlichen Konjunkturprogramme - auf über USD 9 Bill. oder 40% des BIP 2020 anwach sen. Auch wenn der Erfolg dieses großen US-Wirtschaftsexperiments noch lange nicht abschließend beurteilt werden kann, haben die USA damit einen neuen Trend eingeleitet. Angesichts niedriger Zinsen und stark gefallener Zins ausgaben wird heute vielfach eine schuldenfinanzierte Investitionsoffensive ge fordert. Das Narrativ der Schuldenverteidiger lautet, dass nur mit einem noch expansiveren fiskalpolitischen Kurs - und nicht mit einer Haushaltskonsolidie rung - die Tragfähigkeit der Staatsverschuldung wiederhergestellt werden kann. Aufgrund der schwachen Wachstumsaussichten kommt die Sanierung der Staatsfinanzen in den hoch verschuldeten Staaten einer Herkulesaufgabe gleich. Aber auch niedriger verschuldete Staaten (wie z.B. Deutschland) stehen aufgrund der Alterung vor enormen Herausforderungen. Um das Wachstum der Sozialausgaben unter Kontrolle zu halten und die Arbeitsanreize zu stärken, müssten diese Staaten dauerhaft mehr Geld in produktive Ausgabenbereiche lenken und die erforderlichen Strukturreformen anpacken. In den moderat ver schuldeten Ländern könnten auch höhere produktivitäts-/wachstumsfördernde Investitionen dazu beitragen, wieder aus den Schulden herauszuwachsen. Die Rekordverschuldung konnte bislang nur dank der Niedrigzinsen und der fak tischen Monetarisierung von Staatsschulden unter Kontrolle gehalten werden. Die großen Zentralbanken, die über die Zeit zu den dominierenden Akteuren im Staatsanleihemarkt geworden sind, halten mittlerweile zwischen rund 20% und 45% der ausstehenden Staatsschulden in ihren Bilanzen. Das insgesamt fragile Gleichgewicht aus niedrigen Zinsen und hohen Staatsschulden hat bislang nur dank einer niedrigen Inflation gehalten. Sollte die Inflation aber dauerhaft nach oben schießen und die Zentralbanken nicht entsprechend gegensteuern, könnte die Preisdynamik außer Kontrolle geraten. Sollten die Zentralbanken jedoch zu stark auf das geldpolitische Bremspedal treten, könnten steigende Risikoprä mien und Anleiherenditen schlimmstenfalls eine Schuldenkrise auslösen. Inspiriert vom US-„XXL"-Fiskalvorstoß erleben wir derzeit im deutschen Bundes tagswahlkampf einen regelrechten Überbietungswettbewerb mit Blick auf die staatlichen Investitionen . Der aktuelle Zeitgeist, in defizitfinanzierten Investitio nen ein Allheilmittel für alle gesellschaftlichen Probleme zu sehen, ist problema tisch. Damit soll keineswegs der Nutzen produktivitätsfördernder Investitionen (wie z.B. in die Digitalisierung) infrage gestellt werden. Allerdings sollte bedacht werden, dass eine solche Investitionsoffensive nur gelingen kann, wenn sie suk zessive und mit Maß und Mitte erfolgt und die dafür erforderlichen Angebotsbe dingungen in der Wirtschaft verbessert werden. Anderenfalls riskieren wir - mit Blick auf den bevorstehenden demografischen Wandel - die gleichen Fehler wie in den 1970er Jahren zu begehen. Diese führten damals zur Stagflation. Autor Sebastian Becker +49 69 910-21548 sebastian-b.becker@db.com Editor Stefan Schneider Deutsche Bank AG Deutsche Bank Research Frankfurt am Main Deutschland E-Mail: marketing.dbr@db.com Fax: +49 69 910-31877 www.dbresearch.de DB Research Management Stefan Schneider Original in engl. Sprache: 21. Juni 2021 4. August 2021 Die Rückkehr massiver Staatsausgaben Wird dieses Mal wirklich alles anders? Die Rückkehr massiver Staatsausgaben: Wird dieses Mal wirklich alles anders? 2 | 4. August 2021 Deutschland-Monitor Inhaltsverzeichnis Seite A. Einführung ................................ ................................ ...................... 3 B. Der heutige Schuldenanstieg im historischen Vergleich ................. 4 C. Kosten und Nutzen von Staatsschulden ................................ ......... 8 D. Das Konzept der Schuldentragfähigkeit ................................ ........ 14 Theoretische Aspekte zur Tragfähigkeit der Staatsverschuldung .. 14 Empirische Aspekte: Die dunkle Seite hoher und steigender Staatsschulden ................................ ................................ ............. 21 E. Fiskalpolitik in Zeiten niedriger Zinsen und demografischer Herausforderungen ................................ ................................ ...... 25 Im Schlaraffenland: Wenn die Zinsen niedriger sind als das BIP-Wachstum ................................ ................................ ............. 25 Im Land der Alten: Wenn die Alterung zunehmend die Staatsfinanzen bedroht ................................ ................................ . 43 F. Kernbotschaften der Studie ................................ ........................... 49 G. Fazit ................................ ................................ .............................. 56 H. Anhang: Wirtschaftstheoretische Aspekte zur Fiskalpolitik und Staatsverschuldung ................................ ................................ ....... 57 Die Rückkehr massiver Staatsausgaben: Wird dieses Mal wirklich alles anders? 3 | 4. August 2021 Deutschland-Monitor A. Einführung Die Corona-Pandemie hat nicht nur eine große Gesundheitskrise ausgelöst, sondern auch zu der schwersten globalen Rezession in der Nachkriegszeit ge führt. Überall auf der Welt haben die Regierungen ihre Haushaltsschleusen ge öffnet, um die Schäden für die Wirtschaft und das Produktionsniveau möglichst gering zu halten. Die Kehrseite davon waren jedoch ausufernde öffentliche Haushaltsdefizite und rapide steigende Staatsschulden, die in vielen großen Volkswirtschaften neue Höchststände in der Nachkriegszeit erreicht haben. Während die Schuldentragfähigkeit in vielen Entwicklungsländern - mit niedri gen Einkommen, hoher Verschuldung und einem geringen zusätzlichen finanz politischen Spielraum - zu unmittelbaren Problemen führte, konnten die meisten großen Schwellenländer hingegen einen expansiven haushaltspolitischen Kurs einschlagen. In den Industrieländern bzw. entwickelten Ländern hatten die meisten Regierungen keine größeren Schwierigkeiten, einen noch nie da gewe senen Ausgabenanstieg (z.B. für groß angelegte Finanzhilfen an Unternehmen und Arbeitnehmer) zu außergewöhnlich niedrigen Zinsen zu finanzieren (siehe Grafik 1). Dies liegt zum einen an der geläufigen Markteinschätzung, dass viele entwickelte Staaten - trotz hoher Schulden und begünstigt durch niedrige Zin sen - noch immer über hinreichend große finanzpolitische Spielräume zur Kri senbekämpfung verfügen. Zum anderen hat die Fortsetzung der ultra-expansi ven Geldpolitik - die zu deutlich gestiegenen Bilanzsummen der Zentralbanken geführt hat - maßgeblich dazu beigetragen, das Marktvertrauen zu stützen und stabile Finanzierungsbedingungen sicherzustellen (siehe Grafiken 2 und 3). Auch wenn ein entschiedenes Einschreiten der Finanzpolitik zu r Verhinderung einer noch schlimmeren Krise wohl unvermeidlich war, hat der Trend zu immer höheren öffentlichen Haushaltsdefiziten und Staatsschulden mittlerweile besorg niserregende Ausmaße angenommen. In der Tat haben sich die öffentlichen Haushaltsdefizite und Staatsschulden mit jeder neuen Krise immer weiter er höht, sodass die Finanzlage mittlerweile in vielen hochverschuldeten Staaten nicht mehr nachhaltig erscheint. Angesichts der Tatsache, dass die finanzpoliti schen Puffer in der aktuellen Krise weitestgehend ausgeschöpft wurden - und in dem Bewusstsein, dass der Zeitraum von einer zur nächsten Krise immer kür zer geworden ist -, haben die Regierungen wohl (nach vollständiger Überwin dung der Pandemie) keine andere Wahl, als ihre Haushalte zu konsolidieren und wieder nachhaltig aufzustellen. Mit Blick auf die Wiederherstellung tragfähi ger Staatsfinanzen stehen die hoch verschuldeten Staaten jedoch vor einer Her kulesaufgabe. Die in vielen Volkswirtschaften offen zu Tage getretenen finanzpolitischen Pro bleme und Herausforderungen (wie z.B. in den USA, Japan und einigen Mit gliedstaaten des Euroraums) haben schließlich eine kontroverse Debatte aus gelöst, wie sich die Finanzpolitik angesichts von Niedrigzinsen und der voran schreitenden Alterung der Bevölkerung aufstellen sollte, um sowohl die Stabilität der Wirtschaft als auch die Nachhaltigkeit der Staatsfinanzen sicherzustellen. Während die Niedrigzinsen auf der einen Seite dafür gesorgt haben, dass die Zinslasten der meisten Staaten noch immer tragbar geblieben sind, dürfte die Alterung der Bevölkerung die öffentlichen Haushalte in der nächsten Dekade massiv belasten, da sich einerseits das Beschäftigungsniveau - und somit die Wachstumsrate - abschwächen und darüber hinaus auch die altersabhängigen Staatsausgaben ansteigen dürften. Die derzeitige Gretchenfrage lautet also wie folgt: (a) Könnte die überbordende Staatsverschuldung - sollte sie nach der Pandemie nicht wieder auf ein normales Maß begrenzt werden - ab einem un umkehrbaren Punkt die Staaten und Volkswirtschaften derart belasten, dass am Ende unweigerlich eine neue Staatsverschuldungskrise stehen könnte? Oder (b) könnte der aktuell beobachtete Schuldenanstieg lediglich den Übergang in eine „neue Normalität" darstellen, in der die Schuldentragfähigkeit der Staaten -1 0 1 2 3 4 15 16 17 18 19 20 21 US DE FR IT ES JP Renditen auf Staatsanleihen mit 10-jähriger Restlaufzeit, % Die Staatsanleiherenditen: Zuletzt gab es ein Auf und Ab 1 Quellen: WEFA, Haver Analytics, Bloomberg Finance LP, Deutsche Bank Research 0 5.000 10.000 15.000 20.000 09 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 Fed BoJ EZB BoE USD Mrd. (auf Basis aktueller und konstanter Wechselkurse) Fed: Im Bestand der Fed gehaltene Wertpapiere. BoJ: Staatliche Schuldverschreibungen. EZB: Bestand der zu geldpolitischen Zwecken gehaltenen Wertpapiere. BoE: Im Rahmen des Ankaufprogramms (APF) gehaltene britische Staatsanleihen (Gilts). Wertpapierkäufe der großen Zentralbanken 2 Quellen: Zentralbanken, Haver Analytics, WEFA, Bloomberg Finance LP, Deutsche Bank Research 0 20 40 60 80 100 120 140 00 02 04 06 08 10 12 14 16 18 20 US JP EA GB Die Notenbankbilanzen sind in der letzten Dekade enorm angewachsen 3 Aktiva der Zentralbanken, % BIP Quellen: Zentralbanken, IWF WEO, AMECO, WEFA, Haver Analytics, Deutsche Bank Research Die Rückkehr massiver Staatsausgaben: Wird dieses Mal wirklich alles anders? 4 | 4. August 2021 Deutschland-Monitor auch in Zukunft dank anhaltend niedriger Zinsen und Staatsanleihekäufe durch die Notenbanken sichergestellt ist? Die Studie ist wie folgt gegliedert: Im nächsten Kapitel werfen wir zunächst ei nen Blick auf den jüngsten weltweiten Anstieg der Staatsschulden, bevor wir uns im dritten Abschnitt mit den Kosten und dem Nutzen von Staatsschulden - oder anders ausgedrückt, dem „Gebrauch" bzw. „Missbrauch" der Defizitfinan zierung - befassen. Um diese oft auf Lagerdenken basierende Diskussion zu versachlichen, fassen wir im Anhang die vorherrschenden wirtschaftswissen schaftlichen Theorien zur Staatsverschuldung zusammen. Im vierten Kapitel ge hen wir auf das theoretische Konzept der Schuldentragfähigkeit ein und werfen einen Blick auf die empirische Forschung in den Wirtschaftswissenschaften zu diesem Thema. Im fünften Kapitel befassen wir uns mit den Auswirkungen, die von den niedrigen Zinsen und der Bevölkerungsalterung auf die Schuldentragfä higkeit ausgehen. Am Schluss ziehen wir ein Fazit und zeichnen einen Weg zu r Wiederherstellung „tragfähigerer" öffentlicher Finanzen, der unserer Ansicht nach beschritten werden sollte, um die Weltwirtschaft stabiler und wachstums freundlicher zu machen. B. Der heutige Schuldenanstieg im historischen Vergleich Die COVID-19-Pandemie hat nicht nur eine große Gesundheitskrise, sondern auch die schwerste globale Rezession in der Nachkriegszeit ausgelöst. Im Jahr 2020 sank das globale BIP (real) um 3,3% und damit deutlich stärker als wäh rend der globalen Finanzkrise im Jahr 2009 (siehe Grafik 4). Angesichts des Ausmaßes der Krise (global, branchenübergreifend, angebots-/nachfrageseitig) sind die Staatsschulden weltweit deutlich anstiegen. Sowohl die konjunkturbe dingten Mindereinnahmen/Mehrausgaben (automatische Stabilisatoren) als auch die finanzpolitischen Rettungs- und Konjunkturpakete (diskretionäre Maß nahmen) haben zu ausufernden öffentlichen Haushaltsdefiziten geführt. Die Staaten haben als Reaktion auf die Pandemie die Haushaltsschleusen ge öffnet Laut Schätzungen des IWF (siehe Fiscal Monitor vom April 2021) addieren sich die während der Pandemie (d.h. seit Januar 2020) weltweit ergriffenen finanzpo litischen Unterstützungsmaßnahmen bisher auf insgesamt knapp USD 16 Billio nen, was stolzen 19% des weltweiten BIP im Jahr 2020 entspricht. Diese Summe setzt sich sowohl aus Mindereinnahmen/Mehrausgaben im Volumen von etwa USD 9,9 Billionen (11,7% des BIP) als auch aus Liquiditätshilfen (z.B. für öffentliche Kapitalspritzen, Darlehen, Anleihekäufe, Schuldenübernahmen und/oder staatliche Garantien) in Höhe von USD 6,1 Billionen (7,2% des BIP) zusammen (siehe Grafik 8). Bei den Mehrausgaben/Mindereinnahmen geht von der Gruppe der G20-Indus trieländer (G20 AE; Advanced Economies) der bei Weitem größte Impuls aus (USD 8,5 Bill. oder 14,6% des BIP). Die USA führen die Liste deutlich an (USD 5,3 Bill. oder 25,5% des BIP), gefolgt von Großbritannien (16,2% des BIP), Australien (16,1% des BIP) und Japan (15,9% des BIP) (siehe Grafik 8). Ange sichts der neuen Vorschläge der US-Regierung für ein großes Infrastrukturpro gramm (ungefähr USD 2 Bill.) und einen Plan für amerikanische Familien (etwa USD 1,8 Bill.) könnte sich die Summe der US-Konjunkturmaßnahmen noch wei ter erhöhen und möglicherweise auf über USD 9 Bill. oder mehr als 40% des BIP aus dem Jahr 2020 ansteigen. -4 -2 0 2 4 6 8 80 85 90 95 00 05 10 15 20 25 Reales BIP, % gg. Vj. Langfristiger Durchschnitt Die durch Corona ausgelöste Rezession stellt die Rezession von 2009 in den Schatten 4 Welt - BIP (real), % gg. Vj. Quellen: IWF WEO, Deutsche Bank Research 20 40 60 80 100 120 140 00 05 10 15 20 25 Welt Entwickelte Länder Schwellen- und Entwicklungsländer (Brutto - ) Staatsverschuldung, % BIP Die Staatsverschuldung steigt stetig an: Geht es immer nur aufwärts? 5 Quellen: IWF WEO, IWF Fiscal Monitor (April 2021) -12 -10 -8 -6 -4 -2 0 2 90 95 00 05 10 15 20 25 Welt Entwickelte Länder Schwellen- und Entwicklungsländer Quellen: IWF WEO, IWF Fiscal Monitor (April 2021) Die öffentlichen Haushaltsdefizite sind mit jeder Krise größer geworden 6 Öffentlicher Finanzierungssaldo, % BIP Die Rückkehr massiver Staatsausgaben: Wird dieses Mal wirklich alles anders? 5 | 4. August 2021 Deutschland-Monitor Auch in den Schwellenländern - gemessen an der Gruppe der G20 -Schwellen länder (G20 EM; Emerging Markets) fiel die jeweilige haushaltspolitische Reak tion (ohne Liquiditätshilfen) immer noch stark aus, wenngleich das Volumen mit rund USD 1,1 Bill. oder 4,4% des BIP deutlich unter dem der Industrieländer ge blieben ist. Innerhalb dieser Gruppe ergriffen laut IWF-Daten Brasilien (8,8% des BIP), Südafrika (5,9% des BIP) und China (4,8% des BIP) die umfangreichsten finanzpolitischen Maßnahmen. Vor dem Hintergrund dieser finanzpolitischen Reaktion schwoll das weltweit zu sammengefasste öffentliche Haushaltsdefizit kräftig von rund 3,5% des BIP im Jahr 2019 auf 10,8% des globalen BIP im Jahr 2020 an. Damit fiel das weltweite Haushaltsdefizit noch deutlich größer aus als während der globalen Finanzkrise im Jahr 2009 (Grafik 6). In der Folge schossen die globalen Staatsschulden re gelrecht in die Höhe und erreichten einen neuen Höchststand von fast 100% des weltweiten BIP. Damit liegen die globalen Staatsschulden nunmehr deutlich über dem in der Vor-Pandemie-Zeit markierten Niveau von etwa 85% des BIP und ungefähr 33 Prozentpunkte über der Verschuldungsquote, die sich im Durchschnitt über den Zeitraum von 2000 bis 2007 ergab. Für den weiteren Ver lauf prognostiziert der IWF, dass die globale Staatsschuldenquote bis zum Jahr 2026 weitgehend unverändert bleiben wird (siehe Grafik 5). Besorgniserregend bleibt der Befund, dass sich sowohl die Haushaltsdefizite als auch die Staats schulden (im Länderdurchschnitt) mit jeder neuen Krise immer weiter erhöht ha ben (siehe Grafiken 5 und 6). Und das, obwohl die Marktzinsen und die staatli chen Zinsausgaben im letzten Jahrzehnt drastisch gesunken sind. Vor allem in den Industrieländern war ein besonders ausgeprägtes Zusammenspiel zwi schen chronischen Haushaltsdefiziten und wachsenden Staatsschulden zu be obachten. Ausgehend von dem relativ hohen Defizitniveau in der Vor-Pande mie-Zeit ging das durchschnittliche (BIP-gewichtete) Haushaltsdefizit der Indus triestaaten im Jahr 2020 mit 12% vom BIP regelrecht durch die Decke. Staatsschulden erreichen in vielen Ländern Nachkriegszeit-Höchststände Vor diesem Hintergrund stieg die Staatsschuldenquote der Industrieländer im Jahr 2020 auf 122,7% des BIP. Verglichen mit dem über den Zeitraum 2000-07 beobachteten Durchschnittswert von ungefähr 70% des BIP kommt dies einem sprunghaften Anstieg von mehr als 50 Prozentpunkten gleich. 0 25 50 75 100 125 150 G20 AE G20 EM Staatsverschuldung, % BIP Quellen: IWF Historical Public Debt Database, IWF WEO G20: Staatsschuldenquote in den Industrie- und Schwellenländern (1800-2026) 7 Graue Schattierungen: Kriege und ausgewählte ökonomische Krisen. AE: Entwickelte Volkswirtschaften (Industrieländer) EM: Schwellenländer 0 10 20 30 40 50 Eventualverbindlichkeiten Kapitalmaßnahmen, Darlehen, Vermögenskäufe oder Schuldenübernahmen Mindereinnahmen/Mehrausgaben % BIP (2020) Finanzpolitische Reaktionen auf die Corona - Pandemie* 8 * Finanzpolitische Unterstützungsmaßnahmen seit Januar 2020 Quellen: IWF Fiscal Monitor (April 2021), IWF WEO, Deutsche Bank Research 0,0 0,5 1,0 1,5 2,0 2,5 3,0 3,5 4,0 0 25 50 75 100 125 150 Staatsverschuldung (links) Zinsausgaben (rechts) % BIP Quellen: IWF Public Finance in Modern History Database, IWF WEO USA: Die Schuldenquote dürfte 2021 ein neues Allzeithoch erreichen 9 Graue Schattierungen: Kriege und ausgewählte ökonomische Krisen. Die Rückkehr massiver Staatsausgaben: Wird dieses Mal wirklich alles anders? 6 | 4. August 2021 Deutschland-Monitor Ein Blick in die historischen Datenbanken des IWF zu den öffentlichen Finanzen (Public Finance in Modern History Database) und zur Staatsverschuldung (Historical Public Debt Database) (angereichert mit Zeitreihen aus dem World Economic Outlook) zeigt, dass die länderdurchschnittliche Staatsverschuldungs quote in den Industrieländern einen neuen Nachkriegszeit-Höchststand erreicht hat (z.B. gemessen anhand des G-20-Industrieländeraggregats; siehe Grafik 7). In der Tat hat die heutige Verschuldungsquote der G20-Industrieländer mit über 130% vom BIP (2020-Schätzwert) sogar das nach Ende des Zweiten Weltkriegs erreichte Niveau deutlich übertroffen (zum Vergleich 1945: 116% des BIP) (siehe Grafik 7). In der Gruppe der G7-Länder, auf die immer noch etwa 45% des weltweiten BIP und fast zwei Drittel der ausstehenden globalen Staatsschulden entfallen, hat die Bruttostaatsverschuldung von Japan (nach wie vor die drittgrößte Volkswirt schaft der Welt) ein historisches Hoch von mehr als 250% des BIP erreicht (siehe Grafik 11). Die Staatsverschuldungsquoten in den USA (größte Volkswirt schaft der Welt) (siehe Grafik 9) und Italien (drittgrößte Volkswirtschaft des Eu roraums) (siehe Grafik 11) liegen entweder bereits ganz in der Nähe ihrer All zeithochs oder dürften diese schon sehr bald übertreffen. Und selbst in Deutschland - dem Stereotypen eines wirtschaftlich orthodoxen und haushalts politisch vorsichtigen Landes - hat sich die Staatsverschuldungsquote wieder dem bisherigen Allzeithoch von etwa 82% des BIP angenähert, das nach der globalen Finanzkrise im Jahr 2010 erreicht wurde (siehe Grafik 10). 0,0 0,5 1,0 1,5 2,0 2,5 3,0 3,5 4,0 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 Staatsverschuldung (links) Zinsausgaben (rechts) % BIP Quellen: IWF Public Finance in Modern History Database, IWF WEO DE: Schuldenquote noch unter dem Höchststand von 2012, Zinsausgaben nahe historischer Tiefstwerte 10 Graue Schattierungen: Kriege und ausgewählte ökonomische Krisen. 0 50 100 150 200 250 300 1800 1820 1840 1860 1880 1900 1920 1940 1960 1980 2000 2020 FR DE IT CA JP GB US G7: Staatsverschuldung (1800 - 2026) 11 % BIP Quellen: IWF Historical Public Debt Database, IWF WEO 0 2 4 6 8 10 12 14 1880 1890 1900 1910 1920 1930 1940 1950 1960 1970 1980 1990 2000 2010 2020 US JP DE FR IT GB CA G7: Staatliche Zinsausgaben (1880 - 2026) 12 % BIP Quellen: IWF Public Finance in Modern History Database, IWF WEO Die Rückkehr massiver Staatsausgaben: Wird dieses Mal wirklich alles anders? 7 | 4. August 2021 Deutschland-Monitor Es gibt viele Gründe für den deutlichen Schuldenanstieg seit den 1970er Jahren Der stetige Anstieg der Staatsverschuldung über die letzten knapp 50 Jahre hat verschiedene Gründe, die sich je nach Land stark unterscheiden können. Grundsätzlich ist der Schuldenaufbau das Ergebnis: (a) eines asymmetrischen Einsatzes der Fiskalpolitik zur Konjunkturglättung („Globalsteuerung" in Anlehnung an den Keynesianismus) (siehe Grafik 16), (b) der globalen Wachstumsverlangsamung - ausgelöst durch die fallende Wachstumsrate der Totalen Faktorproduktivität (TFP) („Innovationsstagna tion") und/oder einer strukturellen Nachfrageschwäche („säkulare Stagna tion") (siehe Grafiken 13 und 14), (c) steigender Sozialausgaben in den alternden Gesellschaften (zum Beispiel für Renten, Gesundheit und Pflege) (siehe Grafiken 15 und 18) und/oder (d) der fiskalischen Kosten infolge außergewöhnlicher, globaler und/oder län derspezifischer Ereignisse und Krisen (wie z.B. die deutsche Wiedervereini gung 1990, das Platzen der Dotcom-Blase Anfang der 2000er Jahre, die globale Finanzkrise 2008/2009 oder die Corona-Pandemie). In den OECD-Ländern haben sich sowohl die Brutto- als auch die Nettostaats schuldenquoten (im Länderdurchschnitt; relativ zum BIP) seit den 1970er Jah ren kontinuierlich nach oben bewegt. Nachdem die Bruttostaatsverschuldung in den 1970ern im Durchschnitt bei nur 40% des BIP lag, erhöhte sie sich in den 1980ern und 1990ern auf durchschnittlich mehr als 50% bzw. knapp 70% des BIP. Zwischen dem Ende der 2000er und den frühen 2010er Jahren kletterte sie infolge der fiskalischen Auswirkungen der globalen Finanzkrise um mehr als 30 Prozentpunkte des BIP nach oben, ehe sie im Zuge der Corona-Pandemie um weitere 17 Prozentpunkte nach oben katapultiert wurde (siehe Grafik 17). Tatsächlich waren die OECD-Staaten (im Länderdurchschnitt) nicht in der Lage oder willens, in wirtschaftlichen Boom-Phasen (gekennzeichnet durch eine posi tive Produktionslücke) Haushaltsüberschüsse zu erzielen oder zumindest aus geglichene Staatshaushalte vorzulegen. Dieser asymmetrische Einsatz der Fis kalpolitik (größere strukturelle Defizite während Rezessionen; verringerte, aber fortbestehende strukturelle Defizite im Wirtschaftsaufschwung) hat dazu geführt, dass sich die Bruttostaatsschuldenquote in den letzten rund 40 Jahren mehr als verdreifacht hat (Grafik 17). Glücklicherweise - zumindest aus Sicht der hoch verschuldeten Staaten - sind die Zinsausgaben (relativ zum BIP sowie den Ein nahmen/Ausgaben) in den letzten Jahrzehnten deutlich gesunken, sodass die (jährlichen) schuldenbedingten Zinslasten bislang noch für die meisten Länder tragbar geblieben sind (siehe Grafiken 11, 12, 19 und 20). -2 -1 0 1 2 3 4 5 65 70 75 80 85 90 95 00 05 10 15 20 US JP DE FR IT GB Totale Faktorproduktivität (TFP), % gg. Vj. (gleitender 5-Jahresdurchschnitt) Quellen: AMECO, Deutsche Bank Research Vor dem Hintergrund des nach lassenden Produktivitätswachstums ... 13 -3 -2 -1 0 1 2 3 4 5 85 90 95 00 05 10 15 20 DE FR IT GB US JP Reales Pro - Kopf - Einkommen, % gg. Vj. (gleitender 5 - Jahresdurchschnitt) Quellen: IWF WEO, Deutsche Bank Research ... hat sich das Wirtschaftswachstum strukturell abgeschwächt 14 8 12 16 20 24 28 32 80 85 90 95 00 05 10 15 20 US JP DE IT GB OECD Staatliche Sozialausgaben, % BIP Die staatlichen Sozialausgaben ... 15 Quellen: OECD, Deutsche Bank Research -15 -10 -5 0 -8 -6 -4 -2 0 2 4 90 95 00 05 10 15 20 Produktionslücke (% Produktionspotenzial) (links) Staatlicher Finanzierungssaldo (% BIP) (rechts) Struktureller Finanzierungssaldo (% Produktionspotenzial) (rechts) Konjunkturbereinigter Finanzierungssaldo (% Produktionspotenzial) (rechts) Quellen: OECD, Deutsche Bank Research OECD - Ländergruppe: Ausrichtung der Finanzpolitik im Konjunkturverlauf 16 Die OECD - Zeitreihen zu den öffentlichen Finanzen beginnen erst im Jahr 1991. Die Rückkehr massiver Staatsausgaben: Wird dieses Mal wirklich alles anders? 8 | 4. August 2021 Deutschland-Monitor C. Kosten und Nutzen von Staatsschulden Über den „Gebrauch" und „Missbrauch" staatlicher Defizitfinanzierung Haushaltsdefizite und Staatsschulden sind grundsätzlich per se weder gut noch schlecht. Sie können vielmehr ein nützliches (politisches) Instrument sein, um: (a) die Wirtschaft in Phasen des Abschwungs durch die Wirkung automatischer Stabilisatoren (konjunkturbedingte Haushaltsdefizite) und/oder durch den Ein satz diskretionärer haushaltspolitischer Maßnahmen (strukturelle Defizite) zu stabilisieren, (b) Steuerglättung zu betreiben, um Verzerrungen im Wirtschaftsprozess zu mi nimieren, die bei der Besteuerung entstehen, und (c) Einkommen zwischen den Generationen umzuverteilen („intergenerationale Verteilung"), z.B., um auch künftige Generationen (Nutznießer) an den Finanzie rungskosten großer Infrastrukturprojekte zu beteiligen und/oder die durch außer gewöhnliche Ereignisse ausgelösten Finanzierungslasten auf die Schultern mehrerer Generationen zu verteilen (Beispiel: deutsche Wiedervereinigung). Für eine Vertiefung der Diskussion siehe unter anderem auch den Bericht „Staatsverschuldung wirksam begrenzen" des Sachverständigenrats zur Begut achtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung). In wirtschaftswissenschaftlichen Kreisen - und noch viel mehr in der Politik - ist die Debatte zum Thema Staatsverschuldung sehr häufig von Lagerdenken ge prägt. Zwar dürften wohl die allermeisten Ökonomen die während der Pandemie von den Zentralbanken und Regierungen ergriffenen, außergewöhnlichen Maß nahmen befürworten, da diese maßgeblich dazu beigetragen haben, die Nach frage zu stabilisieren und einen allzu scharfen Rückgang des Produktionspoten zials (negative „Hysterese-Effekte") zu verhindern. Diametrale Ansichten beste hen jedoch darüber, welche Rolle der Staat in einer Volkswirtschaft in „wirt schaftlichen Normalzeiten" einnehmen sollte. Es geht also darum, ob bzw. in welchem Ausmaß und mit welchen Mitteln Zentralbanken und Regierungen über den Einsatz der Geld- und Fiskalpolitik zusätzliches Wachstum und Einkommen fördern sollten bzw. könnten. Während einige Ökonomen einen deutlich aktive ren Staat fordern, der auch nach Überwindung der Pandemie eine stark expan sive Fiskalpolitik betreibt, um Wachstum und Beschäftigung zu fördern, plädie ren andere Ökonomen wiederum dafür, die Staatshaushalte sobald wie möglich zu konsolidieren - also Haushaltsdefizite und Staatsschulden abzubauen. 0 25 50 75 100 125 150 -8 -6 -4 -2 0 2 4 70 75 80 85 90 95 00 05 10 15 20 Produktionslücke (% Produktionspotenzial) (links) Bruttostaatsverschuldung (% BIP) (rechts) Nettostaatsverschuldung (% BIP) (rechts) Quellen: OECD, Deutsche Bank Research Die OECD - Zeitreihe zur Produktionslücke beginnt erst im Jahr 1985. OECD - Ländergruppe: Staatsverschuldungsquoten im Konjunkturverlauf 17 30 35 40 45 50 55 60 65 80 85 90 95 00 05 10 15 20 US JP DE IT GB OECD Staatliche Sozialausgaben, % Staatsausgaben ... sind mit der Zeit kräftig gestiegen 18 Quellen: OECD, Deutsche Bank Research 0 5 10 15 20 25 30 60 65 70 75 80 85 90 95 00 05 10 15 20 US JP CA GB DE FR IT G7: Die staatlichen Zinsausgaben sind stark gesunken - sowohl im Verhältnis zu den Staatseinnahmen ... 19 Staatliche Zinsausgaben, % Staatseinnahmen Quellen: OECD, Deutsche Bank Research 0 5 10 15 20 25 60 65 70 75 80 85 90 95 00 05 10 15 20 US JP CA GB DE FR IT Quellen: OECD, Deutsche Bank Research Staatliche Zinsausgaben, % Staatsausgaben ... als auch relativ zu den gesamten Staatsausgaben 20 Die Rückkehr massiver Staatsausgaben: Wird dieses Mal wirklich alles anders? 9 | 4. August 2021 Deutschland-Monitor Die orthodoxe Sichtweise: Behutsamer Einsatz von Staatsschulden, da diese private Investitionen verdrängen Orthodoxe Ökonomen - inspiriert von der neoklassischen Theorie und dem Or doliberalismus (siehe auch unsere Kurzzusammenfassung der herrschenden wirtschaftswissenschaftlichen Theorien zum Thema Staatsverschuldung im An hang) - argumentieren, dass die derzeitige expansive Nachfragepolitik sobald wie möglich wieder zurückgenommen werden sollte, da sie anderenfalls die wirt schaftliche Stabilität gefährden und langfristige Kosten verursachen könnte (z.B. über eine durch die globale Liquiditätsschwemme angefachte Vermögenspreis- und/oder Verbraucherpreisinflation). Diese neoklassische Sichtweise basiert auf der Ansicht, dass eine Volkswirt schaft bei guten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen stets automatisch zum neuen (Pareto-optimalen) Gleichgewicht gelangt. Aus diesem Grund sollte der Staat - z.B. mittels Deregulierung, Bürokratieabbau, Steuer- und Ausgabensen kungen und der Wahrung finanzpolitischer Solidität - in allererster Linie für gute wirtschaftliche Rahmenbedingungen sorgen, die mit Blick auf die Innovations kraft und Stabilität der Volkswirtschaft und damit ein höheres Wachstumspoten zial von entscheidender Bedeutung sind. Die meisten von der neoklassischen Perspektive geprägten Ökonomen schlie ßen jedoch Haushaltsdefizite und höhere Staatsschulden nicht kategorisch aus, legen aber großen Wert darauf, dass diese mit Bedacht eingesetzt werden, z.B. damit die automatischen Stabilisatoren in Wirtschaftsabschwüngen reibungslos wirken können. Denn schließlich würde der im Abschwung einsetzende - kon junkturbedingte - Anstieg der Staatsschulden bei einem symmetrischen Einsatz der Fiskalpolitik nur von vorübergehender Natur sein, da dieser wieder im nächsten Aufschwung dank konjunkturbedingter Mehreinnahmen/Minderausga ben zurückgeführt werden wird bzw. kann. Dauerhafte (d.h. „strukturell" bedingte) Schulden sollten allerdings, wenn über haupt, streng begrenzt sein - z.B. für die Finanzierung der öffentlichen Nettoan lageinvestitionen (Bruttoanlageinvestitionen abzüglich Abschreibungen). In die sem Fall kann es angemessen sein, künftige Generationen über die Schulden aufnahme an den Finanzierungskosten staatlicher Investitionen zu beteiligen, da auch sie einen späteren Nutzen aus den zusätzlichen Nettoanlageinvestitio nen ziehen dürften. Denn schließlich dürften nicht nur die heutigen, sondern auch künftige Generationen von einer erweiterten und modernisierten Infrastruk tur profitieren, die z.B. mit einem schnelleren Internet, besseren Straßen, Schu len und Krankenhäusern oder einer sauberen Umwelt einhergeht. Ganz grundsätzlich führen aber (höhere) Staatsschulden in der neoklassischen Theorie zu negativen wirtschaftlichen Auswirkungen. Denn eine staatliche Net tokreditaufnahme führt schließlich entweder (a) zu einer Verdrängung inländi scher privater Investitionen (infolge höherer Zinsen) und einem entsprechend geringeren zukünftigen Produktions- und Einkommensniveau (infolge des niedri geren privaten Kapitalstockeinsatzes) und/oder (b) zu steigenden Zinszahlun gen an das Ausland und somit einem niedrigeren künftigen Volkseinkommen (im Falle eines externen, durch ausländische Ersparnisse finanzierten Anstiegs der Staatsverschuldung). Daher sollten die konsumtiven (Sozial-) Ausgaben des Staates wie z.B. für Renten oder die Gesundheitsversorgung grundsätzlich aus den laufenden Staatseinnahmen (d.h. Steuereinnahmen und Sozialversiche rungsbeiträgen) - nicht aber durch das Anzapfen des Kredithahns - finanziert werden. Die wohl meisten orthodoxen Ökonomen dürften mittlerweile befürch ten, dass die im letzten Jahrzehnt aufgebaute strukturelle Staatsverschuldung - die größtenteils auf konsumtive und nicht so sehr auf investive, potenziell wachstumsfördernde Staatsausgaben zurückgeführt werden kann (siehe Grafi ken 15, 18, 24, 25 und 26) - zu einer großen wirtschaftlichen und haushaltspoli tischen Bürde für künftige Generationen werden könnte. -35 -30 -25 -20 -15 -10 -5 0 5 10 60 65 70 75 80 85 90 95 00 05 10 15 20 US JP DE deutsche Wieder vereinigung Dotcom Blase Globale Finanz krise Corona Ölpreis schocks Staatliche Kreditfinanzierungsquoten im historischen Kontext 21 Staatlicher Finanzierungssaldo, % Staatsausgaben Quellen: OECD, Deutsche Bank Research -16 -14 -12 -10 -8 -6 -4 -2 0 2 85 90 95 00 05 10 15 20 US JP DE deutsche Wieder - vereinigung Dotcom - Blase Globale Finanz - krise Corona Struktureller Finanzierungssaldo, % BIP Quellen: OECD, Deutsche Bank Research Einsatz diskretionärer Fiskalpolitik im Kontext voheriger Wirtschaftskrisen 22 0 25 50 75 100 125 150 175 85 90 95 00 05 10 15 20 US JP DE Quellen: OECD, Deutsche Bank Research deutsche Wieder - vereinigung Dotcom Blase Globale Finanz - krise Corona Kumulierte konjunkturbereinigte Finanzierungs - salden des Staates, % BIP Strukturell bedingter Aufbau der Staatsverschuldung 23 Die Rückkehr massiver Staatsausgaben: Wird dieses Mal wirklich alles anders? 10 | 4. August 2021 Deutschland-Monitor Die Sichtweise der Schuldenbefürworter: Höhere Schulden kurbeln das Wirt schaftswachstum an und finanzieren sich daher größtenteils selbst Keynesianer oder progressivere „Verfechter höherer Staatschulden" plädieren dafür, dass auch in Nachkrisenzeiten ein deutlich expansiverer fiskalpolitischer Kurs gefahren werde sollte, um ein höheres BIP-Niveau zu erzielen und für Voll beschäftigung zu sorgen. Grundsätzlich haben die Schuldenbefürworter ein stark ausgeprägtes Vertrauen in die Stärke und Fähigkeit des Staates, wirt schaftliche Prozesse so lenken zu können, um gewisse wirtschaftspolitische Ziele zu erreichen. Deren Meinung nach würde ein Sparkurs im Anschluss an die Krise (also eine Reduzierung der Haushaltsdefizite) nur unnötige volkswirt schaftliche Schäden nach sich ziehen. Denn eine auf Haushaltskonsolidierung bedachte Fiskalpolitik wäre unweigerlich mit hohen wirtschaftlichen und gesell schaftlichen Kosten verbunden. Ein solcher Kurs könnte sich sogar ins Gegen teil verkehren („Sparparadoxon"), sofern die Konsolidierungsschritte das Wirt schaftswachstum derart stark abwürgten, dass eine Haushaltskonsolidierung nicht gelingen kann oder sogar zu einer fiskalischen Verschlechterung führt. Darüber hinaus könnte sich laut den Schuldenbefürwortern ein noch expansive rer - defizitbetriebener - Kurs der Fiskalpolitik größtenteils oder sogar vollstän dig selbst finanzieren, weil dieser zu einem höheren Wirtschaftswachstum und somit einem höheren Produktions- und Einkommensniveau führt. Gleichzeitig dürfte sich die höhere Wirtschaftsleistung positiv für die Staatsfinanzen auszah len, da sie einerseits zu höheren Steuereinnahmen führte und andererseits die Ausgaben für Arbeitslosenhilfe in Schach hielte. Soweit die Theorie. In der Pra xis gibt es jedoch einige Länderbeispiele (wie z.B. Japan oder Italien), in denen sich eine solch gelockerte Haushaltspolitik nicht ausgezahlt hat. In diesen Län dern stand am Ende des Tages - wie in der neoklassischen Theorie dargelegt - nicht ein höheres, sondern niedrigeres Wachstum zu Buche - bei gleichzeitig höheren Staatsschulden -, auch wenn uns zugegebenermaßen die kontrafakti sche Evidenz fehlt bzw. wir nicht die Wachstums- und Haushaltsentwicklung nachzeichnen können, die sich bei einer strengeren Haushaltspolitik ergeben hätte (siehe Grafiken 27 und 28). Aus diesem Grund kann auch gerade nicht verallgemeinert werden, dass eine schuldenfinanzierte Ausgabenpolitik nie Er folg versprechend sein würde. Denn ob eine solche das Wachstumspotenzial tatsächlich stärken kann (oder nicht), hängt in ganz entscheidendem Maße da von ab, ob die Mehrausgaben letztendlich für investive oder konsumptive Zwe cke getätigt werden. In diesem Kontext sei hervorgehoben, dass der massive Schuldenaufbau vielerorts wohl nur in sehr begrenzten Maße für investive Maß nahmen verwendet worden sein dürfte: Denn schließlich sind die staatlichen (Netto-) Investitionsausgaben in den meisten großen Volkswirtschaften in den letzten 40 bis 50 Jahren rückläufig gewesen (siehe Grafik 24, 25 und 26). Fiskalpolitik in der Corona-Krise: Energisches Eingreifen war unvermeidlich, ... In der aktuellen Pandemie hatten die Regierungen zweifelsfrei keine andere Wahl, als sich energisch gegen die Krise zu stellen. Denn ohne das entschie dene, fiskalpolitische Einschreiten wäre es wohl zu einer Depression gekom men, die die Staatsfinanzen noch viel stärker in Mitleidenschaft gezogen hätte. Nichtsdestotrotz rächen sich nunmehr die in vielen großen Volkswirtschaften in der Vor-Pandemie-Zeit ausgebliebenen Strukturreformen. Erschwerend kommt hinzu, dass der Kurs der Finanzpolitik auch grundsätzlich zu locker war - was sich in einer schrittweisen Verschlechterung des strukturellen Primärsaldos ge zeigt hat (siehe Grafik 32). Wie es aussieht, war der strukturell bedingte Schul denanstieg vielerorts nicht so sehr auf Mehrausgaben für Investitionen und/oder Bildung (also das Wachstumspotenzial fördernde „investive" Ausgaben) zurück zuführen, sondern vielmehr die Folge höherer Sozialausgaben (wie z.B. für Renten und/oder die Gesundheitsversorgung) (siehe Grafiken 15 und 18). 1 2 3 4 5 6 7 8 60 65 70 75 80 85 90 95 00 05 10 15 20 US JP CA GB DE FR IT Quellen: OECD, Deutsche Bank Research % BIP G7-Volkswirtschaften: Staatliche Bruttoanlageinvestitionen 24 0 5 10 15 20 25 60 65 70 75 80 85 90 95 00 05 10 15 20 US JP CA GB DE FR IT Quellen: OECD, Deutsche Bank Research % Staatsausgaben G7 - Volkswirtschaften: Staatliche Bruttoanlageinvestitionen 25 -1 0 1 2 3 4 5 60 65 70 75 80 85 90 95 00 05 10 15 20 US JP CA GB DE FR IT % BIP Quellen: OECD, Deutsche Bank Research G7 - Volkswirtschaften: Staatliche Nettoanlageinvestitionen 26 Die Rückkehr massiver Staatsausgaben: Wird dieses Mal wirklich alles anders? 11 | 4. August 2021 Deutschland-Monitor Der aus Wachstumssicht vielerorts ungünstige Ausgabenmix der Staaten dürfte auch eine Erklärung dafür liefern, dass sich das Pro-Kopf-Einkommen in den großen, hoch verschuldeten Ländern (wie z.B. in Japan oder Italien) in der Summe nicht dynamischer entwickelt hat als in den niedriger verschuldeten Ländern (wie z.B. in Deutschland oder Großbritannien). Fakt ist vielmehr, dass in den letzten dreißig Jahren die durchschnittliche (reale) Wachstumsrate des Pro-Kopf-Einkommens in Japan und Italien deutlich niedriger ausgefallen ist als in Deutschland oder Großbritannien - was der These der Schuldenbefürworter entgegensteht, dass eine schuldenfinanzierte Ausgabenpolitik wachstumsstär kend und größtenteils selbstfinanzierend sei (siehe Grafiken 27 und 28). Sicherlich ist die Wachstumsschwäche in diesen beiden Ländern nicht allein auf eine hohe Staatsverschuldung - und die davon potenziell ausgehenden negati ven Effekte - zurückzuführen. Dennoch zeigt das Länderbeispiel Japan, dass die ultra-expansive Fiskalpolitik („Abenomics") zu keinem dauerhaft bzw. struk turell höheren Wachstumspfad geführt hat, obwohl die in dem Niedrigzinsumfeld betriebene Schuldenpolitik wohl kaum zu größeren „klassischen" Verdrängungs effekten bei der privaten Investitionstätigkeit geführt haben dürfte. Insgesamt lässt sich konstatieren, dass die Sanierung der Staatsfinanzen aufgrund der tief greifenden Corona-Krise und der schwachen mittel- bis langfristigen Wachs tumsaussichten erhebliche Kraftanstrengungen erfordert. In den fiskalisch schwachen Staaten, die bereits vor der Corona-Pandemie chronische Haus haltsdefizite und eine hohe Staatsverschuldung ausgewiesen haben, kommt diese gar einer Herkulesaufgabe gleich. ... aber die wirtschafts- und finanzpolitischen „Altlasten" rächen sich jetzt Aber selbst einige Volkswirtschaften, deren Staatsfinanzen gemeinhin als solide und tragfähig gelten und denen große, zusätzliche „finanzpolitische Spielräume" bescheinigt werden (z.B. weil diese Länder in der Vor-Pandemie-Zeit nur ge ringe Haushaltsdefizite oder sogar Überschüsse erzielten), stehen vor enormen fiskalischen Herausforderungen, da die rapide Bevölkerungsalterung die Schul dentragfähigkeit mittel- bis langfristig gefährdet. Da viele Staaten selbst in den „goldenen" Jahren vor der Pandemie - mit stabilem Wachstum, boomenden Ar beitsmärkten und stetig sinkenden Zinsausgaben - nicht in der Lage waren, ausgeglichene Staatshaushalte vorzulegen (siehe Grafik 33), könnte es über kurz oder lang zu einem Glaubwürdigkeitsproblem in der Fiskalpolitik kommen. Denn nach Daten des IWF haben die Industrieländer im Länderdurchschnitt kein einziges Mal einen ausgeglichenen Staatshaushalt in den letzten knapp 30 Jahren vorgelegt (siehe Grafik 6). Rekordhohe Staatsverschuldung nur noch dank anhaltender Niedrigzinsen und ultra-expansiver Geldpolitik zu stemmen Die heutige rekordhohe Staatsverschuldung ist bislang wohl nur noch dank des strukturell bedingten Niedrigzinsniveaus (siehe Grafik 29) und einer „unheilvol len" Allianz zwischen Geld- und Fiskalpolitik (innerhalb welcher die Zentralban ken zwar nicht de jure, aber de facto immer große Teile der Staatsschulden mo netarisiert haben) tragbar geblieben (siehe Grafiken 30-31 und Grafiken 146 49). Die großen Zentralbanken (wie die Fed, die BoJ, die EZB oder die BoE) - die schon seit sehr langer Zeit einen ultraexpansiven Kurs fahren und dabei auch zwangläufig erhebliche mittel- bis langfristige Risiken für die Preisstabilität eingegangen sind - stoßen nunmehr zunehmend an ihre geldpolitischen Gren zen. Viele Staaten dürften sich mittlerweile nur noch dank einer aggressiven Geldpolitik in der Lage sehen, ihre großen Haushaltsdefizite und fällig werden den Schulden zu historisch niedrigen bzw. mancherorts sogar negativen Zinsen zu finanzieren (siehe Grafiken 1 und 29). 100 120 140 160 180 200 220 80 85 90 95 00 05 10 15 20 DE IT GB JP Reales Pro-Kopf-Einkommen, Index: 1980=100 Quellen: IWF WEO, Deutsche Bank Research Entwicklung des Pro-Kopf Einkommens ... 27 0 50 100 150 200 250 60 65 70 75 80 85 90 95 00 05 10 15 20 JP GB DE IT * Bruttofinanzschulden Quellen: OECD, Deutsche Bank Research Bruttostaatsverschuldung* (Gesamtstaat), % BIP ... und der Staatsverschuldungsquote in ausgewählten Volkswirtschaften 28 -1 0 1 2 3 4 5 6 7 99 01 03 05 07 09 11 13 15 17 19 21 G4* US EA-4* JP GB Renditen auf Staatsanleihen mit 10 - jähriger Restlaufzeit (Monatsendwerte), % Quellen: Haver Analytics, IWF WEO, Deutsche Bank Research *G4: BIP - gewichteter Wert für die USA, Japan, die vier großen Euroländer (EA4) und das Vereinigte Königreich. EA4: DE, FR, IT und ES. Finanzierungsbedingungen in den großen Volkswirtschaften 29 Die Rückkehr massiver Staatsausgaben: Wird dieses Mal wirklich alles anders? 12 | 4. August 2021 Deutschland-Monitor Auch wenn dieser Kurs der Geldpolitik die Wirtschaft und die öffentlichen Finan zen kurzfristig stabilisieren mögen, bergen sie erhebliche mittel- bis langfristige Risiken. Denn eine solche Geldpolitik reduziert auch unweigerlich die Anreize der Regierungen, in der mittleren Frist wieder auf einen fiskalischen Konsolidie rungskurs einzuschwenken. Das liegt daran, dass der staatliche Zinsdienst für die hochverschuldeten Staaten (u.a. Japan oder Italien) immer noch tragbar ge blieben ist und in anderen Ländern mit einer sehr hoch eingeschätzten Kredit würdigkeit (wie z.B. Deutschland) sogar massiv gesunken ist (siehe Grafik 12). De facto haben öffentliche Haushalte seit dem Jahr 2007 massiv von den fallen den Zinsen profitiert. Um die „Zinsersparnis" betragsmäßig einordnen zu kön nen, haben wir die hypothetischen Zinsausgaben berechnet, die angefallen wä ren, wenn die impliziten (also durchschnittlichen) Zinssätze auf die ausstehen den Staatsschulden zwischen 2008 und 2020 auf ihren Niveaus des Jahres 2007 verblieben wären. Die Differenz zwischen den (höheren) hypothetischen und den (niedrigeren) tatsächlichen Zinsausgaben ergibt näherungsweise die Zinsentlastung, die über die Zeit durch den Zinsrückgang aufgelaufen ist. Die oben genannte Schätzung zur haushaltsentlastenden Zinsersparnis haben wir mittels Eurostat/AMECO-Daten zu den öffentlichen Finanzen bzw. zur Staatsverschuldung durchgeführt. Unseren Berechnungen nach beläuft sich die zwischen 2008 und 2020 aufgelaufene (kumulierte) staatliche Zinsersparnis auf ungefähr 35% des BIP für die USA, etwa 25% des BIP für Frankreich, Großbri tannien sowie Italien und etwas weniger als 20% des BIP für die Niederlande und Deutschland (siehe Grafik 34 und 37). Die obige Überschlagsrechnung lässt erahnen, dass die auf die Staatsschulden fälligen Zinsausgaben - und da mit auch die staatlichen Finanzierungsdefizite - heute deutlich höher sein wür den, wenn die Zinsen nicht derart kräftig gesunken wären bzw. stattdessen auf ihren deutlich höheren Niveaus aus dem Jahr 2007 verharrt wären. Im Falle Deutschlands wären die laufenden Zinszahlungen bei höheren Zinsen (auf dem Niveau des Jahres 2007) im Haushaltsjahr 2020 ca. 2,6 Prozentpunkte höher ausgefallen: Statt nur 0,7% vom BIP hätten sie deutlich höhere 3,2% des BIP betragen (siehe Grafik 35 und 40). In der Folge wäre auch das gesamtstaatliche Haushaltsdefizit Deutschlands im Jahr 2020 mit geschätzt 6,8% des BIP deut lich größer ausgefallen als das tatsächlich vermeldete von „nur" 4,2% des BIP) (siehe Grafik 36 und 38). Auch wenn die obige Schätzung nur auf einer einfa chen Überschlagsrechnung mit der grob vereinfachten Annahme eines konstan ten Zinssatzes basiert, wird unmittelbar klar, dass die Schuldenquoten in den meisten Ländern heutzutage auf noch deutlich höheren Niveaus lägen, wenn es nicht zu einem Zinsrückgang gekommen wäre (siehe Grafik 37 und 39). 0 20 40 60 80 100 120 08 10 12 14 16 18 20 US JP EA GB In der Bilanz der Notenbanken gehaltene Staatsschulden, % BIP Quellen: Zentralbanken, IWF WEO, AMECO, WEFA, Haver Analytics, Deutsche Bank Research Die Notenbanken halten mittlerweile viele Staatsschulden in ihren Bilanzen 30 Fed: Im Bestand befindliche US Treasuries und Agency Debt Securities. BoJ: Gehaltene staatliche Schuldverschreibungen. EZB: In der Bilanz befindliche Staatsschulden (Gesamtstaat) sowie die im Rahmen der PSPP - und PEPP - Ankaufprogramme erworbenen öffentlichen Schuldtitel. PSPP: Public Sector Purchase Programme. PEPP: Pandemic Emergency Purchase Programme. BoE: Im Rahmen des Ankaufprogramms (APF) gehaltene britische Staatsanleihen (Gilts). 0 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 08 10 12 14 16 18 20 US JP EA GB In der Bilanz der Notenbanken gehaltene Staats - schulden, % der ausstehenden Staatsschulden Quellen: Zentralbanken, IWF WEO, AMECO, US Treasury, Haver Analytics, WEFA, Deutsche Bank Research USA: In Prozent der von der Öffentlichkeit gehaltenen Bundesschulden (Federal Debt Held by the Public). Japan: In Prozent der Schulden der Zentralregierung (Federal Government Debt). EWU und GB: In Prozent der gesamtstaatlichen Schulden (Maastricht - Definition). Zentralbanken nehmen inzwischen eine dominierende Rolle in den Staatsanleihemärkten ein 31 -10 -8 -6 -4 -2 0 2 95 00 05 10 15 20 25 Struktureller Finanzierungssaldo Struktureller Primärsaldo % Produktionspotenzial Quellen: IWF WEO, Deutsche Bank Research BIP - gewichtete Durchschnittswerte für die G7. Die strukturelle Lage der Staats - finanzen hat sich in den G7 - Staaten deutlich verschlechtert 32 -6 -4 -2 0 2 KR DE CH SE CA NL IT IE AU PT FR G20 AE G7 GB JP US ES Quelle: IWF Fiscal Monitor (April 2021) Staatlicher Finanzierungssaldo, % BIP (2012 - 19) Öffentliche Finanzlage in der Zeit vor der Corona - Pandemie 33 Die Rückkehr massiver Staatsausgaben: Wird dieses Mal wirklich alles anders? 13 | 4. August 2021 Deutschland-Monitor Die Staatsanleihekäufe durch die Zentralbanken mögen zwar heute stabilisie rend auf die Wirtschaft einwirken, ... Offenkundig haben die meisten Staaten es versäumt, die sich durch die Niedrig zinsphase ergebenden Chancen zur Haushaltskonsolidierung zu nutzen. Dies deutet darauf hin, dass das sinkende Zinsniveau und die trotz steigender Schul den gesunkenen Zinsausgaben die Anreize der Regierungen geschwächt ha ben dürften, die Staatsfinanzen nachhaltiger aufzustellen. In der Tat geht von der Geldpolitik der quantitativen Lockerung sowie von den umfangreichen Staatsanleiheankaufprogrammen der Notenbanken die Gefahr eines morali schen Fehlverhaltens seitens der Staaten aus. Ein solches „Moral hazard"-Ri siko entsteht dadurch, dass die Regierungen schließlich darauf vertrauen könn ten, dass die Notenbanken auch in Zukunft für günstige Finanzierungsbedingun gen sorgen und im schlimmsten Fall als Kreditgeber der letzten Instanz einsprin gen würden, um die Stabilität der öffentlichen Finanzen zu garantieren. Zum Jahresende 2020 hatte die BoJ bereits Schuldverschreibungen des japanischen Staates im Wert von fast 100% des japanischen BIP in ihre Bilanz genommen, während die BoE, die EZB und die Fed Staatsanleihen im Gegenwert von je weils rund 34%, 27% und 21% des BIP aufgekauft haben (siehe Grafik 30). Diese Geldpolitik hat zur Folge gehabt, dass die großen Zentralbanken mittler weile zwischen 20% und bis zu knapp 45% der in ihren Ländern bzw. Volkswirt schaften ausstehenden Staatsschulden in ihren Bilanzen halten (siehe Grafik 31). Über die Zeit sind die Notenbanken zu den dominierenden Akteuren in den Staatsanleihenmärkten geworden. ... gehen jedoch mit erheblichen mittel- bis langfristigen Risiken einher wie z.B. der Gefahr einer „fiskalischen" Dominanz in der Geldpolitik Je länger dieses „geld- und finanzpolitische Bündnis" anhält, desto wahrscheinli cher wird es, dass fiskalische Aspekte zukünftig die Ausrichtung der Geldpolitik beherrschen werden („fiskalische Dominanz"). Sollten die Inflationsraten, welche die großen Zentralbanken noch immer für strukturell zu niedrig halten, dauerhaft ansteigen, hätten die Zentralbanken einen schwierigen Balanceakt zu meistern. Sie wären dann nämlich aufgefordert, sowohl die höhere Inflation als auch die gestiegenen Inflationserwartungen einzuhegen. Andererseits müssten sie aber auch weiterhin für eine ausreichende geldpolitische Unterstützung für die hoch verschuldeten Staaten sorgen, um einen Anstieg der Risikoaufschläge auf Staatsanleihen (bzw. der eingepreisten Zahlungsausfallrisiken) und somit eine größere Haushalts- und Wirtschaftskrise abzuwenden. 0 5 10 15 20 25 30 35 US FR GB IT BE AT EA19 NL DE ES PT FI IE JP Quellen: Eurostat, AMECO, Deutsche Bank Research Kumulierte Zinsersparnis*, % BIP (2020) * Kumulierte Differenz zwischen den hypothetischen und tatsächlichen Zinsausgaben des Gesamtstaates über den Zeitraum 2008 - 20. Die Staaten haben massiv von dem ... 34 0 2 4 6 8 10 US IT GB BE PT FR ES EA19 AT DE NL IE FI JP Zinsersparnis** Zinsausgaben (tatsächlich) Zinsausgaben (hypothetisch) Quellen: Eurostat, AMECO, Deutsche Bank Research Zinsersparnis im Haushaltsjahr 2020, % BIP ** Differenz zwischen den hypothetischen und tatsächlichen Zinsausgaben des Gesamtstaates auf die ausstehenden Staatsschulden. ... Rückgang der Zinsen profitiert 35 -25 -20 -15 -10 -5 0 US GB IT FR BE AT EA19 PT ES JP DE NL FI IE Zinsersparnis* Haushaltssaldo (tatsächlich) Haushaltssaldo (hypothetisch) Quellen: Eurostat, AMECO, Deutsche Bank Research Staatlicher Finanzierungssaldo (2020), % BIP * Differenz zwischen den hypothetischen und tatsächlichen Zinsausgaben im Haushaltsjahr 2020. Das Niedrigzinsumfeld hat zu einer deutlichen Entlastung der öffentlichen Haushalte geführt 36 0 25 50 75 100 125 150 175 200 IT US PT FR BE ES GB EA19 AT DE FI NL IE Schuldendämpfender Effekt* Schuldenstand (tatsächlich) Schuldenstand (hypothetisch) Staatsverschuldung (2020), % BIP Quellen: Eurostat, AMECO, Deutsche Bank Research * aufgrund der gesunkenen Zinsen. Dieser Wert entspricht der kumulierten Zinsersparnis in der Periode 2008 bis 2020. Die Niedrigzinsen haben sich dämpfend auf die Staatsverschuldung ausgewirkt 37 -8 -6 -4 -2 0 2 4 96 98 00 02 04 06 08 10 12 14 16 18 20 Haushaltssaldo (tatsächlich) Haushaltssaldo (hypothetisch) Haushaltssaldo (Mittelwert: 1996-2020) Gesamtstaatlicher Haushaltssaldo, % BIP Quellen: Eurostat, AMECO, Deutsche Bank Research DE: Der deutsche Staatshaushalt profitiert schon seit sehr vielen Jahren vom Niedrigzinsniveau 38 Die Rückkehr massiver Staatsausgaben: Wird dieses Mal wirklich alles anders? 14 | 4. August 2021 Deutschland-Monitor Eine weitere negative Nebenwirkung des kontinuierlichen Anstiegs der Staats verschuldung und des Einsatzes von Finanzrepressionen zu dessen Finanzie rung (wie z.B. Anreize für das Bankensystem, Staatsanleihen in den Bilanzen zu halten) ist die potenziell weiter zunehmende Finanzverflechtung zwischen Staats- und Bankensektor („Sovereign banking nexus"). Die aus Risikogesichts punkten gebotene Auflösung dieser für die Makrostabilität riskanten Verbindung ist durch den weiteren Schuldenanstieg in weite Ferne gerückt. Die davon aus gehenden Gefahren liegen auf der Hand: Sollten die Staaten in Zukunft größere fiskalische Probleme haben (z.B. weil sich das Investorenvertrauen unerwartet eintrübt und die Risikoaufschläge auf Staatsanleihen abrupt nach oben schie ßen), würden auch die Halter der Staatsanleihen - also zum Großteil die Ban ken - in finanzielle Schieflage geraten. Schlimmstenfalls könnte dies zu einer doppelten Wirtschaftskrise - d.h. einer Staatsschulden- und Bankenkrise - füh ren. In einer DB Research Studie haben wir darauf hingewiesen, dass es zur Lösung des „Sovereign banking nexus" - auch angesichts des aktuellen rapiden Schuldenaufbaus - einen dringenden Reformbedarf gibt (siehe „Staatsfinanzie rung durch heimische Banken - was tun?"). Die Problematik wird umso deutli cher, wenn man sich vor Augen führt, dass die Banken im Euroraum gegenüber den Staaten mittlerweile eine Gesamtforderung von rund EUR 2,9 Bill. (9% der Bilanzsumme) aufgebaut haben. D. Das Konzept der Schuldentragfähigkeit Theoretische Aspekte zur Tragfähigkeit der Staatsverschuldung Die intertemporale Budgetbeschränkung In einer konventionellen volkswirtschaftlichen Betrachtungsweise muss der Staat (die Regierung bzw. das Finanzministerium und die Zentralbank) die so genannte intertemporale Budgetbeschränkung erfüllen. Diese Budgetschranke impliziert, dass der Staat dauerhaft nicht mehr ausgeben kann, als er in Form von Steuern oder sonstigen Einnahmen einnimmt. Diese Budgetschranke schließt jedoch nicht aus, dass der Staat temporär große Haushaltsdefizite aus weisen kann (z.B. bei Wirtschaftskrisen), dessen Finanzierung er über die Aus gabe neuer Schuldtitel sicherstellt („vorübergehende" Verschuldung). In der mitt leren bis langen Frist muss er jedoch auf einen Haushaltspfad zurückkehren, der ihn in die finanzielle Lage versetzt, seine ausstehenden Staatsschulden (d.h. Finanzverbindlichkeiten) durch entsprechende Haushaltsüberschüsse zu decken. Die intertemporale Budgetbedingung ist genau dann erfüllt, wenn der Barwert - also der Gegenwartswert - aller gegenwärtigen und zukünftigen Pri märüberschüsse (Haushaltsüberschüsse vor Zahlung der Schuldzinsen) min destens dem aktuellen Schuldenstand entspricht oder diesen sogar übersteigt. Die intertemporale Budgetbeschränkung greift in einer Welt, in welcher der auf die Staatsschulden zu zahlende Zinssatz die jährliche Wachstumsrate der Volkswirtschaft übersteigt, d.h. eine positive Zins-Wachstumsdifferenz vorliegt (auch mit i-g abgekürzt). Sollte der Staat aber die intertemporale Beschränkung ignorieren, indem er ständig neue Defizite und Schulden anhäuft, würde die Staatsschuldenquote (Schulden in Prozent des BIP) - ein wichtiger Indikator zur Beurteilung der Tragfähigkeit der Staatsverschuldung - schließlich auf einen un kontrolliert ansteigenden Pfad geraten. Eine solche, defizitbetriebene Fiskalpoli tik wäre auf Dauer nicht mehr tragbar bzw. fortzuführen, da diese nur dann bei behalten werden könnte, wenn die Gläubiger des Staates dazu bereit wären, die stetig anwachsenden Defizite und in die Höhe schießenden Staatsschulden (als Folge des sogenannten „Schneeballeffekts der Staatsverschuldung") endlos zu finanzieren. 55 60 65 70 75 80 85 90 00 02 04 06 08 10 12 14 16 18 20 Staatsschulden (hypothetisch) Staatsschulden (tatsächlich) DE: Das Niedrigzinsniveau hat die deutsche Schuldenquote stark gedämpft 39 Staatsschulden (Gesamtstaat), % BIP Quellen: Eurostat, AMECO, Deutsche Bank Research 0,0 0,5 1,0 1,5 2,0 2,5 3,0 3,5 00 02 04 06 08 10 12 14 16 18 20 Zinsausgaben (hypothetisch) Staatsschulden (tatsächlich) Zinsausgaben (Gesamtstaat), % BIP Quellen: Eurostat, AMECO, Deutsche Bank Research DE: Die Zinsausgaben des deutschen Gesamtstaates sind dank fallender Zinsen massiv zurückgegangen 40 -2 -1 0 1 2 3 4 99 01 03 05 07 09 11 13 15 17 19 21 G4* US EA JP GB Verbraucherpreise ohne Nahrungsmittel und Energie, % gg. Vj. Quellen: Haver Analytics, WEFA, IWF WEO, OECD, Eurostat, Deutsche Bank Research *G4: BIP - gewichtete Kerninflationsrate für die USA, Japan, die Eurozone und das Vereinigte Königreich. Entwicklung der Kerninflation in den großen Volkswirtschaften 41 Die Rückkehr massiver Staatsausgaben: Wird dieses Mal wirklich alles anders? 15 | 4. August 2021 Deutschland-Monitor Rationale Investoren würden jedoch die Konsequenzen einer solchen Fiskalpoli tik zu Ende denken und die mit der steigenden Staatsverschuldung zunehmen den Zahlungsausfallrisiken in ihr Anlagekalkül miteinbeziehen. Ab einer be stimmten Schuldenhöhe würde schließlich ihre Bereitschaft abnehmen, die im mer wieder fällig werdenden Staatsschulden zu refinanzieren und die fortwäh rend neuen Haushaltsdefizite über den Kauf zusätzlicher Staatsschulden zu fi nanzieren. Schließlich würden sie ab einem gewissen Punkt nur noch dann eine weitere (Anschluss-) Finanzierung gewähren, wenn der Staat das gestiegene Zahlungsausfallrisiko über eine höhere Risikoprämie („Sovereign bond spread") - also einen höheren Schuldzinssatz - kompensieren würde. Eine solch unsolide Finanzpolitik könnte im schlimmsten Fall dazu führen, dass: (a) der Staat seine Schulden nicht mehr bedienen kann und es daher zu einem Zahlungsausfall oder einer Umschuldung der Staatsschulden kommt, (b) der Staat zu Mitteln der finanziellen Repression greift, um seine Finanzie rungsbedingungen und Zinslasten unter Kontrolle zu halten, und/oder (c) der Staat eine höhere (Verbraucherpreis-) Inflation erzwingt oder zumindest diese bewusst in Kauf nimmt, um den realen Wert seiner ausstehenden Schulden zu reduzieren („Weginflationieren der Staatsschulden"). Während der Fall (a) empirisch betrachtet oftmals das Ergebnis einer Fremd währungsfinanzierung ist, treten die Fälle (b) und (c) gewöhnlich dann ein, wenn die Staatsschulden überwiegend in der eigenen Landeswährung begeben wur den und somit die Zentralbank bei Finanzschwierigkeiten als Kreditgeber der letzten Instanz einspringen und die Staatsschulden monetarisieren kann. Zahlungsfähigkeit und Liquidität: Zwei Seiten derselben Medaille Solange die Gläubiger einen Staat als zahlungsfähig erachten (d.h. davon aus gehen, dass dieser in Zukunft ausreichend hohe Primärüberschüsse erzielen wird, um seine Schulden zurückzuzahlen), kann dieser seine Schulden sicher und problemlos bedienen. Dies ergibt sich daraus, dass die Investoren dazu be reit sind, den Bruttofinanzierungsbedarf des Staates - also die Summe aus Haushaltsdefizit und fällig werdenden Staatsschulden - fortwährend über den Ankauf neuer Schulden zu decken. Heutzutage sind viele Industriestaaten auf grund ihres enorm hohen Bruttofinanzierungsbedarfs auf ein hohes Investoren vertrauen in ihre Kreditwürdigkeit angewiesen (siehe Grafik 47). Zwar sind Liquidität und Zahlungsfähigkeit streng genommen zwei unterschiedli che Konzepte, dennoch sie sind eng miteinander verbunden. Wird ein Staat als zahlungsfähig eingeschätzt, ist er i.d.R. auch liquide, da er seine Haushaltsdefi zite bzw. seinen Kreditbedarf jederzeit über die Kreditmärkte decken kann. Fan gen jedoch die Gläubiger an, die Bonität eines Staates zu hinterfragen, verlan gen sie möglicherweise sehr bald einen deutlich höheren Zinssatz (Risikoauf schlag), um einen finanziellen Ausgleich für das gestiegene Ausfallrisiko zu er halten. Wenn der Risikoaufschlag und damit die auf neue Schuldenemissionen zu zahlenden Zinssätze jedoch auf prohibitiv hohe Niveaus steigen (wie z.B. während der griechischen Staatsschuldenkrise im Jahr 2010), wird der davon betroffene Staat urplötzlich zahlungsunfähig. Dies liegt daran, dass die Gläubi ger dem Staat nicht länger die benötigten Kredite gewähren (Liquiditätskrise) und die Schulden- bzw. Zinslasten aufgrund der prohibitiv hohen Zinssätze nicht mehr tragbar sind (Insolvenz). Aus diesem Grund ist es offensichtlich, dass ein hohes und überwiegend kurzfristig finanziertes Verschuldungsniveau (z.B. ab lesbar an einer niedrigen durchschnittlichen Restlaufzeit und einem hohen, jähr lich zu refinanzierenden Anteil an den ausstehenden Staatsschulden) mit deut lich höheren Liquiditätsrisiken verbunden ist als ein niedriges, zu langen Lauf zeiten finanziertes Schuldenniveau (siehe Grafiken 42, 46 und 47). 0 50 100 150 200 250 300 JP IT G7 US PT ES CA FR GB AU DE IE NL KR CH SE 2021 2026 Prognostizierte Entwicklung der Staatsverschuldungsquote (2026 vs. 2021) 42 Bruttostaatsverschuldung, % BIP Quelle: IWF Fiscal Monitor (April 2021) -14 -12 -10 -8 -6 -4 -2 0 2 US AU G7 JP CA ES FR IT GB IE PT DE SE NL CH KR 2021 2026 Struktureller Finanzierungssaldo, % BIP Quelle: IWF Fiscal Monitor (April 2021) Prognostizierte Entwicklung des strukturellen Finanzierungssaldos des Staates (2026 vs. 2021) 43 -4,0 -3,5 -3,0 -2,5 -2,0 -1,5 -1,0 -0,5 0,0 IE DE US FR NL SE ES G7 G20 AE AU GB CA PT KR CH JP IT Prozentpunkte Quelle: IWF Fiscal Monitor (April 2021) Prognostizierte Zins - Wachstums - differenz (2021 - 26) 44 Eine negative Zins - Wachstumsdifferenz impliziert, dass die Bruttostaatsverschuldungsquote (in % BIP) bei einem ausgeglichenen Primärsaldo (Haushaltssaldo vor Zins - ausgaben) fällt. Die Rückkehr massiver Staatsausgaben: Wird dieses Mal wirklich alles anders? 16 | 4. August 2021 Deutschland-Monitor Ein Exkurs zur Schuldendynamik: „Herauswachsen" aus der Verschuldung, „Weginflationieren" der Schulden und Haushaltskonsolidierungen Die Entwicklung der Staatsverschuldungsquote (Staatsschulden im Verhältnis zur nominalen Wirtschaftsleistung) hängt von vielen Faktoren ab. Zum einen kommt dem Ausgangsniveau der Verschuldungsquote, der derzeitigen Haus haltslage und den (voraussichtlich) in Zukunft zu erzielenden Primärüberschüs sen/-defiziten eine entscheidende Rolle zu. Letztere ergeben sich aus der Diffe renz zwischen den Staatseinnahmen und den sogenannten Primärausgaben (definiert als Staatsausgaben ohne Zinsausgaben). Des Weiteren wird sie maß geblich durch die Höhe des implizit (bzw. durchschnittlich) auf die Staatsschul den zu zahlenden (nominalen) Zinssatzes, das Wachstumstempo der Volkswirt schaft (reale BIP-Wachstumsrate) und die zugrunde liegende Preisdynamik (also der anhand des BIP-Deflators gemessenen Inflationsrate) bestimmt. Während ein höheres (reales) BIP-Wachstum und/oder eine höhere Inflation die Verschuldungsquote bei sonst gleichbleibenden Faktoren in der Tendenz absin ken lassen („Herauswachsen aus der Verschuldung" bzw. „Weginflationieren" oder „reale Entwertung" der Schulden), treiben höhere Zinssätze ceteris paribus die Zinsausgaben und somit auch die Verschuldungsquote in die Höhe („Inte rest-debt snowballing effect"). Dieser sogenannte „Zinsschneeballeffekt" ergibt sich dadurch, dass bei Vorliegen eines Primärdefizits auch die zusätzlich zu leistenden Zinsausgaben über die Ausgabe neuer Schulden finanziert werden müssen. Bei einer positiven Zins-Wachstumsdifferenz müsste ein Staat schon einen Pri märüberschuss - also einen Finanzierungsüberschuss vor Bruttozinszahlungen) - erwirtschaften, um einen weiteren Anstieg der Verschuldungsquote zu verhin dern. Im Fall einer ausgeglichenen Zins-Wachstumsdifferenz (also einem i-g von null), würde die Entwicklung der Staatsschuldenquote ausschließlich durch den Zustand des öffentlichen Haushalts bestimmt. Während die Schuldenquote im Falle eines Primärdefizits ansteigen würde, würde diese im Falle eines Pri märüberschusses entsprechend sinken. Im Fall eines exakt ausgeglichenen Pri märsaldos würde die Verschuldungsquote schließlich unverändert bleiben. Aber selbst im Fall eines Primärdefizits könnte die Staatsschuldenquote bei gewissen Voraussetzungen stabil bleiben oder sogar absinken. Dieser Fall würde nämlich dann eintreten, wenn die Zins-Wachstumsdifferenz hinreichend negativ und das Primärdefizit nicht übermäßig groß ist (siehe Grafiken 42, 44 und 45). In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass der IWF für die meisten Industrieländer und den Zeitraum 2021 bis 2026 eine tendenziell schuldenquotendämpfende, nega tive Zins-Wachstumsdifferenz erwartet (siehe Grafik 44 ). Grundsätzlich gilt: Je weiter die Zins-Wachstumsdifferenz einer Volkswirtschaft im negativen Bereich liegt und je höher die anfängliche Schuldenquote (Schul den zu BIP) ist, desto höher kann das Primärdefizit ausfallen, ohne dass die Verschuldungsquote ansteigt (schuldenstabilisierendes Primärdefizit). Insge samt bleibt festzuhalten, dass die zukünftige Entwicklung der Staatsschulden quote eines Landes sowohl von den makroökomischen (wie z.B. dem Wirt schaftswachstum) als auch den vorliegenden fiskalischen Begebenheiten (wie z.B. dem Primärsaldo) abhängt. Dessen ungeachtet kann der Staat natürlich über die finanz- und wachstumspolitische Ausrichtung bzw. Schwerpunktset zung sowohl direkten als auch indirekten Einfluss auf den weiteren Verlauf der Schuldenquote nehmen. So könnte der Staat z.B. unmittelbar auf die Schulden dynamik einwirken, indem er finanzpolitische Maßnahmen zur Verbesserung des strukturellen Finanzierungssaldos beschließt. Ebenso könnte er aber auch versuchen, die Schuldendynamik auf indirektem Wege zu seinen Gunsten zu beeinflussen, z.B. indem er Strukturreformen auf den Weg bringt, die sich nach und nach in Form einer höheren BIP-Wachstumsrate und gesunkener Risi koprämie bzw. Schuldzinsen auszahlen. -8 -6 -4 -2 0 2 US ES GB AU FR IT JP KR CA IE NL PT SE DE Primärsaldo Nettozinsausgaben Finanzierungssaldo Prognostizierte Entwicklung des staatlichen Finanzierungssaldos (Durchschnitt: 2021 - 26) 45 Staatlicher Finanzierungssaldo, % BIP Quellen: IWF Fiscal Monitor (April 2021), IWF WEO, Deutsche Bank Research 0 5 10 15 20 25 0 2 4 6 8 10 12 14 16 GB CH IE JP KR FR NL ES AU G20 AE G7 IT PT DE US CA SE Durchschnittliche Restlaufzeit der Staatsschulden (Jahre) (links) Impliziter Anteil der durchschnittlich pro Jahr fällig werdenden Staatsschulden (%) (rechts) Quellen: IWF Fiscal Monitor (April 2021), Deutsche Bank Research Durchschnittliche Restlaufzeit (2021) und impliziter Anteil der jedes Jahr fällig werdenden Staatsschulden 46 0 10 20 30 40 50 60 70 JP US G7 AE IT ES CA FR GB PT AU FI DE NL SE IE CH KR Fällig werdende Staatsschulden Finanzierungssaldo Bruttofinanzierungsbedarf Prognostizierter staatlicher Brutto - finanzierungsbedarf (2021) 47 % BIP Quellen: IWF Fiscal Monitor (April 2021), IWF WEO, Deutsche Bank Research Die Rückkehr massiver Staatsausgaben: Wird dieses Mal wirklich alles anders? 17 | 4. August 2021 Deutschland-Monitor Denn letztlich stehen alle der oben genannten - in die Schuldengleichung ein fließenden - makroökonomischen/fiskalischen Indikatoren in Wechselwirkungen zueinander. Daher kann auch ein hoch verschuldeter Staat den weiteren Schul denpfad in eine günstigere Richtung lenken, indem er z.B. durch eine strukturell angelegte Haushaltskonsolidierung die Schuldentragfähigkeit stärkt und somit auch das tatsächliche und von den Investoren eingepreiste Zahlungsausfallrisi kos senkt. Die Früchte einer solchen Politik wären fallende Risikoprämien/ Schuldzinsen und damit sinkende Zinsausgaben. Darüber hinaus dürfte das niedrigere Zinsniveau die private Investitionstätigkeit ankurbeln („Crowding-in") und über einen höheren privaten Kapitalstock letztlich auch das Wachstumspo tenzial der Volkswirtschaft stärken. Dies zeigt, dass vertrauensfördernde Konso lidierungsschritte des Staates - die auf eine Verbesserung des strukturellen Pri märsaldos hinwirken - bestenfalls zu einem strukturell höheren Wachstums tempo sowie sinkenden Risikoprämien bzw. Schuldzinsen und Zinsausgaben führen. Der Verlauf der Staatsschuldenquote würde sich in einer solchen Konstellation auf dreifachem Wege verbessern, nämlich (a) über eine Verbesserung des strukturellen Primärsaldos (Konsolidierung), (b) über ein höheres BIP („Heraus wachsen" aus der Verschuldung) und (c) haushaltsentlastende Zinsersparnisse (umgekehrter „Zins-Schneeballeffekt"). Der zweite Effekt wird sogar noch dadurch verstärkt, dass ein höheres Produktions- und Einkommensniveau mit höheren Löhnen und Unternehmensgewinnen und damit höheren Steuereinnah men einhergeht. Des Weiteren dürfte das höhere Wirtschaftswachstum schließ lich auch die Arbeitslosigkeit und damit die Ausgaben für Arbeitslosenhilfe und Grundsicherung drücken. Aus den vorgenannten Gründen ist eine wachstums freundliche, das Vertrauen stärkende Wirtschaftspolitik, die für einen intakten Wettbewerb sorgt und marktverzerrende Eingriffe auf ein notwendiges Minimum reduziert, mindestens genauso wichtig für die Sicherstellung tragfähiger Staats finanzen wie eine solide durchfinanzierte Haushaltspolitik. Umgekehrt würde ein Staat mit chronisch hohen Haushaltsdefiziten und einer überwiegend auf nicht wachstumsfördernde Ausgaben basierenden Finanzpoli tik über kurz oder lang mit höheren Risikoprämien konfrontiert werden. Der dadurch ausgelöste Zinsanstieg würde letztlich das Wachstumspotenzial (über eine Verdrängung der privaten Investitionen) belasten und sich damit nachteilig auf Einnahmen- und Ausgabendynamik des Staates auswirken. Ab einem ge wissen Punkt würde selbst ein umfangreicher struktureller Konsolidierungskurs nicht mehr ausreichen, um die Staatsfinanzen wieder auf ein tragfähiges Funda ment zu stellen. Denn ist die Schuldentragfähigkeit schwer beschädigt und das Vertrauen in die staatliche Kreditwürdigkeit erschüttert, wären die notwendigen Konsolidierungsschritte derart hoch, dass sie - sofern es zu einer Umsetzung käme - die inländische Nachfrage und die Wirtschaftsleistung massiv belasten würden. Die sich daraus ergebenden Belastungen für den öffentlichen Haushalt (konjunkturbedingtes Defizit) würden somit jegliche Konsolidierungsanstrengun gen des Staates entweder weitestgehend konterkarieren oder schlimmstenfalls ins Gegenteil verkehren („Sparparadoxon"). In einem solchen Fall könnte sich der überschuldete Staat letztlich nicht mehr ohne Weiteres aus seiner finanziel len Schieflage befreien („Schuldenüberhang"). Das Tappen im Dunklen: Wann ist der finanzpolitische Spielraum ausgeschöpft und gibt es so etwas wie einen „Schulden-Kipppunkt"? Grob vereinfacht kann man die Finanzpolitik eines Landes als nicht nachhaltig einstufen, wenn die finanzpolitische Ausrichtung unter plausiblen makroökono mischen Annahmen (zum künftigen BIP-Wachstum, zu den Zinsen und zur Infla tion) sich in einem dauerhaften Anstieg der Staatsschuldenquote niederschla gen würde. 0 20 40 60 80 100 120 02 04 06 08 10 12 14 16 18 20 Von Nicht-Gebietsansässigen gehaltene Schulden (Auslandsschulden) Von Inländern gehaltene Schulden (ohne Federal Reserve Banks) Von den Federal Reserve Banks gehaltene Schulden Von der Öffentlichkeit gehaltene Schulden (Debt Held by the Public) % BIP Quellen: WEFA, Federal Reserve Bank, US Department of Treasury, US Bureau of the Fiscal Service, DB Research USA: Halterstruktur der US - Bundesschulden (Federal debt held by the public) 48 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 02 04 06 08 10 12 14 16 18 20 Von Nicht-Gebietsansässigen gehaltene Schulden (Auslandsschulden) Von Inländern gehaltene Schulden (ohne Federal Reserve Banks) Von den Federal Reserve Banks gehaltene Schulden % der ausstehenden Staatsschulden Quellen: WEFA, Federal Reserve Bank, US Department of Treasury, US Bureau of the Fiscal Service, DB Research USA: Inlandsschulden liegen bei knapp 70% der ausstehenden Bundesschulden 49 Die Rückkehr massiver Staatsausgaben: Wird dieses Mal wirklich alles anders? 18 | 4. August 2021 Deutschland-Monitor Umgekehrt könnte man den Schuldenpfad als nachhaltig bezeichnen, wenn sich die Verschuldungsquote mittel- bis langfristig stabilisiert oder absinkt. Unter Um ständen kann aber auch ein aufwärtsgerichteter Schuldenpfad als nachhaltig angesehen werden, z.B. wenn das Ausgangsniveau der Staatschuldenquote niedrig ist und/oder der Staat bereits in vergangenen Episoden eine hohe Zah lungsmoral bewiesen hat. In diesem Fall würden die Investoren letztlich darauf vertrauen, dass der Staat die nötigen haushaltspolitischen Anpassungen recht zeitig ergreifen dürfte, ehe die Verschuldungssituation aus dem Ruder läuft. Aus wirtschaftstheoretischer Sicht gibt es allerdings keinen klar definierten bzw. festgelegten Schwellenwert, der zur Beurteilung der Tragfähigkeit der Staatsfi nanzen herangezogen werden könnte. Damit gibt es auch keinen allgemeingül tigen „Schulden-Kipppunkt", bei dessen Überschreitung die Staatsfinanzen nach „Schema F" als gefährlich/nicht tragfähig betrachtet werden könnten bzw. bei dessen Unterschreitung die Staatsverschuldung als sicher/nachhaltig betrachtet werden könnte. In der Praxis hängt die Höhe der (noch) tragfähigen Staatsverschuldung maß geblich vom Investorenvertrauen und den Finanzierungsbedingungen ab: Denn solange ein Staat seine fällig werdenden Schulden und/oder laufende Haus haltsdefizite an den Kreditmärkten finanzieren kann, kann er auch seinen Schul dendienst (Rückzahlung fälliger Schulden plus Zinszahlungen) leisten - ganz unabhängig davon, ob die Schuldenquote hoch ist und weiter ansteigt oder niedrig ist und fällt. Die Tragfähigkeit ist also - mit Blick auf die Kreditwürdigkeit des Staates - solange gesichert, wie die Investoren aufgrund ihrer Risikoein schätzungen dazu bereit sind, weitere Kreditmittel zu finanziell tragbaren (also nicht prohibitiv hohen) Zinssätzen zur Verfügung zu stellen. Gleichwohl sinkt (steigt) natürlich die Kreditwürdigkeit (das Zahlungsausfallrisiko) des Staates mit einer zunehmenden Schuldenquote (bei sonst gleichbleibenden Bedingungen). Die Tragfähigkeit der Staatsfinanzen hängt nicht nur von der Defizit- und Schul denquote ab Die Tragfähigkeit der Staatsfinanzen hängt selbstverständlich nicht nur von den Haushalts- und Schuldenkennziffern eines Landes ab (wie z.B. dem öffentlichen Haushaltssaldo, den Zinsausgaben oder dem Schuldenstand). Auch wenn sich diese Indikatoren allesamt für eine erste Einschätzung der öffentlichen Haus haltslage und des noch vorhandenen fiskalischen Spielraums eignen, müssen in einer fundierten Beurteilung der Schuldentragfähigkeit auch weitere, nicht-fiska lische Faktoren berücksichtigt werden. Dazu zählen unter anderem die Größe, das Potenzial und die Stabilität der Volkswirtschaft, da die Besteuerungsmög lichkeiten des Staates ganz entscheidend von der Entwicklung des BIP abhän gen. Eine größere Bedeutung kommt auch den institutionellen Rahmenbedin gungen eines Landes (wie z.B. der Rechtsstaatlichkeit oder Wirksamkeit des Regierungshandelns) zu . Darüber hinaus leitet sich der zusätzliche, noch vor handene „haushaltspolitische Spielraum" eines Staates - also die Kapazität, zu sätzliche Staatsschulden zu günstigen Finanzierungskonditionen zu begeben - maßgeblich daraus ab, welchen Status die heimische Währung in der globalen Real- und Finanzwirtschaft einnimmt und welche Finanzierungsstruktur die aus stehenden Staatsschulden aufweisen. Der Risikograd der Finanzierungsstruktur hängt wiederum von der (a) Währungsdenominierung, (b) der Investorenbasis bzw. Halterstruktur oder (c) dem mit der Staatsverschuldung einhergehenden Rückzahlungsprofil ab. Grundsätzlich verfügen jene Staaten, deren Volkswirtschaften groß und stabil sind und deren heimische Währungen zu den wichtigsten globalen Reserve währungen zählen (wie z.B. der US-Dollar, der Euro oder der japanische Yen) (siehe Grafik 53) über einen deutlich höheren finanzpolitischen Spielraum als 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 IE FR DE PT ES NL AU GB IT G7 G20 AE SE US CA KR CH JP Interne Staatsschulden (gg. Inländern) Externe Staatsschulden (gg. Nicht Gebietsansässigen) % der ausstehenden Staatsschulden Quellen: IWF Fiscal Monitor (April 2021), Deutsche Bank Research Halterstruktur der Staatsver - schuldung (2020) 50 0 20 40 60 80 100 CY AT FI IE BE PT FR ES DE RO PL BG CZ NL HU IT DK SE % der ausstehenden Staatsschulden EU: Schuldnerstruktur der Staatsverschuldung des Gesamtstaates (2019) 51 0 20 40 60 80 100 120 140 IT PT FR ES CY AT HU DE FI IE NL PL SE RO DK CZ BG Sonstige Inländer Finanzielle Kapitalgesellschaften Nicht-Gebietsansässige % BIP Quellen: Eurostat, Deutsche Bank Research Sonstige Inländer: Privathaushalte und nicht - finanzielle Kapitalgesellschaften. Die Rückkehr massiver Staatsausgaben: Wird dieses Mal wirklich alles anders? 19 | 4. August 2021 Deutschland-Monitor solche Staaten, deren Volkswirtschaften klein und volatil sind und die bei der Fi nanzierung ihrer Staatsschulden in einem erheblichen Umfang auf nicht gebiets ansässige Investoren zurückgreifen müssen (externe Schulden) und/oder große Teile ihrer Verschuldung in Fremdwährungen sowie zu kurzen Restlaufzeiten - und damit unter Inkaufnahme von Abwertungs-, Refinanzierungs- und Zinsän derungsrisiken - begeben müssen. Aufgrund seiner risikoarmen Finanzierungs struktur - mit überwiegend in Inlandswährung begebenen und nahezu aus schließlich von heimischen Investoren gehaltenen Staatsschulden - kann Japan selbst eine außerordentlich hohe Staatsverschuldungsquote von mehr als 250% des BIP schultern (siehe Grafik 42). Im Gegensatz dazu sind einige Entwick lungs- oder Schwellenländer in der Vergangenheit schon bereits bei deutlich niedrigeren Schuldenquoten in ernsthafte finanzielle Schwierigkeiten geraten oder sogar zahlungsunfähig geworden. Die intertemporale Budgetbeschränkung (Teil 2): Der Währungsstatus eines Landes und die Zentralbanken als Garanten finanzpolitischer Stabilität Die meisten Ökonomen sind sich einig, dass Entwicklungs- und Schwellenlän der, die unter „Original sin" oder einer „Debt intolerance" leiden, die intertempo rale Budgetbeschränkung einhalten müssen. Denn diese Staaten sind gewöhn lich nicht in der Lage, in der Landeswährung denominierte Schuldtitel in den in ternationalen Kreditmärkten zu platzieren, was unter anderem auch daran liegt, dass das Investorenvertrauen aufgrund der Zahlungsausfall- und Inflationsge schichte vorbelastet ist. Daher müssen diese Länder sich überwiegend in Fremdwährung verschulden. Da die zur Rückzahlung erforderlichen Devisenein nahmen erst durch die heimische Exportwirtschaft erwirtschaftet werden müs sen, ist der Staat stets dazu angehalten, solide zu haushalten. Bei Missachtung der Budgetgrenze - und einer daraus resultierenden überbordenden Fremd währungsverschuldung - riskiert er anderenfalls über kurz oder lang einen Staatsbankrott („Sovereign default"). Die große Frage, die allerdings in der Ökonomen-Zunft diskutiert wird, ist, ob auch große Industrieländer, die sich ganz überwiegend oder ausschließlich in eigener Landeswährung verschulden können, gleichermaßen den Einschrän kungen der intertemporalen Budgetbeschränkung unterliegen. Denn es ist nicht zu bestreiten, dass sich die Fähigkeit eines Staates, sich an den internationalen Kapitalmärkten in eigener Landeswährung verschulden zu können, zweifellos positiv auf seinen finanzpolitischen Spielraum („Fiscal space") auswirkt. Das beste Beispiel dafür sind die USA, die ihre rekordhohen Finanzierungsdefizite - trotz einer bereits hohen Staatsverschuldung - problemlos in den Kreditmärkten finanzieren können. Das hohe Investorenvertrauen in die Kreditwürdigkeit der US-Regierung hängt dabei auch von der herausragenden Bedeutung des US Dollars ab, die dieser als Weltleitwährung einnimmt (siehe Grafik 53). Ein weite rer Aspekt ist die Bedeutung der US-Wirtschaft als sicherer Hafen für internatio nale Investoren („Safe haven economy"). Daher verwundert es auch nicht, dass der US-Staatsanleihemarkt nach wie vor der bei Weitem wichtigste Anleihe markt auf der Welt ist (siehe Grafik 54) und dass die heimischen und internatio nalen Investoren weiter willens sind, den Anstieg der US-Staatsschulden zu sehr günstigen Zinskonditionen zu finanzieren (siehe Grafiken 1, 29, 48 und 49). Ein weiteres, wenn auch etwas anders gelagertes Beispiel ist Japan. Die japani sche Regierung ist trotz chronisch hoher Haushaltsdefizite und einer schwindel erregend hohen Staatsverschuldung noch immer in der Lage, sich am großen und tiefen japanischen Kapitalmarkt zu äußerst niedrigen Zinssätzen zu finan zieren (siehe Grafiken 1, 29 und 47), wenngleich auch die durch eine Zinsstruk turkurvenkontrolle („Yield curve control") und umfangreiche Staatsanleihekäufe geprägte expansive Geldpolitik der BoJ günstige Finanzierungsbedingungen ga rantiert hat (siehe Grafiken 30 und 31). 0 20 40 60 80 100 BG HR RO PL HU CZ DE CY FR IE AT IT NL ES BE PT % der ausstehenden Staatsschulden EU: Währungsstruktur der Staatsverschuldung des Gesamtstaates (2019) 52 0 20 40 60 80 100 120 140 IT PT FR BE ES CY HR AT HU DE IE NL PL RO CZ BG Inlandswährung Fremdwährung % BIP Quellen: Eurostat, Deutsche Bank Research 0 20 40 60 80 0 5 10 15 20 2000 2005 2010 2015 2020 CNY (links) JPY (links) GBP (links) AUD (links) CAD (links) CHF (links) USD (rechts) EUR (rechts) % Quellen: IWF, Deutsche Bank Research Anteil der Währungen an den öffentlich ausgewiesenen Währungsreserven: US - Dollar und Euro dominieren 53 Die Rückkehr massiver Staatsausgaben: Wird dieses Mal wirklich alles anders? 20 | 4. August 2021 Deutschland-Monitor Die intertemporale Budgetbeschränkung (Teil 3): Das anhaltende Niedrigzinsni veau scheint die Grenzen … Vor dem Hintergrund des anhaltenden globalen Zinsrückgangs, in dessen Folge die Staatsanleiherenditen auf historische Tiefstände abgesackt sind und in man chen Länder sogar in negatives Terrain vorgedrungen sind, haben viele von den keynesianischen Lehren inspirierte Volkswirte oder „progressive" Ökonomen die Gültigkeit der intertemporalen Budgetbeschränkung infrage gestellt. In der Theorie gilt die intertemporale Budgetbeschränkung nur dann, wenn der auf die Staatsschulden zu zahlende Zinssatz die BIP-Wachstumsrate übersteigt. Nur bei einer sich in diesem Fall ergebenden positiven Zins-Wachstumsdiffe renz - bei der die Zinsausgaben schneller wachsen als die für die Rückzahlung notwendigen Steuereinnahmen - müsste der Staat letzten Endes seine Schul den über entsprechend hohe Primärüberschüsse abbauen. Denn andernfalls würde die Staatsschuldenquote ins Unermessliche ansteigen. Progressive Öko nomen würden jedoch entgegnen, dass ein Staat seine Schulden nie zurück zahlen muss, weil er die fällig werdenden Schuldtitel stets durch die Ausgabe neuer Schulden am Anleihemarkt refinanzieren kann und/oder die Zentralbank, sofern denn erforderlich, den benötigten Refinanzierungsbedarf über Staatsan leihekäufe decken kann. Da die Staatsanleiherenditen auf historische Tiefststände gefallen sind oder zu mindest in deren Nähe liegen, ist die Zins-Wachstumsdifferenz jedoch derzeit in vielen Staaten negativ, was deren durch hohe Defizite herausgeforderte Schul dentragfähigkeit erleichtert. In manchen Ländern mit einer hohen Kreditwürdig keitseinstufung (wie z.B. Deutschland) sind die Staatsanleiherenditen für viele Laufzeiten mittlerweile sogar deutlich in den negativen Bereich gefallen (siehe Grafiken 55 und 56). In Deutschland hat dies dazu geführt, dass durch die der zeit stark ansteigende Bundesverschuldung praktisch keine höheren Zinsausga ben entstehen. Vielmehr kann der Bund derzeit sogar durch die Ausgabe neuer Schuldtitel zusätzliche Einnahmen generieren, sofern er diese mit Restlaufzei ten von bis zu 25 Jahren oder kürzer begibt (siehe Grafik 56). Diese Mehrein nahmen entstehen dadurch, dass der Bund seine neuen mit null Prozent ver zinsten Anleihen über pari (d.h. mit einem über dem Nennwert liegenden Aus gabekurs) begibt, diese jedoch bei Fälligkeit zum Nennwert abgelöst werden. … der staatlichen Schuldentragfähigkeit nach oben verschoben zu haben Wie es scheint, hat das schon länger anhaltende Niedrigzins- oder Negativzins niveau die intertemporale Budgetbeschränkung für viele, besonders kreditwür dige Staaten - zumindest temporär - außer Kraft gesetzt und damit die ökono mischen Grenzen der Schuldentragfähigkeit nach oben verschoben. Aber auch für hoch verschuldete, nicht ganz so kreditwürdige Länder hat das Niedrigzinsni veau augenscheinlich die Schuldentoleranz erhöht und neue finanzpolitische Spielräume für den Staat eröffnet. Dank des Niedrigzinsniveaus hat sich für viele Staaten die günstige Gelegenheit aufgetan, rentable öffentliche Investiti onsprojekte über langlaufende Staatsschulden und ohne nennenswerte höhere Zinslasten zu finanzieren. In manchen Ländern wie z.B. Deutschland kann der Staat seine öffentlichen Investitionen quasi zum „Nulltarif" steigern oder sogar daran „Geld verdienen". Angesichts dieser außergewöhnlichen, für manche Beobachter aber schon fast normal anmutende makroökonomische Ausgangslage drängt sich für viele Staa ten die Frage auf, ob es heutzutage überhaupt noch notwendig ist, solide und nachhaltig zu haushalten bzw. nach wie vor die Einhaltung der intertemporalen Budgetbeschränkung im Blick zu behalten. Aus diesem Grund gehen wir im nächsten Kapital auf die empirischen Erfahrungen ein, die oftmals bei einer ho hen und steigenden Staatsverschuldung gemacht worden sind. 0 10 20 30 40 50 60 70 80 00 05 10 15 20 25 G7-Staatsschulden G7-BIP US-Staatsschulden US-BIP Quellen: IWF WEO, Deutsche Bank Research % Anteile am Welt-BIP bzw. an den globalen Staatsschulden Bedeutung der G7 und der USA in der Weltwirtschaft und im globalen Staatsanleihenmarkt 54 -1 0 1 2 3 4 5 6 7 00 05 10 15 20 Restlaufzeit von 2 Jahren Restlaufzeit von 10 Jahren Restlaufzeit von 30 Jahren Quellen: WEFA, Deutsche Bundesbank, Deutsche Bank Research Deutsche Staatsanleiherenditen, % DE: Die Staatsanleiherenditen sind stark gesunken 55 -1 0 1 2 3 4 5 1/2 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 2007 2010 2012 2016 2020 2021 Quellen: WEFA, Deutsche Bundesbank, Deutsche Bank Research 2021: Aktuelle Werte Deutsche Zinsstrukturkurve 56 Y - Achse: Rendite % p.a. (Jahresdurchschnitte) X - Achse: Restlaufzeit in Jahren Die Rückkehr massiver Staatsausgaben: Wird dieses Mal wirklich alles anders? 21 | 4. August 2021 Deutschland-Monitor Empirische Aspekte: Die dunkle Seite hoher und steigender Staatsschulden Wie bereits erwähnt, gibt es für die Staatsverschuldungsquote keinen theore tisch fundierten Schwellenwert, bei dessen Überschreiten die staatliche Finanz lage derart gefährlich werden würde, dass es unweigerlich zu einem Staats bankrott oder einer Umschuldung käme. Die Wirtschaftsgeschichte hat vielmehr gezeigt, dass es einerseits Staaten gibt, die selbst recht hohe Schuldenquoten über lange Zeiträume schultern konnten, ohne dass es je zu einem Zahlungs ausfall gekommen wäre. Oftmals haben dabei ein starkes BIP-Wachstum, eine hohe Inflationsrate und/oder Mittel der finanziellen Repression dafür gesorgt, dass die Schuldenlast stets tragbar geblieben ist. Andererseits gibt es jedoch auch einige Länderbeispiele, bei denen es schon bei einer relativ niedrigen Schuldenquote zu einem Zahlungsausfall („Sovereign debt default") oder einer Umschuldung („Sovereign debt restructuring") gekommen ist. Ein prominentes Beispiel für den ersten Fall ist das Vereinigte Königreich (Groß britannien und Nordirland), das selbst über viele Jahre mit einer sehr hohen Staatsverschuldung von zwischenzeitlich mehr als 250% des BIP (z.B. zwischen 1819 und 1822 nach den Napoleonischen Kriegen oder 1947 und 1948 nach dem Zweiten Weltkrieg) nicht zahlungsunfähig wurde (siehe Grafik 57). Tatsäch lich kam es in Großbritannien seit 1800 weder zu einem Zahlungsausfall noch zu einer Umschuldung (siehe auch „This time is different: A panoramic view of eight centuries of financial crisis" von Carmen M. Reinhart und Kenneth S. Rog off). Dabei gelang es Großbritannien in beiden Fällen, seine Schuldenquote wie der deutlich auf Werte von rund 50% des BIP oder sogar darunter zu senken. Ganz sicherlich dürften dabei auch die langen Wachstumsphasen in der Nach kriegszeit (siehe Grafik 58) sowie eine hohe Inflation dazu beigetragen haben, die Staatschuldenquote wieder derart deutlich zu senken. Im Gegensatz zum Vereinigten Königreich kam es in mehreren Entwicklungs- und Schwellenländern in den letzten Jahrhunderten zu wiederholten staatlichen Zahlungsausfällen oder Umschuldungen. Vielfach traten diese aufgrund einer niedrigen „Schuldentoleranz" dieser Staaten bereits bei noch niedrig anmuten den Verschuldungsquoten auf. Diese niedrige „Schuldentoleranz" ergab sich üb licherweise aus einer relativ risikobehafteten Finanzierungsstruktur des Staates, also einem hohen Anteil von Fremdwährungs- und/oder Auslandsschulden und/oder kurzen Restlaufzeiten bei den begebenen Schuldtiteln. Vor diesem Hintergrund mündeten vielfach eine abrupte Verschlechterung des Investoren vertrauens oder aufkommende Finanzmarktturbulenzen in eine Staatsschulden krise. In Argentinien, das in der jüngeren Vergangenheit wiederholte Zahlungsausfälle verzeichnete, betrug die Staatsverschuldungsquote vor dem zum Jahresende 2001 eingetretenen Zahlungsausfall noch nicht einmal 50% des BIP (siehe Gra fiken 59 und 60). In diesem Fall wurde dem argentinischen Staat vor allem die übermäßig hohe Fremdwährungsverschuldung zum Verhängnis, die schließlich nicht mehr tragbar war. Allerspätestens nach der Abwertung der heimischen Landeswährung Peso wurden die staatlichen Fremdwährungsschulden auf grund des dann einsetzenden „Schuldenbewertungseffekts" („Debt revaluation") - der die in heimischer Währung gerechneten Fremdwährungsschulden regel recht in die Höhe katapultierte - untragbar (siehe Grafiken 59 und 60). In vielen großen Industrieländern ist allerdings ein Zahlungsausfall des Staates eine viel geringere Sorge als in den Entwicklungs- und Schwellenländern, da sie sich in der Regel in ihrer eigenen Landeswährung verschulden können. Wäh rend sich z.B. die US-amerikanische, britische oder japanische Regierung in Kri sensituationen letzten Endes darauf verlassen kann, dass die Zentralbank als Kreditgeber der letzten Instanz einspringen würde, stellt sich die Situation für die Mitgliedstaaten des gemeinsamen Euroraums grundsätzlich anders dar. 0 2 4 6 8 10 12 0 50 100 150 200 250 300 Staatsverschuldung (links) Zinsausgaben (rechts) % BIP Quellen: IWF Public Finance in Modern History Database, IWF WEO Graue Schattierungen: Kriege und ausgewählte ökonomische Krisen. Vereinigtes Königreich: Staatsver schuldung vs. Zinsausgaben 57 -6 -4 -2 0 2 4 6 0 50 100 150 200 250 300 Staatsverschuldung (% BIP) (links) Reales BIP* (% gg. Vj.) (rechts) * Gleitender Durchschnitt der nächsten 5 Jahre Quellen: IWF Public Finance in Modern History Database, IWF WEO Vereinigtes Königreich: Staatsver schuldung vs. Wirtschaftswachstum 58 0 20 40 60 80 100 120 140 160 -10 -8 -6 -4 -2 0 2 4 6 95 00 05 10 15 20 Staatsverschuldung (rechts) Staatlicher Finanzierungssaldo (links) Nettozinsausgaben (links) % BIP Quellen: IWF WEO, Deutsche Bank Research Agentinien: Entwicklung des öffentlichen Haushaltes und der Staatsverschuldung (1995 - 2020) 59 Die Rückkehr massiver Staatsausgaben: Wird dieses Mal wirklich alles anders? 22 | 4. August 2021 Deutschland-Monitor Das hat zunächst einmal damit zu tun, dass die Staaten des Euroraums ihre Schulden nicht in ihren eigenen Landeswährungen ausgeben, sondern in der Gemeinschaftswährung Euro, wobei die Wechselkurse der jeweiligen Landes währungen gegenüber dem Euro zu einem bestimmten Wert festgezurrt worden sind. Des Weiteren können die dem Eurosystem angeschlossenen nationalen Zentralbanken keine eigenständigen geldpolitischen Entscheidungen treffen - sprich „kein eigenes Geld nachdrucken". Denn sämtliche geldpolitische Ent scheidungen (wie z.B. die Festsetzung der Leitzinsen oder die Beschlüsse zu den Vermögensankaufprogrammen) werden ausschließlich vom EZB-Rat ge troffen. Dieses oberste geldpolitische Gremium setzt sich aus den EZB Direktoren und den nationalen Zentralbankpräsidenten der 19 Mitgliedstaaten des Euroraums zusammen. Im Gegensatz zur Geldpolitik, die einem gemeinsa men europäischen Organ übertragen wurde, werden die fiskalpolitischen Ent scheidungen weiterhin auf der nationalen Ebene getroffen, d.h. die Budget- hoheit und Haushaltsverantwortung obliegen weiterhin den Regierungen der Mitgliedstaaten. Aufgrund der oben genannten Besonderheiten bedarf es im Eu roraum daher auch allgemein gültiger Fiskalregeln, um Fehlentwicklungen - die sich z.B. aus einem moralischen Fehlverhalten ergeben - vorzubeugen. Jährliche Wachstums- und Inflationsraten (%) im Kontext der Staatsverschuldungsquote* (in Prozent vom BIP) 61 0 20 40 60 80 100 120 140 160 -20 -10 0 10 20 30 40 50 60 95 00 05 10 15 20 Staatsverschuldung (% BIP) (rechts) Reales BIP (% gg. Vj.) (links) Verbraucherpreisinflation (%) (links) Quelle: IWF WEO Argentinien: Wirtschaftswachstum und Inflationsentwicklung im Kontext der Staatsverschuldung 60 Entwickelte Länder Zeitraum Wachstum bei Schuldenquote von: Schwellenländer Zeitraum Wachstum bei Schuldenquote von: <30% 30-60% 60-90% >90% <30% 30-60% 60-90% >90% Australien 1902-2009 3,1 4,1 2,3 4,6 Argentinien 1900-2009 4,3 2,7 3,6 0,5 Österreich 1880-2009 4,3 3,0 2,3 Bolivien 1950-2009 0,7 5,2 3,7 3,9 Belgien 1835-2009 3,0 2,6 2,1 3,3 Brasilien 1980-2009 3,2 2,3 2,6 2,3 Kanada 1925-2009 2,0 4,5 3,0 2,2 Chile 1900-2009 4,0 1,0 7,5 -4,5 Dänemark 1880-2009 3,1 1,7 2,4 Kolumbien 1923-2009 4,3 3,0 Finnland 1913-2009 3,2 3,0 4,3 1,9 Costa Rica 1950-2009 6,9 5,0 3,4 3,0 Frankreich 1880-2009 4,9 2,7 2,8 2,3 Ecuador 1939-2009 5,3 5,0 3,2 1,5 Deutschland 1880-2009 3,6 0,9 El Salvador 1939-2009 3,6 2,6 Griechenland 1884-2009 4,0 0,3 4,8 2,5 Ghana 1952-2009 4,6 4,7 1,9 Irland 1949-2009 4,4 4,5 4,0 2,4 Indien 1950-2009 4,2 4,9 Italien 1880-2009 5,4 4,9 1,9 0,7 Indonesien 1972-2009 6,6 6,3 -0,1 3,1 Japan 1885-2009 4,9 3,7 3,9 0,7 Kenia 1963-2009 6,3 4,2 2,3 1,2 Niederlande 1880-2009 4,0 2,8 2,4 2,0 Malaysia 1955-2009 2,0 6,2 6,9 5,5 Neuseeland 1932-2009 2,5 2,9 3,9 3,6 Mexiko 1917-2009 4,1 3,4 1,2 -0,7 Norwegen 1880-2009 2,9 4,4 Nigeria 1990-2009 5,4 10,6 11,2 2,6 Portugal 1851-2009 4,8 2,5 1,4 Peru 1917-2009 4,3 2,9 2,7 Spanien 1850-2009 1,6 3,3 1,3 2,2 Philippinen 1950-2009 5,0 3,8 5,1 Schweden 1880-2009 2,9 2,9 2,7 Singapur 1969-2009 9,5 8,2 4,0 Vereinigtes Königreich 1830-2009 2,5 2,2 2,1 1,8 Südafrika 1950-2009 2,0 3,5 Vereinigte Staaten 1790-2009 4,0 3,4 3,3 -1,8 Sri Lanka 1950-2009 3,3 3,7 4,2 5,0 Thailand 1950-2009 6,1 6,6 Türkei 1933-2009 5,4 3,7 3,2 -6,4 Uruguay 1935-2009 2,1 3,1 3,2 0,0 Venezuela 1921-2009 6,5 4,1 3,2 -6,5 Mittelwert 1790-2009 3,7 3,0 3,4 1,7 Mittelwert 1900-2009 4,3 4,1 4,2 1,0 Median 1790-2009 3,9 3,1 2,8 1,9 Median 1900-2009 4,5 4,4 4,5 2,9 Mittelwert 1946-2009 4.1 2.8 2.8 -0.1 Mittelwert 1946-2009 4.3 4.8 4.1 1.3 Median 1946-2009 4,2 3.0 2.9 1.6 Median 1946-2009 5.0 4.7 4.6 2.9 Entwickelte Länder Zeitraum Inflation bei Schuldenquote von: Schwellenländer Zeitraum Inflation bei Schuldenquote von: <30% 30-60% 60-90% >90% <30% 30-60% 60-90% >90% Mittelwert 1946-2009 6,4 6,3 6,4 5,1 Mittelwert 1946-2009 64,8 39,4 105,9 119,6 Median 1946-2009 5,2 3,7 3,5 3,9 Median 1946-2009 6,0 7,5 11,7 16,5 *Schulden der Bundes- bzw. Zentralregierung Quelle: Carmen M. Reinhart & Kenneth S. Rogoff: Growth in a Time of Debt. NBER Working Paper 15639. Issue Date January 2010. Revision Date December 2011. https://www.nber.org/papers/w15639 Die Rückkehr massiver Staatsausgaben: Wird dieses Mal wirklich alles anders? 23 | 4. August 2021 Deutschland-Monitor Die RR-Kontroverse: Belasten hohe Staatsschulden das Wirtschaftswachstum? Wie wir aus der neoklassischen Wirtschaftstheorie wissen, können von einer ho hen Staatsverschuldung schädliche Auswirkungen auf die Volkswirtschaft aus gehen, z.B. indem sie eine höhere Inflation anfachen oder das Wachstumspo tenzial der Wirtschaft belasten. Eine höhere Inflation droht immer dann, wenn die Zentralbank den Anstieg der Staatsschulden über die „Notenpresse" finan ziert und es aufgrund dieser „Monetarisierung" der Staatsschulden zu einer Aus weitung der Geldmenge kommt. Ein schwächeres Wachstumspotenzial droht immer dann, wenn die steigende Staatsverschuldung einen Zinsanstieg nach sich zieht und es dadurch zu einer Verdrängung der privaten Investitionen kommt. Denn aufgrund des dann niedrigeren privaten Kapitaleinsatzes sinkt schließlich auch das Produktionspotenzial der Volkswirtschaft ab. Angesichts der weltweit hohen sowie weiter zunehmenden Staatsverschuldung und wiederholter Staatsschuldenkrisen - die in der Vergangenheit nicht nur Schwellenländer, sondern auch Industrieländer heimgesucht haben (wie z.B. die Staaten in der Eurozonen-Peripherie während der europäischen Staats schuldenkriese zwischen 2009 und 2014) -, befasst sich ein wichtiges, aber auch kontrovers geführtes wirtschaftswissenschaftliches Forschungsfeld mit dem empirischen Zusammenhang zwischen der Staatsverschuldungsquote und der gesamtwirtschaftlichen Wachstumsrate eines Landes. Eine Reihe wirt schaftswissenschaftlicher Untersuchungen ist dabei zu dem Ergebnis gekom men, dass es empirisch betrachtet einen negativen Zusammenhang bzw. ge nauer gesagt eine negative Korrelation zwischen diesen beiden Variablen gibt, d.h. eine in der Wirtschaftsgeschichte hohe Staatsverschuldung üblicherweise mit einem schwächeren BIP-Wachstum einhergegangen ist. So haben z.B. die Ökonomen Carmen M. Reinhart und Kenneth S. Rogoff (RR) auf der Grundlage eines 44 Industrie- und Schwellenländer und einen Zeitraum von knapp 200 Jahren umfassenden Datensatzes einen solch negativen Zu sammenhang zwischen der Staatsverschuldungsquote und der Wirtschafts wachstumsrate entdeckt (siehe dazu auch deren Studie „Growth in a Time of Debt"; darüber hinaus siehe auch das Forschungspapier „Public Debt Over hangs: Advanced-Economy Episodes since 1800"). Ein zentrales Forschungser gebnis war dabei deren Feststellung, dass empirisch betrachtet eine Staatsver schuldungsquote von mehr als 90% des BIP oftmals mit einem deutlich niedri geren Wirtschaftswachstum einhergegangen ist (siehe eine Zusammenfassung der Studienergebnisse von Reinhart und Rogoff in Tabelle 61). Auch wenn deren Ergebnisse auf den ersten Blick vermuten lassen, dass eine hohe Staatsschuldenquote empirisch betrachtet das Wirtschaftswachstum be lastet (so wie in der neoklassischen Theorie nahegelegt), darf man eine Korrela tion nicht mit Kausalität gleichsetzten. Denn der Kausalzusammenhang könnte auch in die entgegengesetzte Richtung laufen, sodass nicht die hohe Verschul dung für das niedrige Wachstum, sondern das niedrige Wachstum für die hohe Verschuldung verantwortlich ist (z.B. weil das schwache BIP-Wachstum das Wachstum der Steuereinnahmen beschnitten hat und/oder zu einer höheren Ar beitslosigkeit geführt hat, die höhere staatliche Ausgaben für Arbeitslosenhilfe nach sich gezogen hat). In einem anschließenden wirtschaftswissenschaftlichen Diskurs wurden die RR Ergebnisse von einigen Ökonomen stark hinterfragt und kritisiert (siehe z.B. die Studie „Does High Public Debt Persistently Stifle Economic Growth? A Critique of Reinhart and Rogoff" von Thomas Herndon, Michael Ash und Robert Pollin). Dennoch sind andere Autoren wiederum zu ähnlichen Ergebnissen wie Reinhart und Rogoff gelangt: Cristina Checherita und Philipp Rother fanden z.B. für ein Sample von zwölf Euroländern und über einen Zeitraum von ungefähr 40 Jah ren ab dem Jahr 1970 heraus, dass „Schulden einen nicht-linearen Einfluss auf das Wirtschaftswachstum haben, wobei eine Schuldenhöhe von etwa 90-100% Die Rückkehr massiver Staatsausgaben: Wird dieses Mal wirklich alles anders? 24 | 4. August 2021 Deutschland-Monitor des BIP einen Wendepunkt darstellt, ab dem die Staatsverschuldung schädliche Auswirkungen auf das langfristige Wachstum nach sich zieht" (siehe auch ihr EZB-Arbeitspapier). Zusammenfassend kann man festhalten, dass eine negative Kausalität zwi schen Staatsschulden und Wirtschaftswachstum empirisch nur sehr schwer zu belegen ist. Darüber hinaus ist es praktisch unmöglich, einen allgemeingültigen Schwellenwert für die Staatsverschuldungsquote zu identifizieren, ab dessen Überschreitung das Wirtschaftswachstum in Mitleidenschaft gezogen wird. Denn letztlich sind die länderspezifischen Rahmenbedingungen oftmals viel zu unter schiedlich. Nichtsdestotrotz legen die empirischen Erkenntnisse - und die Erfah rungen aus vergangenen Staatsschuldenkrisen - in Verbindung mit der neo klassischen Wirtschaftstheorie nahe, dass eine zu hohe Staatsverschuldung sehr wohl zu tiefgreifenden wirtschaftlichen Problemen führen kann. Abschlie ßend sei auf die Studie „Debt and Growth: A Decade of Studies" von Veronique de Rugy und Jack Salmon hingewiesen, die einen umfassenden Überblick über den wirtschaftswissenschaftlichen Kenntnisstand zum Zusammenhang zwi schen Staatsschulden und Wirtschaftswachstum gibt. Der Ausgabenmultiplikator: Können höhere Staatsschulden das Wirtschafts wachstum anschieben? Eine defizitbetriebene Fiskalpolitik, die zu steigenden Staatsschulden führt, kann sich in der kurzen Frist zweifelsfrei positiv auf das Wirtschaftswachstum auswirken, z.B. dann, wenn eine antizyklische Fiskalpolitik die gesamtwirtschaft liche Nachfrage in einer schweren Wirtschaftskrise stützt (keynesianische Fi nanzpolitik). Denn ein solches fiskalisches Gegensteuern des Staates kann nicht nur dabei helfen, die Dauer und Tiefe des Konjunktureinbruchs zu begren zen, sondern auch dazu beitragen, die potenziellen, langfristig negativen Aus wirkungen auf das volkswirtschaftliche Produktionspotenzial in Grenzen zu hal ten („Hysterese-Effekte"). Darüber hinaus können staatliche Finanzierungsdefi zite und eine damit einhergehende Staatsschuldenquote mitunter das mittel- bis langfristige Wachstumspotenzial eines Landes heben, sofern sie für produktive, wachstumsstärkende Staatsausgaben verwendet werden. So haben z.B. die Ökonomen Heike Belitz et al. am Deutschen Institut für Wirt schaftsforschung (DIW Berlin) in einer aktuellen Studie (Öffentliche Investitionen als Triebkraft privatwirtschaftlicher Investitionstätigkeit) für Deutschland heraus gefunden, dass sich steigende öffentliche Investitionen tatsächlich sehr positiv auf das Wirtschaftswachstum auswirken können, insbesondere dann, wenn diese in wirtschaftlichen Schwächephasen und bei einem niedrigen Zinsniveau erfolgen. Dank eines bedeutsamen Ausgabenmultiplikators können sich dem nach öffentliche Investitionsprogramme zu einem großen Teil selbst finanzieren, sodass eine defizitfinanzierte Investitionsoffensive nicht zwangsläufig eine deut lich höhere Staatsverschuldungsquote nach sich ziehen muss. Als besonders wachstumsfördernd werden dabei die öffentlichen (Zukunfts-) In vestitionen eingestuft. Darunter versteht man nicht nur die öffentlichen Investitio nen im engen Sinne, die z.B. in Form von staatlichen Ausrüstungs- oder Bauin vestitionen getätigt werden, sondern auch die sonstigen Staatsausgaben mit „in vestivem" Charakter (wie z.B. Bildungsausgaben oder Ausgaben für Forschung und Entwicklung). Insgesamt bescheinigt die obige DIW-Studie den öffentlichen Investitionen (im Sinne eines solch erweiterten Investitionsbegriffs) einen hohen Multiplikator-Effekt von etwa 1,6. Letztlich bedeutet dies, dass jeder Euro, der zusätzlich für öffentliche Investitionen ausgegeben wird und die private Investiti onstätigkeit anregt („Crowding-in"), die gesamtwirtschaftliche Leistung, also das BIP, um zusätzliche EUR 1,6 steigern dürfte. Eine Kurzzusammenfassung und Übersicht zu den zentralen DIW-Studienergebnissen findet sich auch im Mo natsbericht des Bundesfinanzministeriums für April 2021). 0 1 2 3 4 91 95 99 03 07 11 15 19 Bund Länder Gemeinden Gesamtstaat DE: Die staatlichen Zinsausgaben sind massiv gesunken 62 Staatliche Bruttozinsausgaben, % BIP Quellen: Statistisches Bundesamt, Deutsche Bank Research -1 0 1 2 3 4 5 6 7 96 00 04 08 12 16 20 Implizite Verzinsung der Staatsschulden Markzinsen (Rendite auf Bundesanleihen mit einer Restlaufzeit von 10 Jahren) % DE: Die durchschnittliche Verzinsung der deutschen Staatsschulden ist deutlich gefallen 63 Implizite Verzinsung: Bruttozinsausgaben des Staates in Periode t im Verhältnis zu den ausstehenden Staatsschulden in Periode t - 1. Quellen: Eurostat, AMECO, Bloomberg Finance LP, Deutsche Bank Research Die Rückkehr massiver Staatsausgaben: Wird dieses Mal wirklich alles anders? 25 | 4. August 2021 Deutschland-Monitor Theorie und Empirie: Es deutet viel daraufhin, dass allzu hohe Staatsschulden eine Gefahr für die Volkswirtschaft darstellen Auch wenn von defizitfinanzierten staatlichen Ausgabenprogrammen auch posi tive Wachstumseffekte ausgehen können (wie z.B. im Falle von rentablen öf fentlichen Investitionen), gibt es dennoch viele theoretische Argumente und em pirische Erkenntnisse, die darauf hindeuten, dass eine hohe Staatsverschul dung zu einer Gefahr für das Wirtschaftswachstum und die makroökonomische Stabilität werden kann. Ein kompakter Literaturüberblick, in dem auch die ver schiedenen Wirkungskanäle einer hohen Staatsverschuldung auf die Wirtschaft beschrieben werden, findet sich z.B. in dem IWF-Arbeitspapier „Public Debt and Growth" von Manmohan S. Kumar und Jaejoon Woo. Demnach kann eine übermäßig hohe Staatsverschuldung folgende negative Auswirkungen nach sich ziehen: (a) einen Anstieg der Zinsen, der zu einer Verdrängung privater Investitionen führt und über einen sinkenden privaten Kapitalstock das Wachstumspoten zial belastet; (b) eine steigende Steuerbelastung, die zu wohlfahrtschädigenden Verzerrun gen führt; (c) einen Anstieg der Inflation, der empirisch betrachtet oftmals in den hoch verschuldeten Schwellenländern einsetzte (siehe Tabelle 61); (d) eine durch eine Staatsschuldenkrise ausgelöste Banken- und Finanzkrise, welche die oben genannten negativen Effekte weiter verstärken könnte; (e) einen geringeren haushaltspolitischen Spielraum, der die Möglichkeiten zum fiskalischen Gegensteuern in künftigen Wirtschaftskrisen beschneidet und damit zu einer höheren makroökonomischen Volatilität führt. Und letzten Endes hängt die Beantwortung der Frage, ob ein weiterer Anstieg der Staatsschulden sich positiv oder negativ für die Wirtschaft auswirkt, ganz entscheidend davon ab: (I.) wie hoch der anfängliche Schuldenstand und die damit zusammenhän gende Steuerbelastung zur Finanzierung des Schuldendienstes ist; (II.) für welche Ausgabenposten die zusätzlichen Schulden verwendet wer den. Grundsätzlich gilt, dass bei einem hohen Ausgabenniveau ein weiterer Schul denaufbau mit größeren Risiken verbunden ist als bei einem niedrigen Schul denniveau und dass schuldenfinanzierte Investitionsausgaben tendenziell weni ger problematisch sind als ein defizitfinanzierter staatlicher Konsum. E. Fiskalpolitik in Zeiten niedriger Zinsen und de mografischer Herausforderungen Im Schlaraffenland: Wenn die Zinsen niedriger sind als das BIP Wachstum Das anhaltende Niedrigzinsumfeld und die sehr günstigen Finanzierungsbedin gungen in vielen großen Industrieländern haben eine Diskussion darüber in Gang gesetzt, welche Rolle die Wirtschafts- und Finanzpolitik in Zukunft idealer weise einnehmen sollte, um die gegenwärtige Niedrigzins-Niedrigwachstums phase zu überwinden. In den USA hat die US-Regierung einen entschiedenen, expansiven Kurs in der Fiskalpolitik gefahren und die US-Wirtschaft zuletzt über 0 25 50 75 100 125 150 175 00 05 10 15 20 25 30 EA19 DE FR IT ES NL Staatsverschuldung, % BIP Quellen: Europäische Kommission (Debt Sustainability Monitor 2020; Stand: Februar 2021), AMECO, DB Research EWU: Die Staatsschuldenquote der Eurozone ist im Jahr 2020 sprunghaft angestiegen 64 -12 -10 -8 -6 -4 -2 0 2 4 00 05 10 15 20 25 30 EA19 DE FR IT ES NL Staatlicher Finanzierungssaldo, % BIP Quellen: Europäische Kommission (Debt Sustainability Monitor 2020; Stand: Februar 2021), AMECO, DB Research EWU: Die öffentlichen Haushalte weisen derzeit hohe Defizite aus 65 -10 -8 -6 -4 -2 0 2 4 6 00 05 10 15 20 25 30 EA19 DE FR IT ES NL Quellen: Europäische Kommission (Debt Sustainability Monitor 2020; Stand: Februar 2021), AMECO, DB Research Staatlicher Primärsaldo, % BIP EWU: Die Europäische Kommission geht von einer graduellen Verbesserung der staatlichen Primärsalden aus 66 Die Rückkehr massiver Staatsausgaben: Wird dieses Mal wirklich alles anders? 26 | 4. August 2021 Deutschland-Monitor ein weiteres USD 1,9 Bill. schweres Konjunkturpaket angekurbelt. Wie es scheint, könnten die USA eine Vorreiterrolle für andere große Industrieländer eingenommen und damit einen Paradigmenwechsel in der weltweiten Fiskalpoli tik eingeläutet haben. Die Versuchung: Wenn höhere Schulden keine finanzpolitischen Schmerzen verursachen (keine höhere Zinsausgaben nach sich ziehen) Die Argumentationslinie der keynesianisch oder „progressiv" denkenden Ökono men zur Begründung einer höheren Staatsverschuldung ist recht intuitiv: So lange die Staatsanleiherenditen auf ihren aktuellen Tiefständen verbleiben oder sogar noch weiter absinken, halten sich die staatlichen Zinsausgaben in engen Grenzen oder reduzieren sich sogar noch weiter. Demnach dürften die aus der steigenden Staatsverschuldung resultierenden Zinsausgaben auch in Zukunft beherrschbar bleiben. In diesem Kontext geht die Europäische Kommission (EU-KOM) in ihren Wirtschafts- und Finanzprognosen davon aus, dass die durchschnittlich auf die Staatschulden zu zahlenden Schuldzinssätze auch in den Jahren 2021/22 weiter fallen dürften, um sich danach bis mindestens zum Jahr 2031 auf sehr niedrigem Niveau zu stabilisieren (siehe Grafik 68) (siehe auch den Debt Sustainability Monitor 2020 vom Februar 2021). Dank des anhaltenden Niedrigzinsniveaus dürften auch die hohen Finanzie rungs- bzw. Primärdefizite und der damit einhergehende Schuldenanstieg (siehe Grafiken 64, 65, 66 und 67) keine allzu großen negativen Auswirkungen auf die staatlichen Zinsausgaben haben. Genauer gesagt könnten die (Brutto-) Zinsausgaben in vielen Euroländern 2021 und 2022 noch weiter zurückgehen und zwar sowohl im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung als auch relativ zu den Staatseinnahmen oder den Staatsausgaben. In einigen Ländern können diese sogar auch in absoluten Euro-Beträgen fallen. Darüber hinaus könnten die Zins lasten der meisten Euroländer bis ins neue Jahrzehnt hinein auf historisch nied rigen Niveaus verharren (siehe Grafik 67). Die Zins-Wachstumsdifferenz, ein für den Schuldenquotenpfad ganz entschei dender Indikator, dürfte nach Einschätzung der EU-KOM in vielen Euro-Ländern bis zum Jahr 2031 spürbar negativ bleiben (siehe Grafik 70) und damit auch in den kommenden Jahren den Auftrieb der Schuldenquoten dämpfen. Die im Jahr 2020 verzeichnete positive Zins-Wachstumsdifferenz, die primär eine Folge des vorübergehend scharfen Konjunktureinbruchs war (siehe Grafik 69), dürfte da bei nur eine Ausnahmeerscheinung gewesen sein. Ebenso wie die EU-KOM geht auch der IWF in seiner Mittelfristprognose davon aus (siehe Fiscal Monitor vom April 2021), dass die Zins-Wachstumsdifferenz in den meisten großen Volkswirtschaften bis mindestens zum Jahr 2026 weitestgehend negativ bleiben dürfte (siehe Grafik 44). Aus diesem Grund dürften sich Staatschuldenquoten in den meisten Ländern auch dann wieder stabilisieren (oder sogar zurückgehen), sobald die Primärdefizite wieder auf ihre Vorkrisenniveaus zurückgekehrt sind. Aus der Theorie wissen wir, dass eine defizit- und schuldenbetriebene expan sive Fiskalpolitik zu keinen oder zumindest nicht erheblichen finanzpolitischen Mehrausgaben (in Form höherer Zinsausgaben) führt, solange die Zins-Wachs tumsdifferenz dauerhaft negativ bleibt. Auch die mit einer expansiven Schulden politik (z.B. aufgrund einer zinsbedingten Verdrängung der privaten Investitio nen) entstehenden Wohlfahrtsverluste dürften im derzeitigen Niedrigzinsumfeld vermutlich eher gering ausfallen, da die gegenwärtige Überschussnachfrage der Investoren nach „sicheren" Staatsanleihen wohl mit einer niedrigen Zinsreagibili tät einhergehen sollte und der durch die höhere staatliche Kreditnachfrage aus gelöste Zinsanstieg nur schwach ausgeprägt sein dürfte (siehe in diesem Zu sammenhang auch die einflussreiche Studie „Public Debt: Fiscal and Welfare Costs in a Time of Low Interest Rates" von Olivier Blanchard). 0 1 2 3 4 5 6 7 00 05 10 15 20 25 30 EA19 DE FR IT ES NL Staatliche Bruttozinsausgaben, % BIP Quellen: Europäische Kommission (Debt Sustainability Monitor 2020; Stand: Februar 2021), AMECO, DB Research EWU: Die staatlichen Zinsausgaben sind deutlich gesunken 67 0 1 2 3 4 5 6 7 00 05 10 15 20 25 30 EA19 DE FR IT ES NL Quellen: Europäische Kommission (Debt Sustainability Monitor 2020; Stand: Februar 2021), AMECO, DB Research Impliziter Zinssatz auf die Staatsschulden, % Impliziter ZInssatz: Bruttozinsausgaben des Jahres t im Verhältnis zu den Bruttostaatsschulden des Jahres t - 1. EWU: Die impliziten Zinssätze sind im letzten Jahrzehnt stark gefallen 68 -10 -5 0 5 10 00 05 10 15 20 25 30 EA19 DE FR IT ES NL Nominales BIP, % gg. Vj. Quellen: Europäische Kommission (Debt Sustainability Monitor 2020; Stand: Februar 2021), AMECO, DB Research EWU: Die Wirtschaftsleistung ist im Jahr 2020 kräftig zurückgegangen 69 Die Rückkehr massiver Staatsausgaben: Wird dieses Mal wirklich alles anders? 27 | 4. August 2021 Deutschland-Monitor Ponzi-Spiele im Kontext einer negativen Zins-Wachstumsdifferenz Würde die Zins-Wachstumsdifferenz eines Landes auf immer und ewig negativ bleiben, könnte der Staat die intertemporale Budgetbeschränkung tatsächlich ausblenden und ein sogenanntes „Ponzi-Spiel" („Ponzi game") spielen. Dabei würde er seine chronischen Finanzierungsdefizite und die mit der Zeit immer wieder fällig werdenden Staatsschulden fortlaufend über die Aufnahme neuer Kredite am Anleihenmarkt finanzieren. Dazu sei gesagt, dass ein solches Ponzi Spiel jedoch bei einer positiven Zins-Wachstumsdifferenz nicht möglich ist, da sonst die Schuldenquote unkontrolliert anstiege und die Staatsfinanzen unwei gerlich aus dem Ruder liefen. In einem solchen, aus Sicht des Fiskus idealen, makroökonomischen Umfeld, das einem Schlaraffenland gleichkommen würde, wären die defizitären Staatsfi nanzen nur deshalb tragbar, weil die Wirtschaftsleistung (also das BIP) und da mit auch die daran geknüpften Staatseinnahmen (z.B. Steuereinnahmen oder Sozialversicherungsbeiträge) hinreichend schneller wachsen würden als die Staatsverschuldung und die darauf zu zahlenden Zinsausgaben. In der oben beschriebenen Welt könnte der Staat mit seinem Ponzi-Spiel zual lererst den Wohlstand seiner heute lebenden Bürger erhöhen, indem er seine schuldenfinanzierte Haushaltpolitik dazu nutzte, die Sozialleistungen zu erhö hen (wie z.B. die Renten oder die Arbeitslosenhilfe), die öffentlichen Investitio nen auszuweiten (wie z.B. für die Infrastruktur, Digitalisierung, Förderung grüner Technologien) und/oder die Steuerbelastung zu senken und damit die Nettoein kommen zu stärken. Aber auch die kommenden Generationen wären wirtschaft lich besser gestellt, da sie auf der einen Seite niemals für die zusätzlich aufge nommenen Staatsschulden aufkommen müssten (oder wenn überhaupt nur in sehr begrenztem Umfang), und auf der anderen Seite auch von einer besseren und modernisierten öffentlichen Infrastruktur profitierten. Moritz Schularick und Jens Südekum vertreten in einem Kommentar in der FAZ den Standpunkt, dass (höhere) Staatsschulden kommende Generationen nicht zwangsläufig belasten müssen. Zwar mahnen sie auf der einen Seite einen vor sichtigen Umgang mit Staatsschulden an und sehen einen schuldenfinanzierten Staatskonsum als eine schlechte Idee an. Auf der anderen Seite befürchten sie aber, dass der deutsche Staat bei einem strengen Schuldenfinanzierungsverbot zu wenig in zukunftsweisende Bereiche (wie z.B. in den Klimaschutz) investie ren könnte. So sehen sie derzeit auch die realere Gefahr darin, dass „der Schul denbremsen-Michel die Zukunftschancen verschläft, die das gegenwärtige Zins niveau eröffnet". In der Folge wären zwar nicht zu hohe Schulden, jedoch die heute unterlassenen Zukunftsausgaben eine Bürde für spätere Generationen. Angesichts der Aussicht, dass die Zinsen noch für einen längeren Zeitraum auf einem sehr niedrigen Niveau verbleiben könnten, fordern viele Ökonomen und Politiker den Staat dazu auf, einen deutlich expansiveren (schuldenfinanzierten) fiskalpolitischen Kurs zu fahren und dabei in besonderem Maß zukunftswei sende und das Wachstumspotenzial stärkende öffentliche Investitionsausgaben in den Blick zu nehmen (wie z.B. in die Digitalisierung oder die Dekarbonisie rung der Wirtschaft sowie in die öffentliche Infrastruktur). Robert Habeck, Ko-Vorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen, und Reiner Hoff mann, Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), schlagen in einem Gastbeitrag für die FAZ unter anderem vor, die nach der Bundesschul denbremse geltenden Tilgungsfristen für die pandemiebedingten, übermäßigen Kredite zu verlängern. Des Weiteren plädieren sie dafür, sowohl den europäi schen Stabilitäts- und Wachstumspakt als auch die deutsche Schuldenbremse zu reformieren. Die Autoren regen dabei unter anderen an, die deutsche Schul denbremse um eine Regelung zugunsten der staatlichen Investitionen zu erwei tern. -5 0 5 10 15 00 05 10 15 20 25 30 EA19 DE FR IT ES NL Quellen: Europäische Kommission (Debt Sustainability Monitor 2020; Stand: Februar 2021), AMECO, DB Research Zins-Wachstumsdifferenz: Impliziter Zinssatz abzüglich der nominalen BIP-Wachstumsrate. Zins-Wachstumsdifferenz, Prozentpunkte EWU: Die Zins-Wachstumsdifferenz dürfte weiterhin negativ bleiben 70 -8 -6 -4 -2 0 2 4 6 10 15 20 25 30 EU27 EA19 DE FR IT ES Struktureller Primärsaldo, % BIP Quellen: Europäische Kommission (Debt Sustainability Monitor 2020; Stand: Februar 2021), AMECO, DB Research EWU: Die Staatsfinanzen sind derzeit durch hohe strukturelle Primärdefizite gekennzeichnet 71 Die Rückkehr massiver Staatsausgaben: Wird dieses Mal wirklich alles anders? 28 | 4. August 2021 Deutschland-Monitor Die Befürworter einer Schuldenpolitik argumentieren häufig auch, dass die mit Blick auf die Schuldentragfähigkeit verbundenen Risiken (wie z.B. ein Zinsan stieg, eine Demografie-bedingte Wachstumsverlangsamung und/oder ein Stim mungsumschwung bei den Investoren) reduziert werden könnten, indem der Staat einfach die durchschnittliche Restlaufzeit der ausstehenden Staatsschul den erhöht (z.B. über die Platzierung langfristiger Staatsanleihen mit einer Lauf zeit von bis zu 30 oder mehr Jahren). Natürlich kann der Staat versuchen, seine unmittelbaren Refinanzierungsrisiken zunächst durch die Ausgabe langfristiger Schulden zu minimieren. Dennoch würde auch eine solche Finanzierungsstrate gie recht schnell an ihre Grenzen stoßen. Denn gewöhnlich kann der Staat nicht nur einseitig auf Schuldenemissionen am langen Laufzeitende der Zinsstruktur kurve setzen, sondern muss stattdessen als Benchmark-Emittent den gesamten Laufzeitenbereich (von kurz- bis langfristig) abbilden. Darüber hinaus ist auch die Nachfrage nach sehr langlaufenden Staatsanleihen, die oftmals aus der Ver sicherungswirtschaft kommt, üblicherweise begrenzt. Andere Schuldenbefürworter gehen sogar noch einen Schritt weiter. Auf der Grundlage kapitalmarkttheoretischer Überlegungen vertreten sie z.B. die Mei nung, dass höhere Staatsschulden geradezu benötigt werden, um das knappe Angebot an „sicheren" Staatsanleihen (mit einem niedrigem Zahlungsausfallri siko) auszuweiten. Aus diesem Blickwinkel wären höhere Staatsschulden regel recht zu begrüßen, da diese den Weg zu steigenden Zinsen ebnen würden und somit die „Nullzinsuntergrenzen"-Problematik („Zero lower bound"; ZLB) der Geldpolitik lösen könnten. Des Weiteren würde eine steigende Staatsverschul dung das verfügbare Angebot an „sicheren" Vermögenswerten erhöhen und so mit dazu beitragen, dass die Übernachfrage nach sicheren Anlagen in einer al ternden Gesellschaft befriedigt werden kann (siehe z.B. „Der Vorsorge Albtraum" und „Public Debt Requirements in a Regime of Price Stability" von Carl Christian Weizsäcker). Selbst wenn die oben genannten Einschätzungen zutreffend wären, würde die Werthaltigkeit des in Form von Staatsschulden an gesparten „Altersvorsorgevermögens" nur so gut sein wie die zugrunde liegende Kreditwürdigkeit des Schuldners, also des Staates. Fiskalischer Spielraum und Schuldentragfähigkeit: Ändern sich bei niedrigen Zinsen wirklich die Spielregeln? Jason Furman und Lawrence Summers argumentieren in einer aktuellen Studie (siehe „A Reconsideration of Fiscal Policy in the Era of Low Interest Rates"), dass der finanzpolitische Spielraum der Staaten im heutigen Niedrigzinsumfeld weniger stark eingeschränkt sein dürfte als in „normalen" Zeiten mit höheren Zinsen. Laut den Autoren könnte eine schuldenfinanzierte Fiskalpolitik sogar po sitiv für die Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen sein, nämlich genau dann, wenn die dadurch angekurbelte Wirtschaftsleistung (also das BIP) stärker zulegt als die Staatsverschuldung und die daran geknüpften Zinsausgaben. Die beiden Ökonomen kommen daher zu dem Schluss, dass „die fallenden Re alzinsen strukturelle Veränderungen in der Volkswirtschaft widerspiegeln, die ein grundsätzliches Umdenken in der Fiskal- und Wirtschaftspolitik erfordern", auch wenn sie gleichzeitig zu bedenken geben, dass „die Zukunft ungewiss ist und die exakten Gründe für den Rückgang des realen Zinsniveaus nicht eindeu tig geklärt sind". Letztlich hinterfragen sie, ob die orthodoxe Sichtweise auf die von hohen Haus haltsdefiziten und Staatsschulden ausgehenden Gefahren in dem aktuellen Makroumfeld überhaupt noch angebracht ist. Denn aufgrund des weltweiten Phänomens ungenutzter (Produktions-) Kapazitäten und sehr tiefer Zinsen bzw. niedriger Kapitalkosten dürfte laut Furman und Summers der (potenziell durch eine expansive Fiskalpolitik ausgelöste) Verdrängungseffekt privater Investitio nen heutzutage ein viel geringeres Problem darstellen als in der Vergangenheit. -5 0 5 10 15 20 25 60 65 70 75 80 85 90 95 00 05 10 15 20 US JP CA GB DE FR IT G7-Länder: Die Inflation hat sich in den letzten 20 Jahren auf insgesamt niedrigen Niveaus bewegt 72 Verbraucherpreisinflationsrate (%) Quelle: OECD -5 0 5 10 15 20 25 60 65 70 75 80 85 90 95 00 05 10 15 20 US JP CA GB DE FR IT G7 - Länder: Die Staatsanleiherenditen sind tief gefallen 73 Nominale Rendite auf Staatsanleihen mit einer Restlaufzeit von 10 Jahren, % Quelle: OECD -15 -10 -5 0 5 10 60 65 70 75 80 85 90 95 00 05 10 15 20 US JP CA GB DE FR IT Reale Rendite auf Staatsanleihen mit einer Restlaufzeit von 10 Jahren, % Reale Rendite: Anhand der Verbraucherpreisinflationsrate deflationiert. Quellen: OECD, Deutsche Bank Research G7 - Länder: Die realen Anleiherenditen bewegen sich auf niedrigen Niveaus oder sind sogar negativ 74 Die Rückkehr massiver Staatsausgaben: Wird dieses Mal wirklich alles anders? 29 | 4. August 2021 Deutschland-Monitor Darüber hinaus fordern die Ökonomen, dass die Fiskalpolitik dazu übergehen sollte, das Wirtschaftswachstum und die Finanzstabilität in einem stärkerem Maße zu fördern, da (a) die Grenzen der Geldpolitik zur Unterstützung von Wirt schaftswachstum und Vollbeschäftigung im gegenwärtigen „Nullzinsuntergren zen"-Umfeld weitestgehend erreicht sind und (b) die niedrigen Zinsen eine über mäßige Verschuldungsneigung (der Privatwirtschaft) fördern und somit auch die Finanzstabilität gefährden könnten. Daher würde ihrer Meinung nach eine Steigerung der öffentlichen Ausgaben nicht nur zu einem höheren Wachstum und höheren Zinsen beitragen, sondern auch die Finanzstabilitätsrisiken in der Volkswirtschaft senken. Diese Einschät zung könnte man natürlich infrage stellen, indem man (a) zu allererst auf die em pirisch bedingte negative Korrelation zwischen Staatsverschuldungsquote und BIP-Wachstumsrate hinweist und (b) zu bedenken gibt, dass Staatsschulden - die üblicherweise zu großen Teilen vom Bankensystem finanziert werden dürf ten - vielmehr die Finanzstabilitätsrisiken erhöhen dürften. In der Tat wird die bestehende Risikoverbindung zwischen Staaten und Banken („Sovereign banking nexus") in vielen (europäischen) Volkswirtschaften als gro ßes Problem wahrgenommen. Noch höhere Haushaltsdefizite und weiter anstei gende Staatsschulden würden aber vermutlich dazu führen, dass die vom ag gregierten Banksystem gehaltenen Bestände an Staatsschulden noch weiter ansteigen würden und damit letztlich die Risikoverbindung zwischen Staats- und Bankensektor noch weiter verstärkt werden dürfte. Schon jetzt halten viele euro päische Bankensysteme große Bestände an Staatsschulden in ihren Bilanzen (siehe Grafik 51). Ist die Staatsverschuldungsquote auch heute noch ein nützlicher Bewertungs maßstab für die Tragfähigkeit der Staatsfinanzen? Schließlich gelangen Furman und Summers zu der Einschätzung, dass die Staatsverschuldungsquote - nach der konventionellen Lesart eine zentrale Größe in der Tragfähigkeitsanalyse - ein irreführender Indikator für die Bewer tung der staatlichen Haushaltslage eines Landes sei, da sie weder den durch den Zinsrückgang gestiegenen Barwert des BIP noch die durch den (realen) Zinsrückgang gesunkenen Ausgaben für den Schuldendienst abbildet. Zudem sei die Staatsverschuldungsquote auch deshalb irreführend, weil sie eine Bestandsgröße (also den zu einem bestimmten Zeitpunkt bestehenden Staatsschuldenstand - üblicherweise den Jahresendwert) ins Verhältnis zu ei ner Flussgröße (also die innerhalb eines bestimmten Zeitraums erzielte Wirt schaftsleistung - in der Regel das innerhalb eines Kalenderjahres erzielte BIP eines Landes) setzt (siehe hierzu auch das von Dezernat Zukunft mit Jason Furman durchgeführte Interview „I don't love Schuldenquote"). Des Weiteren führen Furman und Summers aus, dass die Staatsverschuldungs quote aus dreierlei Sicht ein ungeeigneter Indikator für die Tragfähigkeitsana lyse ist. Zuallererst berücksichtigt dieser Indikator nicht, dass realistischerweise kein Staat auf der Welt seine gesamten Staatsschulden innerhalb eines Kalen derjahres zurückzahlen muss, sondern seine Verbindlichkeiten vielmehr über ei nen längeren Zeitraum tilgen kann. Zweitens bildet die Staatsverschuldungs quote in keinerlei Hinsicht das (gesunkene) Zinsniveau und die damit einherge henden (niedrigeren) fiskalischen Kosten der Staatsverschuldung (in Form von Zinsausgaben) ab. Und zu guter Letzt handelt es sich bei der Schuldenquote um eine rückwärtsgerichtete Kenngröße. -10 -5 0 5 10 15 10 15 20 25 30 EU27 EA19 DE FR IT ES Schneeball-Effekt*, % BIP Quellen: Europäische Kommission (Debt Sustainability Monitor 2020; Stand: Februar 2021), AMECO, DB Research * Kombinierter, auf die Staatsverschuldungsquote ausgehender Effekt, der sich aufgrund des realen BIP-Wachstums, der Inflationsrate und der staatlichen Zinsausgaben ergibt. EWU: Schuldendynamik der Eurozone dürfte weiterhin von einem negativen Schneeballeffekt profitieren 75 -10 -5 0 5 10 15 10 15 20 25 30 EU27 EA19 DE FR IT ES Nominaler BIP - Effekt, % BIP Quellen: Europäische Kommission (Debt Sustainability Monitor 2020; Stand: Februar 2021), AMECO, DB Research EWU: Schuldenquotensenkender Effekt aufgrund der nominalen BIP - Wachstumsrate 76 Die Rückkehr massiver Staatsausgaben: Wird dieses Mal wirklich alles anders? 30 | 4. August 2021 Deutschland-Monitor Die Autoren sind daher der Ansicht, dass es sinnvoller wäre, die Tragfähigkeit der Staatsverschuldung entweder anhand alternativer Größen zu beurteilen, wie auf Basis einer Fluss-Fluss-Kennzahl (wie z.B. dem Verhältnis zwischen den Zinsausgaben und der Wirtschaftsleistung) oder anhand einer Bestands-Be stands-Kennzahl (wie z.B. dem Verhältnis zwischen den Staatschulden und dem Barwert des BIP 1 ). Mit Blick auf die erste Fluss-Fluss-Kennzahl schlagen Furman und Summers ganz konkret vor, den realen Wert des Schuldendienstes im Verhältnis zum BIP zu betrachten. Der reale Schuldendienst errechnet sich aus den staatlichen Zinsausgaben abzüglich des Anteils der Staatsschulden, der jährlich durch die Inflation „weginflationiert" wird. Dabei leitet sich aus den in den Industrieländern gemachten historischen Erfah rungen eine neue Orientierungsgröße für die nunmehr geltenden Grenzen der Fiskalpolitik ab: Solange die realen Zinsausgaben im Verhältnis zum BIP (Zins ausgabenquote) innerhalb der nächsten zehn Jahre mit hoher Sicherheit unter der Zwei-Prozent-Marke verbleiben werden, können die öffentlichen Finanzen als tragfähig betrachtet werden. Jedoch schränkt Furman zugleich ein, dass auch die Zinsausgabenquote (so wie die Schuldenquote) ein im Prinzip rück wärtsgewandter Indikator ist und diese sich aufgrund von Schwankungen im Zinsniveau mit der Zeit recht volatil entwickeln kann (im Unterschied zur Schul denquote). Letztlich kann man auch anhand dieses Indikators nicht beurteilen, ob ein fiskalpolitischer Kurs nachhaltig ist (d.h. auch zukünftig aufrechterhalten werden kann), da es sich auch hier nur um einen statischen, vergangenheitsbe zogenen Indikator handelt. Die zweite Bestands-Bestands-Kennzahl, also die expliziten Staatsschulden in Relation zum Barwert des BIP, ist unserer Ansicht nach nicht oder zumindest nur eingeschränkt für die Beurteilung der staatlichen Schuldentragfähigkeit ge eignet, da sie für viele Länder die Demografie-bedingte, implizite bzw. ver steckte Schuldenlast außer Acht lässt. Bei den impliziten Verbindlichkeiten des Staates handelt es sich um zukünftig entstehende Staatsschulden, die sich aller Voraussicht nach z.B. aus ungedeckten Leistungsversprechen im umlagefinan zierten staatlichen Rentensystem ergeben dürften. Auch wenn es richtig ist, dass die aktuell und voraussichtlich weiterhin niedrigeren Zinsen den Gegen wartswert des BIP eines Landes steigern 2 und daher auch die Staatsschulden in einer Bestands-Bestands-Betrachtung senken, führt das Niedrigzinsniveau gleichzeitig dazu, dass der Barwert der impliziten Staatsschulden steigt, weil et waige künftige und ungedeckte staatliche Leistungsversprechen nunmehr auch mit einem niedrigeren Zinssatz abgezinst werden müssen (eine weitergehende Analyse erfolgt noch später im Kapitel „Im Land der Alten: Demografischer Druck auf die Staatsfinanzen"). Auch wenn die gegenwärtig niedrigen Zinsen den Staaten die Möglichkeit bietet, öffentliche Investitionen zu günstigen Zinskonditionen zu finanzieren, ändern sie jedoch nicht notwendigerweise die geltenden Spielregeln für die Tragfähigkeit der Staatsverschuldung - insbesondere nicht in jenen Staaten, in denen die ra pide Alterung der Bevölkerung zu perspektivisch ansteigenden Primärdefiziten führt (bzw. eine hohe implizite Staatsverschuldung impliziert). Ob von den nied rigen Zinsen ein positiver Effekt auf die Tragfähigkeit der Staatsverschuldung ausgeht oder nicht, hängt ganz entscheidend davon ab, für welche öffentlichen Ausgabenbereiche etwaige Haushaltsdefizite und steigende Staatsschulden in Kauf genommen werden. Mit Blick auf die Tragfähigkeit sind z.B. defizitfinan zierte öffentliche Investitionen wesentlich unbedenklicher als schuldenfinan zierte Sozialausgaben, da erstere über eine Stärkung des Wachstumspotenzials 1 Der Barwert oder Gegenwartswert des BIP berechnet sich aus der abgezinsten Summe der heute bis in die Unendlichkeit zu erzielenden jährlichen Wirtschaftsleistungen. 2 Dies ist der Fall, weil die zukünftig zu erzielenden jährlichen Wirtschaftsleistungen mit einem nied rigeren Zinssatz abgezinst werden und sie deshalb in einer Barwertbetrachtung ansteigen. -10 -5 0 5 10 15 10 15 20 25 30 EU27 EA19 DE FR IT ES Realer BIP-Effekt, % BIP Quellen: Europäische Kommission (Debt Sustainability Monitor 2020; Stand: Februar 2021), AMECO, DB Research EWU: Schuldenquotensenkender Effekt aufgrund der realen BIP-Wachstumsrate 77 -4 -3 -2 -1 0 1 10 15 20 25 30 EU27 EA19 DE FR IT ES Inflationseffekt, % BIP * Schuldenquotensenkender Effekt aufgrund der Veränderung des BIP - Deflators. Quellen: Europäische Kommission (Debt Sustainability Monitor 2020; Stand: Februar 2021), AMECO, DB Research EWU: Schuldenquotensenkender Effekt aufgrund der Inflationsrate* 78 Die Rückkehr massiver Staatsausgaben: Wird dieses Mal wirklich alles anders? 31 | 4. August 2021 Deutschland-Monitor dazu beitragen dürften, wieder aus den höheren Schulden herauszuwachsen. Aber selbst bei einer defizitfinanzierten Investitionsoffensive, hängt der Erfolg für die Tragfähigkeit schlussendlich ganz entscheidend von zwei Faktoren ab. Erstens hängt er von der tatsächlichen Wirtschaftlichkeit der ausgewählten und umgesetzten öffentlichen Investitionsprojekte ab. In diesem Kontext sei gesagt, dass zwar viele, aber längst nicht alle Investitionsprojekte einen hohen Ausga benmultiplikator ausweisen und damit eine hohe BIP-Steigerungsrate nach sich ziehen dürften. Zweitens hängt es von der Effektivität des Staates bzw. des Re gierungshandelns ab, zusätzliche Haushaltsmittel in hoch produktive und wachstumsfördernde Investitionsvorhaben lenken zu können. Im Falle von ho hen Sickerverlusten bzw. Fehlinvestitionen könnten die Effekte auf die Wirt schaftsleistung deutlich kleiner oder sogar negativ ausfallen (siehe hierzu auch unsere nachfolgende Diskussion zu den nicht-finanziellen Gründen bzw. Hürden des staatlichen Investitionsstaus). Die Staatsschuldenquote ist zwar bei Weitem nicht die einzige, … Selbstverständlich gehört zur Beurteilung der staatlichen Schuldentragfähigkeit weit mehr dazu als nur auf vereinzelte statische Fiskalkennzahlen, wie vergan gene oder aktuelle Schulden- oder Zinsausgabenquoten, zu blicken. Stattdes sen sollte eine Schuldentragfähigkeitsanalyse sich einer dynamischen und mehrdimensionalen Betrachtungsweise anschließen (so wie es bereits in der konventionellen Tragfähigkeitsanalyse der Fall ist). Denn im Grundprinzip geht es schließlich darum, in der Tragfähigkeitsanalyse zu überprüfen, ob der Staat eine Fiskalpolitik betreibt, die noch oder nicht mehr im Einklang mit der intertem poralen Budgetbeschränkung steht. Kurzum: Es geht darum, abschätzen zu können, ob der Staat auch in Zukunft jederzeit zahlungsfähig bleibt oder aber aufgrund eines nicht nachhaltigen fiskalpolitischen Kurses zumindest Zweifel daran bestehen könnten (siehe auch unsere Erläuterungen im vorherigen Kapi tel „Das Konzept zur Schuldentragfähigkeit"). Sehr vereinfacht ausgedrückt kann der fiskalpolitische Kurs eines Staates als tragfähig angesehen werden, wenn: (a) sowohl die Staatsschulden- als auch Zinsausgabenquote mit hoher Wahr scheinlichkeit auf absehbare Zeit nicht außer Kontrolle geraten und (b) die Investoren deshalb auch weiterhin erwarten, dass der Staat seinem Schuldendienst sicher und fristgerecht nachkommen kann bzw. will, sprich zah lungsfähig und zahlungswillig bleiben wird. Die zukünftige Entwicklung der staatlichen Schulden- und Zinsausgabenquoten - zwei entscheidende Größen für die Tragfähigkeit der Staatsfinanzen - hängt dabei von einer Vielzahl von weiteren Indikatoren ab. Zu diesen Einflussgrößen zählen unter anderem: (a) die Wachstumspotenzialrate der Wirtschaft sowie die Zins- und Inflations entwicklung, (b) der zugrunde liegende finanzpolitische Kurs des Staates, der sich im struk turellen Primärsaldo wiederspiegelt, also dem um konjunkturelle Einflüsse und Sondereffekte bereinigten Haushaltssaldo vor Zinsausgaben, (c) die Finanzierungsstruktur der ausstehenden Staatsschulden (durchschnittli che Restlaufzeit der Staatsschulden, Anteil der in Fremdwährung denomi nierten oder von ausländischen Investoren gehaltenen Staatsschulden) (d) der anfängliche bzw. aktuelle öffentliche Schuldenstand. Die Rückkehr massiver Staatsausgaben: Wird dieses Mal wirklich alles anders? 32 | 4. August 2021 Deutschland-Monitor Alle oben genannten - und interdependenten - Indikatoren bestimmen also den weiteren Verlauf der Staatsschulden- und Zinsausgabenquoten (steigend, fal lend oder stabil). Niedrige Zinsen hin oder her: Der anfängliche und zukünftige Schuldenstand bleibt in der Tragfähigkeitsanalyse eine zentrale Kennzahl, denn aus dieser Basisgröße leiten sich schließlich - im Zusammenspiel mit den ande ren Indikatoren - die vom Staat zu leistenden Zinsausgaben ab. Für das weitere Investorenvertrauen in die Zahlungsfähigkeit und Zahlungswilligkeit des Staates ist daher auch weiterhin die (aktuelle und zukünftige) Schuldenquote von ele mentarer Bedeutung. ... aber dennoch eine zentrale Größe zur Beurteilung der staatlichen Schulden tragfähigkeit Zuallererst ist der ausstehende Nennwert der Staatsschulden die für die Zins ausgaben relevante Bezugsgröße. Auch wenn ein niedriges und sinkendes Zinsniveau die Zinsausgaben mindern kann, kann ein abrupter Zinsanstieg (z.B. infolge eines unerwarteten Anstiegs bei der tatsächlichen Inflation sowie den In flationserwartungen) zu einem starken Anstieg der Zinsausgaben führen, sofern der Schuldenstand ausreichend hoch ist. Zum Zweiten erhöht ein bereits hohes und weiter ansteigendes Schuldenniveau (ceteris paribus) tendenziell das Risiko einer staatlichen Liquiditätskrise. Zwar lassen sich die kurzfristigen Liquiditätsrisiken eines hoch verschuldeten Staates über ein günstiges Fälligkeitsprofils senken (z.B. aufgrund eines hohen Schul denanteils, der für einen langen Zeitraum zu niedrigen Zinsen finanziert worden ist). Vollständig verhindern lassen sie sich aber dennoch nicht. Denn tatsächlich wird das Refinanzierungsrisiko bei entsprechend langen Fälligkeitsterminen le diglich in die Zukunft verschoben. Denn auch langfristig finanzierte Schulden müssen irgendwann zurückgezahlt oder zumindest über neue Schulden refinan ziert werden. Und bei einem hohen Schuldenstand wird der Betrag der fällig werdenden Schulden und damit der Refinanzierungsbedarf immer hoch bleiben - unabhängig davon, ob er kurz-, mittel- oder langfristig anfällt. Dies kann man am Beispiel Japans erkennen, das trotz einer hohen durchschnittlichen Rest laufzeit einen recht hohen Refinanzierungsbedarf hat (siehe Grafik 46 und 47). Je höher der bestehende Schuldenstand (ceteris paribus) ist, desto höher fallen die damit verbundenen Umschuldungsrisiken aus - unabhängig davon, ob das Zinsniveau hoch oder niedrig ist bzw. hoch oder niedrig bleibt. Ein schuldenbe dingt hoher Refinanzierungsbedarf - insbesondere, wenn er im Zusammenhang mit einer risikobehafteten Finanzierungsstruktur steht - kann zudem Tür und Tor für multiple Gleichgewichte öffnen. In einem „Goldlöckchen"-Szenario - mit ewig niedrigen Zinsen und einem unerschütterlichen Investorenvertrauen - dürfte schließlich auch ein hoch verschuldeter Staat seinen Schuldendienst jederzeit ohne größere Probleme erfüllen, weil er sich stets günstig am Kapitalmarkt refi nanzieren könnte (gutes Gleichgewicht). Allerdings könnte es auch aufgrund aufkommender Investorensorgen über die hohe Staatsverschuldung zu einem abrupten Vertrauensverlust kommen, der die Risikoprämien/Schuldzinsen - und damit auch die Zinsausgaben des Staates - derart in die Höhe steigen lässt, dass die Staatsschuldendynamik fortan nicht mehr tragfähig wäre (schlechtes Gleichgewicht). In den meisten großen Industrieländern dürften wir uns derzeit wohl (noch) in ei nem guten Gleichgewicht befinden, das durch niedrige Zinsen und hohe Schul den gekennzeichnet ist. Dennoch bleibt es ungewiss, wie lange das niedrige Zinsniveau und damit die für die Staatsfinanzen guten Finanzierungsbedingun gen anhalten werden. In diesem Zusammenhang gehen von der hohen Staats verschuldung nicht unerhebliche Risiken aus, die bei einer Änderung der Zins bedingungen vielerorts nachteilig zu Buche schlagen dürften. Die Rückkehr massiver Staatsausgaben: Wird dieses Mal wirklich alles anders? 33 | 4. August 2021 Deutschland-Monitor So bestehen z.B. für die großen Eurozonen-Länder - deren Zinsausgaben dank eines voraussichtlich weiter anhaltenden Niedrigzinsniveaus noch für längere Zeit niedrig bzw. tragfähig bleiben dürften (siehe Grafiken 67 und 68 sowie den Debt Sustainability Monitor 2020 der Europäischen Kommission) - nicht uner hebliche Zinsänderungsrisiken. Denn in einem Risikoszenario, in welchem sich die implizite Verzinsung der Staatsschulden über die Zeit in Richtung langfristi ger Durchschnittswerte zubewegt (ceteris paribus) (siehe Grafik 79), würden die staatlichen Zinsausgaben mittelfristig wieder ansteigen und die Zinslast in eini gen Länder teils kräftig zunehmen (siehe Grafiken 81). Letztlich würde es in ei nem solchen Zinsschock-Szenario aufgrund des Zusammenspiels zwischen hö heren Zinsen und steigenden Zinsausgaben bzw. Haushaltsdefiziten zu einer spürbaren Verschlechterung der Staatsfinanzen kommen. Im Vergleich zum Niedrigzins-Basis-Szenario der EU-KOM, in dem die Zinsen auf niedrigen Ni veaus bis zum Jahr 2031 fortgeschrieben werden (siehe Grafik 68), entwickeln sich die Schulden- und Zinsausgabenquoten in dem Zinsschock-Szenario we sentlich ungünstiger (vergleiche Grafiken 64 und 67 mit 80 und 81). Schließlich lassen sich auch einige nützliche Informationen zur haushaltspoliti schen Haltung eines Landes aus der Schuldenquote ableiten, da diese die über die Zeit bzw. nach und nach zu Schulden gewordenen strukturellen Finanzie rungsdefizite des Staates widerspiegelt. In gewisser Weise spiegelt die Entwick lung der Staatsschuldenquote wider, in welchem Maße der Staat bzw. seine Wähler dazu fähig bzw. willens waren bzw. sind, laufende öffentliche Ausgaben aus bestehenden (Steuer-) Einnahmen zu bestreiten. Eine hohe und weiter an steigende Staatsschuldenquote könnte man aus diesem Blickwinkel auch als Symptom einer unausgewogenen Finanzpolitik betrachten, die entweder auf ein überdimensioniertes staatliches Ausgabenniveau und/oder eine unzureichende Eintreibung von (Steuer-) Einnahmen zurückgeführt werden kann. Schuldenpolitik an der Nullzinsuntergrenze: Ein alternativer Blick auf mögliche Verdrängungseffekte Auch an der Nullzinsuntergrenze bzw. in einem anhaltenden Niedrigzinsumfeld kann eine expansive Fiskalpolitik trotz eines wahrscheinlich nur geringen Zins anstiegs zu einer Verdrängung privater Investitionen führen. Das liegt vor allem daran, dass die „real" verfügbaren Inputfaktoren zumindest in der kurzen Frist begrenzt sind (wie z.B. das Angebot an qualifizierten Arbeitskräften). Aber auch in der langen Frist kann eine expansive Fiskalpolitik die in der Privatwirtschaft bestehenden Angebotsknappheiten verschärfen, z.B. wenn der Staat in Zeiten von Fachkräftemangel immer mehr Fachkräfte absorbiert. Dies könnte vor allem in den Ländern mit einer ungünstigen demografischen Entwicklung (wie z.B. in Deutschland) zu einem größeren Problem werden. Denn der dort herrschende Fachkräftemangel dürfte sich aufgrund der voranschreitenden Bevölkerungsal terung und einer rückläufigen Erwerbsbevölkerung künftig noch weiter verschär fen. Werden öffentliche Infrastrukturinvestitionen zu stark angekurbelt, mag das zwar vielleicht nicht so sehr zu einem „neoklassischen" Verdrängungseffekt der priva ten Investitionen führen, d.h. die private Investitionstätigkeit über steigende Zin sen und höhere Finanzierungskosten der Privatwirtschaft zurückdrängen. Den noch könnten die privaten Investitionen aber auf anderem Wege ausgebremst werden, nämlich dann, wenn die Privatwirtschaft immer weniger Zugriff auf knappe reale (Arbeits-) Ressourcen hätte. Ein solcher Verdrängungseffekt könnte dann einsetzen, wenn der Staat seine Nachfragepolitik nicht entspre chend durch angebotsstärkende Maßnahmen flankiert, die z.B. auf eine Minde rung des Fachkräftemangels abzielen. Die Baubranche arbeitet schon heute am Rande der Kapazitätsgrenze. Jeder Bauarbeiter oder -ingenieur, der fortan für 0 1 2 3 4 5 6 7 00 05 10 15 20 25 30 EA19 DE FR IT ES NL Impliziter Zinssatz auf die Staatsschulden, % Quellen: Europäische Kommission (Debt Sustainability Monitor 2020; Stand: Februar 2021), AMECO, DB Research Impliziter Zinssatz: Bruttozinsausgaben des Jahres t im Verhältnis zu den Bruttostaatsschulden des Jahres t-1. EWU: Risikoszenario: Bei einem graduellen Zinsanstieg auf langfristige Durchschnittsniveaus ... 79 20 40 60 80 100 120 140 160 180 00 05 10 15 20 25 30 EA19 DE FR IT ES NL Staatsverschuldung, % BIP Quellen: Europäische Kommission (Debt Sustainability Monitor 2020; Stand: Februar 2021), AMECO, DB Research ... würden sich sowohl die staatliche Schulden - als auch ... 80 0 1 2 3 4 5 6 7 00 05 10 15 20 25 30 EA19 DE FR IT ES NL Staatliche Bruttozinsausgaben, % BIP Quellen: Europäische Kommission (Debt Sustainability Monitor 2020; Stand: Februar 2021), AMECO, DB Research ... die Zinsausgabendynamik spürbar verschlechtern 81 Die Rückkehr massiver Staatsausgaben: Wird dieses Mal wirklich alles anders? 34 | 4. August 2021 Deutschland-Monitor den Staat arbeitet, könnte demnach nicht mehr an privaten Bauvorhaben arbei ten - zumindest wenn wir unterstellen, dass die in der Bauwirtschaft tätigen Be schäftigten ihre Wochenarbeitszeit nicht drastisch erhöhen würden und/oder in entsprechendem Umfang zusätzliche Arbeitskräfte aus dem Ausland angewor ben werden könnten. Eine übertrieben starke, abrupte Ausweitung der öffentli chen Investitionsnachfrage würde letzten Endes zumindest teilweise über einen höheren Preisdruck verpuffen. Die mit Blick auf die Bauarbeiter und -ingenieure bestehenden Angebotsengpässe sind hier nur beispielhaft für den in vielen Wirt schaftsbereichen herrschenden Fachkräftemangel genannt. Ein nachfrageseiti ger Investitionsimpuls des Staates wäre nach unserem Dafürhalten nur dann für die Volkswirtschaft vielversprechend, wenn er mit einer entsprechenden Aus weitung der Angebotsseite einherginge (z.B. einer höheren, an die Lebenser wartung gekoppelten Lebensarbeitszeit). In diesem Kontext wäre vor allem eine (teilweise) Gegenfinanzierung des staatli chen Ausgabenbooms über eine weiter steigende Steuerlast für Fachkräfte mit mittleren bis hohen Einkommen - sei es über höhere Einkommensteuern und/ oder steigende Sozialversicherungspflichtbeiträge - eine aus Angebots- und Wachstumssicht kontraproduktive Maßnahme. Denn schon jetzt ist der durch schnittliche Steuer- und Abgabenkeil („Tax wedge") - also die Steuern auf Ar beitseinkommen zuzüglich der von den Arbeitnehmern und Arbeitgebern abge führten Sozialversicherungsbeiträge in Prozent der Arbeitskosten - in vielen eu ropäischen Ländern auf einem sehr hohen Niveau angelangt. Dabei ist dieser in Deutschland und Belgien besonders hoch (siehe auch „OECD Taxing Wedges 2021: Tax wedges in the OECD in the context of COVID-19") (siehe Grafik 83). Eine weiter steigende Steuerbelastung dürfte demnach nicht ohne Konsequen zen für das Arbeitskräfteangebot, den Fachkräftemangel und damit die Wirt schaft bleiben, da es die Arbeitsanreize (mehr und länger zu arbeiten) untermi nieren würde. Schließlich würde in diesem Fall das genaue Gegenteil von dem erreicht werden (ein weiterer Rückgang des Arbeitsangebots), was in einer al ternden Gesellschaft benötigt werden würde (ein gestärktes, aber keinesfalls ein nicht noch deutlicher als ohnehin schon absinkendes Arbeitskräfteangebot). Neben dem Fachkräftemangel gibt es noch ein weiteres Problem, das einer schnellen, reibungslosen und effektiven Umsetzung staatlicher Investitionsvor haben derzeit (noch) entgegensteht: die nicht-finanziellen Investitionshinder nisse und der dadurch entstandene Investitionsstau. Die staatlichen Investiti onsausgaben und -budgets sind in den letzten Jahren in Deutschland bereits spürbar angehoben worden - wenngleich von relativ niedrigen Ausgangsni veaus. Dabei haben nicht fehlende Haushaltsmittel, sondern vielmehr etliche nicht-finanzielle Hürden wie z.B. eine enorme staatliche Bürokratie, hohe Stan dards und/oder aufwändige Genehmigungsverfahren einer noch stärkeren In vestitionsdynamik im Wege gestanden. Aber auch der zunehmende Widerstand von Bürgerbegehren gegen bestimmte öffentliche Investitionsprojekte sowie der bereits erwähnte Fachkräftemangel (unter anderem in der Bauwirtschaft) haben viele öffentliche Investitionen regelrecht ausgebremst. Ein weiteres Problem ist bei der teils unzureichenden Personalausstattung in der öffentlichen Verwaltung angesiedelt. Insbesondere auf der kommunaler Ebene, auf die der weitaus größte Teil der öffentlichen Baumaßnahmen entfällt, fehlt vielerorts das Perso nal, welches für eine zügige Bearbeitung der mit den Investitionsvorhaben ver bundenen administrativen und verwaltungstechnischen Vorgänge benötigt wird (zum Thema des Investitionsstaus siehe auch „Ausblick 2020: Vorsicht, zer brechlich!"). Beim „Digitalpakt Schule" beispielsweise - ein vom Bund finanziertes Förderpro gramm - wurden bis zum Jahresende 2020 effektiv lediglich EUR 488 Mio. ver ausgabt (siehe Bundesministerium für Bildung und Forschung). In Anbetracht der über einen Zeitraum von fünf Jahren bereitgestellten Förderungssumme von EUR 6,5 Mrd. - wovon EUR 3,5 Mrd. für die laufende, bald zu Ende gehende 30 35 40 45 15 17 19 21 23 25 91 95 99 03 07 11 15 19 Abgabenlast* (rechts) Steuereinnahmen (links) Sozialbeiträge (links) * Steuereinnahmen und Sozialbeiträge % BIP Quellen: Statistisches Bundesamt, Deutsche Bank Research DE: Die Abgabenlast ist im letzten Jahrzehnt deutlich angestiegen 82 0 10 20 30 40 50 60 70 BE DE AT FR IT SE PT GR ES NL OECD JP IE GB CA AU US KR CH 100% des durchschnittlichen Arbeitseinkommens 67% des durchschnittlichen Arbeitseinkommens 167% des durchschnittlichen Arbeitseinkommens Durchschnittlicher Steuer - und Abgabenkeil (Tax wedge), % der Arbeitskosten (2020) Quellen: OECD, Deutsche Bank Research OECD: Steuer - und Abgabenkeil für Einzelverdiener ohne Kinder bei unterschiedlichen Einkommensniveaus 83 0 100 200 300 400 500 600 700 800 91 95 99 03 07 11 15 19 Bruttoanlageinvestitionen Staat Nichtstaatliche Sektoren EUR Mrd. Quellen: Statistisches Bundesamt, Deutsche Bank Research DE: Bruttoanlageinvestitionen: Privatwirtschaft vs. Staat 84 Die Rückkehr massiver Staatsausgaben: Wird dieses Mal wirklich alles anders? 35 | 4. August 2021 Deutschland-Monitor Legislaturperiode eingeplant sind - fällt der bisherige Mittelabfluss recht ernüch ternd aus. Angesichts der noch immer vielfach wahrgenommenen Lücken bei der digitalen Infrastrukturausstattung könnte der stockende Mittelabfluss zualler erst auf anhaltende Kapazitätsprobleme in den Kommunalverwaltungen (wie z.B. eine mangelnde Personalausstattung) hindeuten, die einer schnellen Bean tragung und -verwendung dieser Bundesfördermittel im Wege stehen. Aber auch die Bundesregierung hat zuletzt ihre eigenen Planwerte für die Bundesin vestitionen weit unterschritten. So wurden im letzten Jahr von den gemäß der Haushaltsplanung bereitgestellten Investitionsmitteln rund EUR 3,2 Mrd. nicht verausgabt. Damit wurde der Planwert für die Sachinvestitionen des Bundes von rund EUR 14,8 Mrd. im abgelaufenen Haushaltsjahr voraussichtlich um mehr als 20% unterschritten (siehe dazu auch den vorläufigen Haushaltsab schluss 2020). Angesichts der (u.a. im Bausektor) begrenzten Produktionskapazitäten und des nach wie vor nicht beseitigten staatlichen Investitionsstaus wirkt der Umfang der von den großen Parteien im Rahmen des deutschen Bundestagswahlkampf für das nächste Jahrzehnt angekündigten Investitionen sehr ambitioniert. Die schie ren Summen, die von den Parteien allseits ausgerufen werden, bergen mit Blick auf die derzeit begrenzten Möglichkeiten das Risiko von Preissteigerungen (also einer höheren Inflation) und/oder im schlimmsten Fall von öffentlichen Fehlin vestitionen, die das Produktionspotenzial belasten könnten. Z.B. versprechen Bündnis 90/Die Grünen, die öffentlichen Investitionen in den nächsten zehn Jahren dauerhaft um EUR 50 Mrd. pro Jahr zu erhöhen (siehe auch deren Bun destagswahlprogramm 2021). Ähnliche Forderungen kommen von Nobert Wal ter-Borjans, dem Ko-Vorsitzenden der SPD, der vorschlägt, die gesamtstaatli chen Investitionen in den nächsten zehn Jahren dauerhaft um EUR 50 Mrd. pro Jahr anzuheben (siehe FAZ-Artikel vom 17. Mai 2021; Standpunkt: „Kredite sind kein Teufelszeug"). Die SPD ist in ihrem Wahlprogramm zwar auch ambitioniert, wenngleich etwas weniger ehrgeizig. So verspricht sie die investiven Ausgaben des Bundes - also die Sachinvestitionen des Bundes plus Finanzierungshilfen - mindestens auf dem Niveau aus dem Jahr 2020 von rund EUR 50 Mrd. auf rechtzuhalten (siehe auch das Zukunftsprogramm der SPD zur Bundestagswahl 2021). Auch die FDP will die Investitionen fördern, allerdings auf eine andere Art und Weise. In einem Gegenentwurf zu den Investitionsplänen der anderen Parteien wollen die Liberalen die Rahmenbedingungen für die private Investitionstätigkeit in Deutschland verbessern. So soll bis zum Jahr 2025 insbesondere über eine höhere private (und nicht über eine vorrangig staatliche) Investitionstätigkeit die gesamtwirtschaftliche Investitionsquote auf 25% des BIP gesteigert werden (zum Vergleich 2020: 22,1%) (siehe auch das Wahlprogramm der FDP zur Bun destagswahl 2021). Bereits im Mai hatte sich die FDP in einem Positionspapier für einen „Investitionspakt" und massive Steuerentlastungen stark gemacht (siehe FAZ-Artikel vom 9. Mai 2021). Demnach will sie die jährliche Steuerbe lastung der Unternehmen um EUR 60 Mrd. senken, um so den Weg für zusätzli che private Investitionen im Volumen von EUR 120 Mrd. pro Jahr freizumachen. Über einen Zeitraum von fünf Jahren könnte somit über eine gesamte Steu erentlastung von EUR 300 Mrd. zusätzliche private Investitionen von EUR 600 Mrd. angestoßen werden. Die CDU/CSU verspricht mit Blick auf die öffentlichen Investitionen die beste Infrastruktur für Deutschland zu schaffen. Konkret sollen dazu die Rekordinvestitionen in die Infrastruktur verstetigt werden (siehe das gemeinsame Wahlprogramm der CDU/CSU zur Bundestagswahl 2021). Wie groß der Widerspruch zwischen den politischen Zielwerten und der Wirk lichkeit ist, wird anhand der nachfolgenden Zahlen zu den öffentlichen Anlagein vestitionen mehr als deutlich. Angesichts der insgesamt sehr ambitionierten In vestitionspläne der Parteien sei daran erinnert, dass die gesamten Brutto-Anla 0 5 10 15 20 25 30 91 95 99 03 07 11 15 19 Bruttoanlageinvestitionen Staat Nichtstaatliche Sektoren % BIP Quellen: Statistisches Bundesamt, Deutsche Bank Research DE: Bruttoanlageinvestitionen: Privatwirtschaft vs. Staat 85 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 91 95 99 03 07 11 15 19 Sonstige Anlagen Bau Ausrüstungen Bruttoanlageinvestitionen Staatliche Bruttoanlageinvestitionen, EUR Mrd. Quellen: Statistisches Bundesamt, Deutsche Bank Research DE: Die öffentlichen Investitionen sind in den letzten Jahren sehr stark gewachsen 86 0,0 0,5 1,0 1,5 2,0 2,5 3,0 3,5 91 95 99 03 07 11 15 19 Sonstige Anlagen Bau Ausrüstungen Bruttoanlageinvestitionen Staatliche Bruttoanlageinvestitionen, % BIP Quellen: Statistisches Bundesamt, Deutsche Bank Research DE: Der Großteil der öffentlichen Investitionen entfällt nach wie vor auf die Bauinvestitionen 87 Die Rückkehr massiver Staatsausgaben: Wird dieses Mal wirklich alles anders? 36 | 4. August 2021 Deutschland-Monitor geninvestitionen des Staates (Bund, Bundesländer, Kommunen und Sozialversi cherungsträger) im Kalenderjahr 2020 „lediglich" um die EUR 90 Mrd. (oder ca. 2,7% des BIP) betrugen (siehe Grafiken 86 und 87). Daher würde eine dauer hafte Steigerung der öffentlichen Investitionen um EUR 50 Mrd. pro Jahr (wie von Bündnis 90/Die Grünen vorgeschlagen) einer gewaltigen Steigerungsrate von mehr als 50% gleichkommen. Ein solch hoher Anstieg innerhalb nur eines Jahres wäre realistischerweise nicht oder wenn überhaupt nur sehr schwer zu erreichen. Zudem müsste das dann deutlich höhere Investitionsniveau auch noch über die nächsten zehn Jahre gehalten werden. Mit Blick auf die von der FDP in ihrem Positionspapier verkündeten Vorschläge zu den privaten Investitionen sei in Erinnerung gerufen, dass sich diese im ab gelaufenen Jahr auf EUR 647,3 Mrd. (oder ca. 19,4% des BIP) beliefen (siehe Grafiken 84 und 85). Eine Erhöhung der privaten Investitionen um EUR 120 Mrd. pro Jahr würde einen Anstieg um fast 20% voraussetzen. Zudem müsste die Investitionstätigkeit auf dem dann deutlich höheren Investitionsniveau auch noch gehalten werden. Auch mit Blick auf die in dem Wahlprogramm avisierte gesamtwirtschaftliche Investitionsquote von 25% bis zum Jahr 2025 (zum Ver gleich 2020: 22,1%) wäre innerhalb der nächsten fünf Jahre noch immer eine „Investitionslücke" von knapp 3% zu schließen. Aufgrund (a) der großen Diskrepanz zwischen Anspruch (den politischen Ziel vorgaben) und der Wirklichkeit (dem tatsächlichem Investitionsniveau) sowie (b) den weiterhin erheblichen, nicht-finanziellen Investitionshindernissen - die wohl kaum über Nacht gelöst werden dürften - gibt es berechtigte Zweifel daran, dass die politisch ausgerufenen Mehrausgaben für die öffentliche Investitionstä tigkeit sich nicht wie gewünscht derart schnell, reibungslos und vollumfänglich in höheren „realen" (preisbereinigten) Investitionsausgaben niederschlagen wer den. Vielmehr besteht angesichts der obigen Diskrepanz ganz konkret das Ri siko von staatlich ausgelösten Preissteigerungen und Fehlinvestitionen. Aus diesem Grund besteht ein nicht unerhebliches Risiko darin, dass eine solch ex pansiv ausgerichtete Investitionspolitik nicht nur ihr ursprüngliches Versprechen verfehlt, sondern darüber hinaus noch negative wirtschaftliche Auswirkungen (wie z.B. eine höhere Inflation) nach sich zieht. Die Gefahren: Ein nachlassender haushaltspolitischer Rückenwind und schmerzhafte Inflationsüberraschungen Der aktuelle Status quo von hohen/steigenden öffentlichen Schulden, der bis lang durch ein negatives Zins-Wachstumsdifferenzial begünstigt wurde, könnte unserer Ansicht nach durchaus noch eine Weile bestehen - vorausgesetzt, dass die Verbraucherpreisinflation (strukturell) niedrig bleibt und die Inflationser wartungen gut verankert bleiben. Die niedrigen - und in einigen Ländern sogar negativen - Realzinsen tragen zwar einerseits zur Stabilisierung der öffentlichen Finanzen bei, führen aber auf der anderen Seite zu einer offenkundig weit ver breiteten Fehleinschätzung, dass die intertemporale Budgetbeschränkung nicht mehr gilt. Diese trügerische Fehleinschätzung, den aktuellen Status quo für die Zukunft fortzuschreiben, birgt erhebliche Risiken, da sie zu einer übermäßig ris kanten und nicht nachhaltigen Wirtschafts- und Finanzpolitik verleitet. Wir warnen davor, den haushaltspolitischen Rückenwind zu überschätzen, der derzeit (noch) von den niedrigen Zinsen ausgeht. Denn zum einen sind die lang fristigen (nominalen) Staatsanleiherenditen bereits schon jetzt recht niedrig (und in einigen Fällen sogar negativ), sodass ein weiterer Rückgang des Zinsniveaus weniger wahrscheinlich wird. (Mit Blick auf die von uns geforderte Vorsicht in der Fiskalpolitik würden die Schuldenbefürworter mit Sicherheit das Argument anführen, dass jene Staaten mit negativen Finanzierungskosten die Staats schulden auch deshalb steigern sollten, weil dies dem Staat sogar Zusatzein nahmen bescheren würde.) 30 35 40 45 50 55 200 220 240 260 280 300 320 340 360 91 95 99 03 07 11 15 19 Staatliche Bauinvestitionen (rechts) Bauinvestitionen (Volkswirtschaft insgesamt) (links) Private Bauinvestitionen (links) EUR Mrd. (real; in Preisen von 2015) Quellen: Statistisches Bundesamt, Deutsche Bank Research DE: Entwicklung der realen Bauinvestitionen 88 55 60 65 70 75 80 60 70 80 90 100 110 120 91 95 99 03 07 11 15 19 Impliziter Deflator for die Bauinvestitionen insgesamt, Index (2015=100) (links) Auslastungsgrad im Baugewerbe (Saldo der Umfragemeldungen, %) (rechts) DE: Bauinvestitionen vs. Kapazitäts auslastung 89 Quellen: Statistisches Bundesamt, ifo, Deutsche Bank Research 0 25 50 75 100 125 150 175 200 60 65 70 75 80 85 90 95 00 05 10 15 20 US JP GB EA % BIP Quellen: OECD, Deutsche Bank Research Die eng definierte Geldmenge ist in den großen Volkswirtschaften deutlich gestiegen 90 Die Rückkehr massiver Staatsausgaben: Wird dieses Mal wirklich alles anders? 37 | 4. August 2021 Deutschland-Monitor Zweitens ist der größte Teil der durch die niedrigen Zinsen entstandenen Haus haltsentlastungen bereits eingetreten, da die impliziten Zinssätze vermutlich nicht viel weiter fallen werden, bevor sie sich auf niedrigen Niveaus stabilisieren dürften. Drittens dürfte die Wachstumspotenzialrate in vielen großen Volkswirt schaften schon bald aufgrund der schnellen Bevölkerungsalterung fallen und damit perspektivisch die Staatshaushalte belasten. Und schließlich besteht ein „Tail risk" darin, dass das Zinsen (sowohl die risikofreien Zinssätze als auch die für das Zahlungsausfallrisiko zu zahlenden Risikoprämien) kräftig ansteigen könnten. Ein solcher Zinsanstieg könnte durch einen überraschenden Inflationsanstieg (z.B. aufgrund einer übermäßig expansiven Geld- und Fiskalpolitik, Demografie bedingter Angebotsengpässe am Arbeitsmarkt und/oder eines Abflauens disin flationärer Kräfte) und/oder eine Neubewertung der staatlichen Zahlungsausfall risiken durch die Kapitalmarktanleger ausgelöst werden. In der Tat ist die Ver braucherpreisinflation in einigen großen Industrieländern (wie z.B. den Vereinig ten Staaten oder Deutschland) in jüngster Zeit sehr stark angestiegen, auch wenn viele Beobachter weiterhin davon ausgehen, dass der derzeitige, in be sonderem Maße durch Sonderfaktoren getriebene Inflationssprung nur vorüber gehend sein wird. Dennoch fürchten einige Ökonomen, dass die aktuell höhere Inflation länger als erwartet anhalten könnte (siehe Grafiken 41, 130 und 131) und im schlimmsten Fall in einer strukturell höheren Inflation münden könnte. Eine höhere Inflation wiederum würde jedoch die Fortführung der derzeitigen, unheilvollen Allianz zwischen Geld- und Finanzpolitik gefährden, in der die großen Zentralbanken für die Wirtschaft im Allgemeinen und für die Staaten im Besonderen für anhal tend günstige Finanzierungsbedingungen sorgen und somit die auf wackeligen Füßen stehenden öffentlichen Finanzen stabilisieren. Zugegebenermaßen ist die Verbraucherpreisinflation trotz der ultra-expansiven Geldpolitik (siehe Grafiken 2 und 3) und einer damit verbundenen starken Aus weitung der eng definierten Geldmenge (siehe Grafik 90) im letzten Jahrzehnt auf historisch niedrigen Niveaus geblieben (siehe Grafik 72). Es ist jedoch noch weitestgehend ungeklärt, warum sich die deutliche Ausweitung der Geldbasis bisher (noch) nicht spürbar inflationär ausgewirkt hat. Im Allgemeinen werden starke disinflatorische Kräfte und das Horten von Zentralbankgeld innerhalb des Finanzsystems (z.B. über den Kauf von Finanzwerten) als die Hauptgründe da für ausgemacht, dass die Inflation trotz einer sehr expansiven Geldpolitik auch weiterhin niedrig geblieben ist. Die disinflationären Kräfte dürften insgesamt sehr vielschichtig sein und dabei unter anderem auf eine in alternden Gesell schaften erhöhte Sparneigung zurückgehen, die den privaten Konsum dämpft. Eine Messgröße, die die Hypothese des Hortens im Finanzsystem unterstützt, ist z.B. das Verhältnis zwischen der weit (M3) und eng gefassten Geldmenge (M1). Wie man auf Basis langfristiger OECD-Zeitreihen in Grafik 91 sieht, hat sich das Verhältnis zwischen M3 und M1 seit der globalen Finanzkrise vor über zehn Jahren in allen großen entwickelten Volkswirtschaften deutlich nach unten bewegt. Dieser Rückgang impliziert, dass die drastische Ausweitung der engen Geldmenge - angekurbelt durch einen Anstieg der Geldbasis bzw. Zentralbank geldmenge (M0) - nur einen unterproportionalen Anstieg der für die Inflations entwicklung maßgeblicheren breiten Geldmenge nach sich gezogen hat. Dennoch gibt es keine Garantie dafür, dass das Horten ewig weitergeht. Daher besteht zumindest ein „Tail risk", dass der starke Anstieg der eng gefassten Geldmenge noch zu einem späteren Zeitpunkt die weit gefasste Geldmenge und damit auch die Verbraucherpreisinflation in die Höhe treiben könnte. Man che Ökonomen fürchten, dass sich schon jetzt eine durch die expansive Geld politik ausgelöste höhere Inflation anbahnt. 1 2 3 4 5 6 60 65 70 75 80 85 90 95 00 05 10 15 20 US JP GB EA Quellen: OECD, Deutsche Bank Research Weit definierte Geldmenge zu eng definierter Geldmenge, Verhältniswert Die Geldmengen-Multiplikatoren zeigen noch immer nach unten 91 0 500 1.000 1.500 2.000 2.500 3.000 3.500 99 01 03 05 07 09 11 13 15 17 19 21 FR IT ES IE GR PT Risikoaufschläge auf Staatsanleihen mit 10 - jähriger Restlaufzeit, Bp. gg. Deutschland Quellen: Haver Analytics, Deutsche Bank Research EWU: Während der Europäischen Staatsschuldenkrise sind die Risiko - aufschläge in die Höhe geschossen 92 0 100 200 300 400 500 600 700 800 17 18 19 20 21 FR IT ES IE GR PT Risikoaufschläge auf Staatsanleihen mit 10 - jähriger Restlaufzeit, Bp. gg. Deutschland Quellen: Haver Analytics, Deutsche Bank Research EWU: Derzeit liegen die Risiko - aufschläge auf Staatsanleihen auf niedrigen Niveaus 93 Die Rückkehr massiver Staatsausgaben: Wird dieses Mal wirklich alles anders? 38 | 4. August 2021 Deutschland-Monitor Der Irrglaube: Zahlungsausfallrisiken gehören der Vergangenheit an und für die Fiskalpolitik gibt es fortan keine (Haushalts-) Grenzen mehr Abgesehen von den Inflations- und Zinsänderungsrisiken blenden die Schulden befürworter oftmals die Tatsache aus, dass auch weiterhin ein Zusammenhang zwischen den Staatsanleiherenditen und dem staatlichen Verschuldungsniveau eines Landes besteht. Denn so hat die EZB im Grunde genommen die im Kri senjahr 2020 aufgelaufenen Finanzierungsdefizite der Mitgliedstaaten mehr oder weniger fast vollständig finanziert (siehe Grafik 100), was dazu geführt hat, dass sie mittlerweile so viele Staatsschulden wie nie zuvor in ihre Bilanz genom men hat (siehe Grafiken 94, 95 und 99). Man kann sich daher leicht ausmalen, dass viele Staaten irgendwann aufwachen und der bitteren finanzpolitischen Realität ins Auge blicken müssen, sobald diese Geldspritzen wieder verringert werden (müssen). Des Weiteren ist es ein Irrglaube, dass staatliche Zahlungsausfallrisiken der Vergangenheit angehören und es für die Fiskalpolitik fortan keine (ökonomi schen) Haushaltsgrenzen mehr gibt. Denn selbst im gegenwärtigen Niedrigzins umfeld treibt eine höhere Staatsverschuldung in der Tendenz die staatlichen Ri sikoprämien nach oben. Sicherlich ließe sich argumentieren, dass die Risikoauf schläge auf die Staatsanleihen der hoch verschuldeten Euroländer derzeit doch recht niedrig sind (siehe Grafik 93). Dennoch darf man nicht vergessen, dass der Rückgang der Risikoprämien im Zuge der massiven geldpolitischen Unter stützungsmaßnahmen der EZB erfolgt ist (siehe Grafiken 97 und 98). Zudem wissen wir aus früheren Krisen (wie z.B. der europäischen Staatsschuldenkrise), dass es an den Kapitalmärkten zu einer plötzlichen Neubewertung bzw. Umbe wertung staatlicher Zahlungsausfallrisiken kommen kann (siehe Grafik 92). In diesem Zusammenhang schreiben Marcos Chamon und Jonathan D. Ostry in einem aktuellen IWF-Blogpost zum Thema „A Future with High Public Debt: Low-for-Long Is Not Low Forever", dass „die Geschichte zahlreiche Beispiele dafür geliefert hat, dass die Finanzierungskosten abrupt steigen können, sobald sich die Markterwartungen ändern," und dass „Theorie und Geschichte gezeigt haben, dass die Investoren Länder schnell abstrafen, sobald sie sich um deren finanzpolitischen Spielraum zu sorgen beginnen". 0 5 10 15 20 25 30 35 40 15 16 17 18 19 20 EA19 DE FR IT ES NL Quellen: EZB, Eurostat, AMECO, Haver Analytics, Deutsche Bank Research Kumulierte Staatsschuldenankäufe der EZB*, in % der ausstehenden Staatsschulden * im Rahmen der PSPP - und PEPP - Ankaufprogramme EWU: Staatsschuldenankäufe durch die EZB im Rahmen der PSPP - und PEPP - Ankaufprogramme 94 0 5 10 15 20 25 30 35 15 16 17 18 19 20 EA19 DE FR IT ES NL Quellen: EZB, Eurostat, AMECO, Haver Analytics, Deutsche Bank Research Kumulierte Staatsschuldenankäufe der EZB*, in % des BIP * im Rahmen der PSPP - und PEPP - Ankaufprogramme EWU: Die EZB hält Staatsschulden im Wert von rund 25% der Wirtschafts - leistung in der Eurozone 95 -5 0 5 10 15 20 25 16 17 18 19 20 EA19 DE FR IT ES NL Quellen: EZB, Eurostat, AMECO, Haver Analytics, Deutsche Bank Research * im Rahmen der PSPP - und PEPP - Ankaufprogramme Kumulierte Staatsschuldenankäufe der EZB*, in % der staatlichen Primärausgaben EWU: Implizite Unterstützung der Staatshaushalte in der Eurozone durch die EZB 96 0 500 1.000 1.500 2.000 2.500 3.000 3.500 4.000 4.500 0 50 100 150 200 250 300 350 400 15 17 19 21 Zu geldpol. Zwecken gehaltene Wertpapiere FR IT ES PT Risikoaufschläge auf Staatsanleihen: Für Anleihen mit einer Restlaufzeit von 10 Jahren und gg. Deutschland. Risikoaufschlag in Basispunkten (links), Von der EZB gekaufte Wertpapiere in EUR Mrd. (rechts) Quellen: EZB, Bloomberg Finance LP, Haver Analytics, WEFA, Deutsche Bank Research EWU: Risikoaufschläge auf Staats - anleihen vs. Wertpapierkäufe der EZB zu geldpolitischen Zwecken 97 0 500 1.000 1.500 2.000 2.500 3.000 0 50 100 150 200 250 300 350 400 15 17 19 21 Wertpapiere des öffentlichen Sektors (PSPP) FR IT ES PT Risikoaufschläge auf Staatsanleihen: Für Anleihen mit einer Restlaufzeit von 10 Jahren und gg. Deutschland. Risikoaufschlag in Bp. (links), Wertpapieräufe im Rahmen von PSPP in EUR Mrd. (rechts) Quellen: EZB, Bloomberg Finance LP, Haver Analytics, WEFA, Deutsche Bank Research EWU: Risikoaufschläge auf Staats - anleihen vs. EZB - Wertpapierkäufe im Rahmen des PSPP - Programms 98 Die Rückkehr massiver Staatsausgaben: Wird dieses Mal wirklich alles anders? 39 | 4. August 2021 Deutschland-Monitor Daher könnte ein weiterer und sorgloser Anstieg der Staatsverschuldung schlimmstenfalls in einer sich selbst verstärkenden, explosionsartigen Spirale aus höheren Schulden und steigenden Risikoaufschlägen münden und die Staatsverschuldung somit letztlich untragbar werden. Daniel Gros und Cinzia Al cidi zeigen, dass „unter realistischen Parameterkonstellationen eine Schulden quote von 130% des BIP einen kritischen Schwellenwert markiert", um welchen die Grenze zwischen (noch) tragfähigen und nicht (mehr) tragfähigen Staatsfi nanzen sehr dünn wird. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass „niedrige risikofreie Zinssätze keine Begründung dafür liefern sollten, die Staatsverschul dung über einen gewissen Schwellenwert anzuheben" (siehe auch ihre Publika tion „Public debt and the risk premium: A dangerous doom loop"). Diese Einschätzung ist von großer Bedeutung für die Fiskalpolitik, da die Schul denquoten in einigen Eurostaaten entweder bereits deutlich (Italien, Griechen land) oder leicht (Portugal) über diesem kritischen Schwellenwert liegen. Vor diesem Hintergrund plädieren Clemens Fuest und Daniel Gros zum einen dafür, dass die hoch verschuldeten Staaten des Euroraums das günstige Zinsumfeld dazu nutzen sollen, bei der Konsolidierung ihrer Staatsfinanzen Fortschritte zu machen (und nicht dazu, eine defizitbetriebene Fiskalpolitik fortzuführen). Zum anderen schlagen sie vor, dass die (moderat verschuldeten) Staaten mit einem über die letzten Jahre niedrigen öffentlichen Investitionsniveau die günstige Zins-Wachstumsdifferenz für einen einmaligen Anstieg der Investitionen nutzen sollten. Gleichzeitig warnen Fuest und Gros davor, „die institutionellen Regelun gen zur Begrenzung der Staatsverschuldung in Europa infrage zu stellen", da „ein größerer Verschuldungsspielraum nicht notwendigerweise für staatliche Mehrinvestitionen genutzt werden würde und die auf die Staatsschulden zu zah lenden Risikoprämien ansteigen würden". Dies konnte vor allem in den hoch verschuldeten Volkswirtschaften zu einer höheren - und damit einer für die Tragfähigkeit ungünstigeren - Zins-Wachstumsdifferenz führen (siehe dazu auch ihre Studie „Government Debt in Times of Low Interest Rates: The Case of Europe"). Umkehrungsrisiko: Wenn die negative Zins-Wachstumsdifferenz plötzlich ins Positive dreht Obwohl das Zins-Wachstumsdifferenzial in den meisten großen Volkswirtschaf ten voraussichtlich weiterhin negativ bleibt (siehe Grafiken 44 und 70), sollten sich die Staaten auf eine Verschlechterung der finanziellen Rahmenbedingun gen vorbereiten. Ein Blick in die Vergangenheit zeigt nämlich, dass es auch län gere Phasen gab, in denen die Zins-Wachstumsdifferenz positiv war. Aus den verfügbaren Daten kann man nicht ableiten, dass die Zins-Wachstumsdifferenz in der Vergangenheit öfter negativ als positiv war. Auch wenn in den Vereinigten Staaten die auf Basis laufender Marktzinsen (Staatsanleiherenditen) berechnete Zins-Wachstumsdifferenz in der Vergangenheit öfter negativ als positiv ausge fallen sein mag (siehe hierzu auch Olivier Blanchard), trifft dies für die meisten europäischen Länder (wie z.B. Deutschland oder Italien) nicht zu (siehe Grafi ken 102 und 103). Der Zeitraum, über den die europäischen Zins-Wachstums differenzen deutlich negativ ausfielen, beschränkt sich hauptsächlich auf die 1970er Jahre. Damals trug vor allem eine stark steigende - über den langfristi gen Zinssätzen liegende - Verbraucherpreisinflation dazu bei, dass die realen (preisbereinigten) Zinssätze deutlich negativ wurden (siehe Grafiken 72, 73 und 74). Wie bereits einige unerwartete Ereignisse der jüngsten Vergangenheit ge zeigt haben (wie z.B. die globale Finanzkrise oder die europäischen Staats schulden), kann es letztlich sehr gefährlich sein, die aktuell niedrigen bzw. ne gativen Zins-Wachstumsdifferenzen in die Zukunft fortzuschreiben. In diesem Zusammenhang zeigt eine für Deutschland durchgeführte, empirische Analyse des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Ent wicklung, dass das zugrunde liegende Umkehrrisiko in vergangenen Phasen mit 0 50 100 150 200 250 GR IT PT ES FR BE EA19 AT DE FI IE NL Staatsschulden (ohne kumulierte EZB-Käufe) Kumulierte EZB-Käufe Staatsschulden Quellen: EZB, Eurostat, AMECO, Haver Analytics, Deutsche Bank Research EZB - Staatsschuldenbestand: Im Rahmen der PSPP - und PEPP - Programme gehaltene Wertpapiere. Staatsverschuldung, % BIP (2020) EWU: Die EZB ist zu einem großen Gläubiger der Eurozonen - Staaten geworden 99 -15 -10 -5 0 5 10 15 ES GR IT BE FR AT EA19 PT FI IE NL DE Finanzierungssaldo EZB-Käufe (jährlich) Finanzierungssaldo (nach EZB-Käufen) Werte für das Jahr 2020, % BIP Quellen: EZB, Eurostat, AMECO, Haver Analytics, Deutsche Bank Research * im Rahmen der PSPP - und PEPP - Ankaufprogramme EWU: Jährlicher Ankauf von Staats - schulden durch die EZB* in Relation zum öffentlichen Haushaltsdefizit 100 0 5 10 15 20 25 PT ES IT GR IE EA19 BE DE FR AT NL FI % Staatseinnahmen % Staatsausgaben % Primärausgaben Werte für das Jahr 2020 Quellen: EZB, Eurostat, AMECO, Haver Analytics, Deutsche Bank Research * im Rahmen der PSPP - und PEPP - Ankaufprogramme EWU: Jährlicher Ankauf von Staats - schulden durch die EZB* im Kontext der staatlichen Einnahmen/Ausgaben 101 Die Rückkehr massiver Staatsausgaben: Wird dieses Mal wirklich alles anders? 40 | 4. August 2021 Deutschland-Monitor einer negativen Zins-Wachstumsdifferenz oftmals erheblich war (siehe auch die Publikation „Die Schuldenbremse: Nachhaltig, Stabilisierend, Flexibel"). So hat der Sachverständigenrat unter anderen für den Zeitraum 1946 bis 2016 das his torische Umkehrrisiko für die Zins-Wachstumsdifferenz berechnet. Dazu hat er zwei Szenarien betrachtet. Im ersten Szenario hat er die bedingte Wahrschein lichkeit einer Umkehrung (der Zins-Wachstumsdifferenz) in allen fünf der nächs ten fünf Jahre bzw. in allen fünf Jahren der Jahre sechs bis zehn berechnet. Im zweiten Szenario, in dem moderatere Anforderungen gestellt wurden, hat er die bedingte Wahrscheinlichkeit dafür berechnet, dass sich die Zins-Wachstumsdif ferenz in drei der nächsten fünf Jahre umgekehrt oder sich in den Jahren sechs bis zehn eine Umkehrung in drei von fünf Jahren eingestellt hat. Die oben be schriebene Analyse wurde ebenso für Frankreich, Italien und Spanien durchge führt. Im ersten Szenario belief sich das durchschnittliche Umkehrrisiko der Zins-Wachstumsdifferenz im Durchschnitt der vier Länder (Deutschland, Frank reich, Italien und Spanien) auf 14,8% (in fünf Jahren) bzw. 40,8% (in zehn Jah ren). Im zweiten Szenario fiel das Umkehrrisiko aufgrund der moderateren An forderungen noch deutlich größer aus: So betrug es im Länderdurchschnitt 45,1% (in fünf Jahren) bzw. 59,5% (in sechs bis zehn Jahren). Für weiterge hende Erläuterungen zur angewandten Methodik des Sachverständigenrates sei auch auf den Kasten 13 und die Tabelle 17 auf Seite 261 in der oben ge nannten Publikation verwiesen. -15 -10 -5 0 5 10 15 70 75 80 85 90 95 00 05 10 15 20 US JP DE FR IT Quellen: OECD, Deutsche Bank Research Zins-Wachstumsdifferenz auf Basis laufender Marktzinsen in den großen OECD-Staaten 102 Prozentpunkte (auf Basis von Staatsanleiherenditen; Anleihen mit einer Restlaufzeit von 10 Jahren) -20 -15 -10 -5 0 5 10 15 70 75 80 85 90 95 00 05 10 15 20 US JP DE FR IT Quellen: OECD, Deutsche Bank Research Zins - Wachstumsdifferenz auf Basis impliziter Zinsen in den großen OECD - Staaten 103 Prozentpunkte (auf Basis impliziter Zinsen) Die Rückkehr massiver Staatsausgaben: Wird dieses Mal wirklich alles anders? 41 | 4. August 2021 Deutschland-Monitor Die Probleme: Abnehmende fiskalische Transparenz, Schuldenillusion und mo ralisches Fehlverhalten Eine sich möglicherweise verfestigende „Schuldenillusion" stellt eine weitere Be drohung für die Tragfähigkeit der Staatsfinanzen dar. Angesichts der in vielen Euroländern unter heftigen Finanzdruck geratenen öffentlichen Haushalte und der Tatsache, dass die Staatsanleihekäufe der EZB über die Zeit zunehmend an politische, juristische und ökonomische Grenzen gestoßen sind, ist es aus Sicht der Mitgliedstaaten verlockend, die nationalen - und damit im eigenen Verantwortungsbereich liegenden - fiskalischen Belastungen und Herausforde rungen auf die gemeinsame europäische Ebene zu verlagern. In diesem Zu sammenhang sei auf die gemeinsamen europäischen Fiskalanstrengungen und -pläne im Rahmen des neu geschaffenen EU-Wiederaufbaufonds (NGEU) ver wiesen. Dieser auf EU-Ebene angesiedelte Fonds verfügt über ein Finanzvolu men von EUR 750 Mrd. (ca. 6% des BIP der EU-27 im Jahr 2020). Rund die Hälfte davon (ca. EUR 390 Mrd. oder 3% des BIP) soll dabei in Form von „nicht rückzahlbaren Zuschüssen" an die jeweiligen Mitgliedstaaten weiter gereicht werden (siehe Grafiken 104 und 105). 3 Zur Mittelbeschaffung wurde die 3 Das Herzstück des NGEU bildet die sogenannte Aufbau- und Resilienz-Fazilität mit einem Volu men von EUR 672,5 Mrd. (Recovery and Resilience Facility - RRF). ReactEU ist mit einem Volu men von EUR 47,5 Mrd. das zweitgrößte Programm. -100 -75 -50 -25 0 25 50 75 100 ES IT GR PL RO PT HR BG SK HU CZ LT LV CY EE SI MT LU FI AT IE SE DK BE NL FR DE Zuschuss Rückzahlung Nettozuschuss Quellen: Bundesrechnungshof, Eurostat, Deutsche Bank Research Erwartete Einnahmen und Rückzahlungsverpflichtungen aus dem EU - Wiederaufbaufonds, EUR Mrd. EU - Wiederaufbaufonds: Spanien und Italien erhalten voraussichtlich die höchsten Zuschüsse 104 -5 0 5 10 15 20 HR BG GR SK PT RO LV ES LT CY HU PL IT EE CZ SI MT FR SE AT FI IE NL DE LU DK BE Zuschuss Rückzahlung Nettozuschuss Quellen: Bundesrechnungshof, Eurostat, Deutsche Bank Research Erwartete Einnahmen und Rückzahlungsverpflichtungen aus dem EU - Wiederaufbaufonds, % BIP (2020) EU - Wiederaufbaufonds: Relativ zur Wirtschaftsleistung erhalten voraussichtlich Kroatien, Bulgarien und Griechenland die höchsten Zuschüsse 105 Die Rückkehr massiver Staatsausgaben: Wird dieses Mal wirklich alles anders? 42 | 4. August 2021 Deutschland-Monitor EU-KOM im Namen der EU beauftragt, gemeinsame Schuldtitel am Kapital markt zu begeben. Es wurde entschieden, dass die dadurch auf EU-Ebene an fallenden Finanzierungsdefizite und Schulden in keinerlei Weise in die nationa len Maastricht-Kennzahlen zum öffentlichen Finanzierungssaldo und zur Staats verschuldung einfließen werden. Aus Transparenzgesichtspunkten wäre es na heliegend gewesen, die auf der europäischen Ebene entstandenen Defizite und Schulden den jeweiligen Mitgliedstaaten in irgendeiner Weise (z.B. anhand der nationalen Finanzierungsanteile am EU-Haushalt) zuzurechnen. Der Präsident der Deutschen Bundesbank, Jens Weidmann, warnte im letzten Jahr in einer Rede davor, dass eine Verlagerung der Staatsschuldenfinanzie rung auf die europäische Ebene eine Art „Schuldenillusion" nähren könnte (siehe auch „Der geforderte Staat" vom 2. September 2020). Die Deutsche Bundesbank hatte schließlich in ihrem Monatsbericht vom De zember 2020 eine Analyse „Zur Aussagekraft nationaler Fiskalkennzahlen bei Verschuldung auf der europäischen Ebene" vorgelegt und den Anteil der EU Schulden quantifiziert (EU-Wiederaufbaufonds, sonstige auf die EU-Ebene ver lagerte und in den nationalen Statistiken „versteckte" Schulden), der in einer ökonomischen Betrachtung dem deutschen Staat zugeordnet werden müsste. Bei einem unterstellten Finanzierungsanteil Deutschlands von rund einem Vier tel würden die aus der gemeinsamen europäischen Verschuldung resultieren den Finanzverbindlichkeiten die deutsche Staatsverschuldung nach Schätzun gen der Deutschen Bundesbank um etwa EUR 280 Mrd. oder rund 8% des deutschen BIP erhöhen. Zum Vergleich: Die offiziell ausgewiesene Staatsver schuldungsquote Deutschlands lag Ende 2020 bei knapp 70% des BIP. Da eine solche analytische Zurechnung aber weder für Deutschland noch die anderen Mitgliedstaaten erfolgt, dürften sich die statistisch ausgewiesenen Fiskalkenn zahlen der Euroländer sogar zunächst durch die geplanten Mittelzuteilungen der EU verbessern. Dies liegt darin begründet, dass die von der EU überwiesenen „nicht-rückzahlbaren" Zuschüsse letztlich in den nationalen Statistiken als zu sätzliche Staatseinnahmen verbucht werden dürften und sich somit nach offiziel ler Leseart defizit- und schuldendämpfend auswirken würden. Auch wenn die von der EU transferierten Zuschüsse „nicht rückzahlbar" sind, heißt dies jedoch nicht, dass die dazu gemeinsam aufgenommenen Schulden verschwunden sind. Schließlich müssen auch diese EU-Schulden zu einem späteren Zeitpunkt zurückgezahlt werden. Dabei macht es aus (nationaler) Steuerzahlersicht auch keinen Unterschied, ob sich die EU-KOM im Namen der EU oder die jeweiligen Nationalstaaten selbst am Kapitalmarkt verschulden - sieht man einmal von den Unterschieden in den Finanzierungskonditionen und der unterschiedlichen Aufteilung der finanzpoliti schen Kosten ab. Denn in der Zukunft müssen auch die gemeinsamen EU Schulden entweder durch neu eingeführte EU-Steuern oder durch zusätzliche Beitrage der Mitgliedstaaten (und somit aus den nationalen Steuerpools) be dient und zurückgezahlt werden. Beides führt zu einer höheren Steuerbelas tung. Zuletzt birgt die Verlagerung nationaler Schulden auf die EU-Ebene nicht unerhebliche Risiken für die Schuldentragfähigkeit in der Eurozone, da sie den Mitgliedstaaten Tür und Tor öffnet, eine allzu sorglose und potenziell zu Lasten der anderen Mitgliedstaaten gehende Fiskalpolitik zu betreiben („Moral hazard"). In diesem Zusammenhang sei auch auf eine Analyse des Bundesrechnungsho fes verwiesen, in welchem dieser auf die hohen Risiken verweist, die vom EU Wiederaufbaufonds auf den deutschen Bundeshaushalt ausgehen (siehe Son derbericht „EU-Wiederaufbaufonds darf keine Dauereinrichtung werden" vom 11. März 2021). 0 200 400 600 800 1.000 1.200 1.400 1.600 50 60 70 80 90 00 10 20 30 40 50 60 Gesamtbevölkerung Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter Millionen Personen Quellen: UNO, Deutsche Bank Research Bevölkerungsentwicklung in China 106 Erwerbsfähiges Alter: 15-64 Jahre Die Rückkehr massiver Staatsausgaben: Wird dieses Mal wirklich alles anders? 43 | 4. August 2021 Deutschland-Monitor Im Land der Alten: Wenn die Alterung zunehmend die Staatsfinan zen bedroht Manche Ökonomen fürchten, dass es aufgrund der deutlich expansiv ausgerich teten Geld- und Fiskalpolitik und eines Auslaufens der disinflationären Effekte (z.B. weil die Erwerbsbevölkerung in vielen großen Wirtschaftsräumen oder Ländern schrumpft; siehe Grafiken 106 und 108) auf absehbare Zeit zu einer höheren Inflationsdynamik kommen dürfte (siehe z.B. „The Great Demographic Reversal" von Charles Goodhart und Manoj Pradhan). Eine höhere Inflation könnte wiederum steigende Zinsen und Staatsanleiherenditen nach sich ziehen. Auch wenn die Staatsanleiherenditen im Zuge des zuletzt spürbaren Inflations anstiegs angestiegen sind, bleibt abzuwarten, ob dieser Anstieg dauerhaft oder nur von vorübergehender Natur ist. Da der jüngste Inflationssprung wohl größ tenteils auf Sonderfaktoren zurückgeführt werden kann, die nach Einschätzung der Notenbanken auch wieder verschwinden werden, könnte sich die aktuell hö here Inflationsdynamik auf absehbare Zeit tatsächlich wieder zurückbilden. Den noch gibt es eine Reihe von Argumenten, die dafür sprechen, dass eine struktu rell höhere Inflation zum Problem werden könnte (siehe z.B. unseren Artikel im Ausblick Deutschland vom 14. Juni 2021 „Inflationsanstieg: Nur temporär oder dauerhaft aufgrund höherer Lohnabschlüsse?"). Ungünstige demografische Trends in vielen großen Volkswirtschaften Mit Blick auf die demografischen Entwicklungen sagen die Vereinten Nationen (UNO) in ihrem „Medium variant"-Szenario voraus (in der weiteren Analyse wird sich ausschließlich auf dieses Szenario bezogen), dass der Anteil der Erwerbs bevölkerung an der Gesamtbevölkerung in vielen großen Volkswirtschaften deutlich zurückgehen wird (siehe 107), während der Anteil der alten Bevölke rung an der Gesamtbevölkerung stark wachsen wird (siehe Grafik 109). In eini gen stark alternden Volkswirtschaften (wie z.B. Japan, Deutschland oder Italien) dürfte die Erwerbsbevölkerung sogar in absoluten Zahlen schrumpfen (siehe Grafik 108). Insgesamt dürfte die Demografie deutliche Spuren in der Wirtschaft und der Staatskasse hinterlassen. Denn ein schrumpfendes Arbeitskräfteange bot begrenzt sowohl die künftigen Wachstumsspielräume (sinkende Potenzial wachstumsrate) als auch die Entwicklung bei den Staatseinnahmen (Steuern, Sozialbeiträge). Gleichzeitig führte ein Anstieg der alten Bevölkerung zu höhe ren alterungsabhängigen Staatsausgaben. Der finanzpolitische Druck, der sich aufgrund der ungünstigen demografischen Entwicklungen aufbaut, lässt sich unter anderem am sogenannten Altenquotien ten ablesen. Dieser Quotient setzt die Personen im Rentenalter (65 Jahre und älter) ins Verhältnis zu den Personen im erwerbsfähigen Alter (Personen im Al ter von 15 bis 64 Jahren). In Japan und Italien dürfte der Altenquotient den UNO-Prognosen zufolge bis zum Jahr 2060 auf ungefähr 75% bzw. 70% anstei gen (ausgehend von einem heutigen Niveau von ungefähr 40% bzw. 50%) (siehe Grafik 112). Im Falle Japans würde dies bedeuten, dass im Jahr 2060 statistisch betrachtet nur noch 1,3 Personen im Erwerbstätigenalter (15-64 Jahre) die für die Versorgung einer älteren Person (65 Jahre oder älter) anfal lenden alterungsbedingten Staatsausgaben (Rente, Gesundheit) finanzieren müssten. Zum Vergleich: Heute tragen noch mehr als zwei erwerbsfähige Per sonen (2,1) dazu bei, die alterungsbedingten Ausgaben für eine ältere Person zu finanzieren. Im Falle Italiens geht die UNO davon aus, dass die Zahl der er werbsfähigen Personen je einer älteren Person von heute ca. 2,7 auf dann nur noch 1,4 sinken dürfte (siehe Grafik 113). Sollte sich dann auch noch der derzeitige aufgrund der negativen Zins-Wachs tumsdifferenz bestehende fiskalische Rückenwind in einen Gegenwind umkeh 48 52 56 60 64 68 72 50 60 70 80 90 00 10 20 30 40 50 60 CA FR DE IT JP GB US OECD Quellen: UNO, Deutsche Bank Research Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter (15-64 Jahre), % der Gesamtbevölkerung In vielen großen Ländern sinkt der Anteil der erwerbsfähigen Bevölkerung deutlich 107 30 40 50 60 70 80 90 100 110 120 50 60 70 80 90 00 10 20 30 40 50 60 CA FR DE IT JP US OECD Quellen: UNO, Deutsche Bank Research Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter (15 - 64 Jahre), Index: 2015=100 Ein sinkender Anteil der erwerbs - fähigen Bevölkerung dürfte in vielen Ländern die Wirtschaft belasten 108 0 5 10 15 20 25 30 35 40 50 60 70 80 90 00 10 20 30 40 50 60 CA FR DE IT JP US OECD Quellen: UNO, Deutsche Bank Research Anzahl der alten Personen ( 65 Jahre und älter), % Gesamtbevölkerung Der Anteil der alten Bevölkerung wird in den Industrieländern stark ansteigen 109 Die Rückkehr massiver Staatsausgaben: Wird dieses Mal wirklich alles anders? 44 | 4. August 2021 Deutschland-Monitor ren (positive Zins-Wachstumsdifferenz), würde das Zusammenspiel aus niedri gerem Wirtschaftswachstum, höheren Zinssätzen und steigenden alterungsbe dingten Staatsausgaben die hohe, und vielerorts noch weiter steigende Staats verschuldung zusätzlich in die Höhe treiben. Orthodoxe Ökonomen befürchten auch deshalb, dass die allzu großzügigen (und nicht nachhaltig finanzierten) so zialen Sicherungssysteme irgendwann zu einem großen Problem für die Staats haushalte werden dürften. Sollte der Gesetzgeber auch weiterhin die erforderli chen Strukturreformen (wie z.B. eine Kopplung des tatsächlichen Rentenein trittsalters an die weitere Entwicklung der Lebenserwartung oder eine Anglei chung der alterungsbezogenen Ausgaben an die weitere demografische Ent wicklung) auf die lange Bank schieben, müsste die Steuerlast für die Erwerbs bevölkerung erheblich ansteigen. Das würde aber wiederum die Generationen gerechtigkeit gefährden und die Arbeitsanreize der arbeitenden Bevölkerung verringern (und somit das Wirtschaftswachstum belasten). Implizite („versteckte") Staatsschulden Ein beträchtlicher Teil der zukünftig zu leistenden Staatsausgaben ist bereits für Sozialleistungen vorgesehen, die heute zwar versprochen, aber häufig nicht durch entsprechende Mehreinnahmen gedeckt worden sind. Ein gutes Beispiel dafür sind die ungedeckten Pensionsverpflichtungen des Staates gegenüber seinen Staatsbediensteten, die aus den laufenden Steuereinnahmen finanziert werden müssen. Die künftig auflaufenden Finanzierungslücken des Staates, die aufgrund einer strukturell angelegten Diskrepanz zwischen staatlichen Einnah men und Ausgaben entstehen werden, werden gewöhnlich anhand der implizi ten bzw. „versteckten" Staatsschulden geschätzt. Die implizite Schuldenlast ergibt sich letzten Endes aus dem finanzpolitischen Kurs des Staates, den er im vorgegebenen demografischen und makroökonomischen Umfeld verfolgt. Eine (positive) implizite Staatsverschuldung besteht grundsätzlich dann, wenn der Gegenwartswert aller zukünftigen Primärausgaben (Staatsausgaben ohne Zins ausgaben) den Barwert aller zukünftigen Staatseinnahmen übersteigt. Rein rechnerisch ergibt sich die implizite Schuldenlast des Staates aus der Summe der Gegenwartswerte aller künftigen Primärdefizite bzw. Primärüberschüsse (d.h. Finanzierungsdefizite/-überschüsse ohne Zinsausgaben). Aus diesem Grund handelt es sich bei der impliziten Verschuldung um den Schuldenberg, der bei einer Fortführung des gegenwärtigen finanzpolitischen Kurses zukünftig noch - unter plausiblen demografischen und makroökonomischen Annahmen - entstehen dürfte. Im Unterschied zu den expliziten - und in den öffentlichen Sta tistiken ausgewiesenen - Staatsschulden werden die impliziten Schulden also erst zu einem späteren Zeitpunkt zu expliziten Schulden (und damit zu tatsächli chen Finanzverbindlichkeiten des Staates). Der Gesamtschuldenstand aus expliziten und impliziten Staatsschulden zeigt an, wie groß die heutigen Haushaltsreserven rechnerisch sein müssten, um das gegenwärtige staatliche Leistungs- bzw. Ausgabenniveau auch in Zukunft bei behalten zu können, ohne fortwährend neue Schulden anhäufen zu müssen. Es liegt auf der Hand, dass die implizite Schuldenlast des Staates einer anderen analytischen Interpretation bedarf als die explizite Schuldenlast. Dies liegt zual lererst daran, dass die (zukünftigen) Regierungen den aktuellen und/oder künfti gen finanzpolitischen Kurs jederzeit ändern und damit auch die impliziten Staatsschulden reduzieren können. So können Haushaltskorrekturen, die z.B. die Steuereinnahmen stärken und/oder das Rentenniveau absenken, schließlich verhindern, dass implizite Schulden zu expliziten Schulden werden. Im Gegen satz dazu können die expliziten Schulden (d.h. die staatlichen Finanzverbind lichkeiten wie z.B. die begebenen Staatsanleihen) nicht einseitig durch den Staat (also de jure) verringert werden. Obwohl der genaue Betrag der impliziten Staatsschulden nicht in Stein gemeißelt ist, verdeutlicht er die absehbare Dis krepanz zwischen künftigen Einnahmen und Ausgaben. 50 75 100 125 150 175 200 225 00 05 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 CA FR DE IT JP US OECD Quellen: UNO, Deutsche Bank Research Anzahl der alten Personen (65 Jahre und älter), Index: 2015=100 Die alte Bevölkerung wird stark anwachsen 110 500 750 1.000 1.250 1.500 1.750 2.000 50 60 70 80 90 00 10 20 30 40 50 60 Osteuropa & China China Westeuropa & Nordamerika Globale Bevölkerungstrends 111 Quellen: UNO, Deutsche Bank Research Bevölkerung, Millionen Personen 0 10 20 30 40 50 60 70 80 50 60 70 80 90 00 10 20 30 40 50 60 CA FR DE IT JP US Quellen: UNO, Deutsche Bank Research Alte Bevölkerung (>65 Jahre) in Relation zur erwerbsfähigen Bevölkerung (15 - 64 Jahre), % Die Entwicklung der Altenquotienten deutet vielerorts auf einen steigenden Demografie - bedingten Finanzdruck hin 112 Die Rückkehr massiver Staatsausgaben: Wird dieses Mal wirklich alles anders? 45 | 4. August 2021 Deutschland-Monitor Je höher diese impliziten Verbindlichkeiten des Staates ausfallen, desto energi scher müsste die künftige finanzpolitische Kurskorrektur sein, um die Staatsfi nanzen wieder ins Lot zu bringen. Ebenso dürfte es dem Staat bei einer zuneh mend steigenden impliziten Schuldenlast immer schwerer fallen, die erforderli chen fiskalpolitischen Anpassungen schlussendlich vorzunehmen. Denn dazu müsste er politisch unpopuläre Entscheidungen treffen, von denen manche das Wirtschaftswachstum entweder kurzfristig oder schlimmstenfalls auch für eine längere Zeit belasten könnten. In vielen alternden Gesellschaften (wie z.B. der deutschen) sind die hohen im pliziten Staatsschulden bereits zu einem drängenden Finanzierungsproblem ge worden. In diesem Zusammenhang hat der Wissenschaftliche Beirat beim Bun desministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) Anfang Juni 2021 davor ge warnt, dass die gesetzliche Rentenversicherung in Deutschland ab dem Jahr 2025 vor massiven Finanzierungsproblemen stehen wird. Angesichts dieser Ein schätzung kommt der Beirat zu dem Schluss, dass es unumgänglich sein wird, das Renteneintrittsalter an die weitere Entwicklung der Lebenserwartung zu koppeln (siehe dazu auch die Presseerklärung des Beirats und dessen Vor schläge für eine Reform der gesetzlichen Rentenversicherung). Steigende Renten- und Gesundheitskosten treiben die implizite Schuldenlast in die Höhe Der IWF schätzt, dass sich der Netto-Barwert der zukünftigen Renten- und Ge sundheitsausgaben der G20-Industrieländer (für den Zeitraum von 2019 bis 2050) auf atemberaubende 125% des BIP beläuft. Der Großteil des prognosti zierten Anstiegs bei den alterungsbezogenen Ausgaben ist auf höhere Gesund heitsausgaben zurückzuführen (knapp 100% des BIP). Ein immer noch be trächtlicher, wenngleich deutlich kleinerer Teil des Ausgabenanstiegs entfällt auf die zusätzlichen Ausgaben für die Alterssicherung (ungefähr 25% des BIP). Die USA, aber auch moderat verschuldete Länder wie Südkorea oder die Schweiz, scheinen in besonderem Maße von einem Anstieg der alterungsbezogenen Ausgaben betroffen zu sein (siehe Grafik 114). Auch wenn diese Schulden lediglich implizite Verbindlichkeiten darstellen, wel che die Staaten jederzeit durch Strukturreformen senken können, zeigen sie die erforderlichen Haushaltskorrekturen zur Sicherung nachhaltiger Staatsfinanzen in aller Deutlichkeit an. Sofern die Staaten diesen finanziellen Herausforderun gen nicht bald mit entsprechenden Gegenmaßnahmen begegnen - was wohl in den meisten Ländern der Fall sein dürfte - werden die dann in Zukunft zu tref fenden Anpassungsschritte noch heftiger ausfallen müssen, um die Staatsfinan zen wieder zu stabilisieren. Ein niedrigeres Wachstumsum feld, das sich deutlich negativ auf die weitere Entwicklung der Steuereinnahmen auswirken dürfte, würde jedoch eine solch drastische Kurskorrektur noch weiter erschweren. Eine Analyse der Bundesbank für die Wirtschaft des Euroraums zeigt, dass die Wachstumspotenzialrate der Wirtschaft nicht nur aufgrund einer rückläufigen Er werbsbevölkerung (also eines niedrigeren Einsatzes des Faktors Arbeit), son dern auch durch eine Demografie-bedingte Verlangsamung des Produktivitäts fortschritts beeinträchtigt werden könnte. Die Gesamtschuldenlast eines Staates (häufig als fiskalische Nachhaltigkeitslü cke bezeichnet) ergibt sich aus der Summe von expliziten und impliziten („ver steckten") Staatsschulden. In alternden Gesellschaften stellt der offiziell veröf fentlichte Schuldenstand häufig nur die Spitze des Eisbergs dar, weil die impli zite Staatsverschuldung bei Weitem höher als die explizite ist. Für den deut schen Staat - der im internationalen Vergleich einen noch relativ moderaten ex pliziten Schuldenstand ausweist - wird die implizite Verschuldung derzeit auf fast 300% des BIP geschätzt. Die gesamte öffentliche Verschuldung ist daher weit höher als der für Ende 2020 offiziell angegebene Wert von knapp unter 1 2 3 4 5 6 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 CA FR DE IT JP US Anzahl der Personen im erwerbs fähigen Alter (15-64 Jahre) pro einer Person im Rentenalter (>65 Jahre) 113 Anzahl Quellen: UNO, Deutsche Bank Research 0 25 50 75 100 125 150 175 200 US KR G7 G20 AE CH NL IT ES GB DE AU CA JP IE PT FR Gesundheitsversorgung Altersversorgung Insgesamt % BIP Quelle: IWF Fiscal Monitor (April 2021) Gegenwartswert des erwarteten Ausgabenanstiegs für die Gesund - heits - und Altersversorgung (2019 - 50) 114 0 50 100 150 200 250 300 350 400 06 08 10 12 14 16 18 20 Implizite Staatsschuld Explizite Staatsschuld Gesamte Staatsverschuldung (Nachhaltigkeitslücke) % BIP Quellen: Stiftung Marktwirtschaft (Generationenbilanz), Eurostat, Deutsche Bank Research Implizite Staatsschulden: Schätzungen von Stiftung Marktwirtschaft. Explizite Staatsschulden: Schulden des Gesamtstaates (Maastricht - Definition; VGR). DE: Maastricht - Staatsschulden dürften nur die Spitze des Eisbergs sein 115 Die Rückkehr massiver Staatsausgaben: Wird dieses Mal wirklich alles anders? 46 | 4. August 2021 Deutschland-Monitor 70% des BIP (siehe Grafik 115 sowie die Analyse „Was kann sich der ehrbare Staat noch leisten? Corona, Schulden - und noch eine Pflegereform?" von der Stiftung Marktwirtschaft). Allein auf Bundesebene lagen die Rückstellungen für Pensionen und ähnliche Verpflichtungen (d.h. die künftigen Verpflichtungen aus Pensions- und Beihilfe leistungen) im Jahr 2019 bei hohen EUR 809 Mrd. oder ungefähr 23,5% des BIP (siehe Grafik 116). Wie drängend das Problem künftiger Pensions- und Bei hilfeverpflichtungen für die Bundesfinanzen bereits ist, wird deutlich, wenn man einen Blick auf die bestehende Kapitalvorsorge in Form von Sondervermögen wirft, die bislang zur Deckung dieser zukünftigen Ausgaben aufgebaut wurde. Ende 2019 belief sich diese Kapitalabdeckung nur auf magere EUR 21,6 Mrd. oder 0,6% des BIP, sodass der weitaus größte Teil dieser künftig zu Buche schlagenden Bundesverpflichtungen (ca. 97,7%) nach wie vor ungedeckt ist (siehe Vermögensrechnung des Bundes 2019). Interessanterweise sind diese ungedeckten, zukünftigen Pensions- und Beihil feverpflichtungen des Bundes in den letzten Jahren stark angestiegen, was da rauf hindeutet, dass die Bundesregierung dieses Finanzproblem selbst in den „goldenen" Jahren mit hohem Wachstum und stetig steigenden Haushaltsüber schüssen nicht mit dem erforderlichen Nachdruck angepackt hat (siehe Grafik 116). Und der (noch vor Ausbruch der Corona-Krise fertiggestellte) Fünfte Trag fähigkeitsbericht des Bundesfinanzministeriums aus dem Jahr 2020 zeigt, dass der Tragfähigkeitsindikator S2 - die gängigste Messgröße für die Quantifizie rung langfristiger Tragfähigkeitsprobleme - im Vergleich zum Vierten Tragfähig keitsbericht aus dem Jahr 2016 angestiegen ist und sich somit die Tragfähig keitsprobleme weiter verschärft haben. Diese Ergebnisse, die noch gar nicht die zusätzlichen Haushaltsbelastungen durch die Corona-Pandemie berücksichti gen, deuten auf einen dringenden fiskalischen Anpassungsbedarf bzw. die Not wendigkeit von Strukturreformen hin - insbesondere im chronisch defizitären gesetzlichen Rentensystem. Die staatliche „Gesamtschuldenlast" bzw. „fiskalische Nachhaltigkeitslücke" im Kontext niedriger Zinsen Betrachtet man nicht nur die expliziten (heutigen) Staatsschulden, sondern auch die impliziten (d.h. noch zukünftig entstehenden) Verbindlichkeiten des Staates, wird schnell klar, dass das Niedrigzinsumfeld nicht wesentlich die - für solide und tragfähige Staatsfinanzen notwendige - Statik verändert. Auch wenn das derzeitige Niedrigzinsumfeld sich zunächst günstig auf die Schuldentragfähig keit auswirkt, weil die expliziten Staatsschulden bei niedrigeren Zinsen tendenzi ell deutlich langsamer wachsen als bei hohen, kann es jedoch andererseits die implizite Schuldenlast des Staates erhöhen (sofern eine solche vorliegt). Dies liegt daran, dass die zukünftige (implizite) Staatsverschuldung in einem Niedrig zinsumfeld mit einem tieferen Zinssatz abgezinst wird als in einem Hochzinsum feld, was wiederum dazu führt, dass der Barwert der zukünftigen (impliziten) Staatsschulden (ceteris paribus) bei niedrigen Zinsen höher ausfällt als bei nied rigeren. Die Ökonomen Martin Werding, Klaus Gründler et al. zeigen, dass sich die fis kalische Nachhaltigkeitslücke in Deutschland in einem Rahmen von ca. 1,5% des BIP (Basisvariante T+; eher optimistisches Szenario) bis ungefähr 4,1% des BIP (Basisvariante T-; eher pessimistisches Szenario) bewegt. Die fiskalische Nachhaltigkeitslücke definiert sich als die unmittelbare (und dauerhafte) Anpas sung des Primärsaldos, die erforderlich wäre, um die intertemporale Budgetbe schränkung trotz des vorausgesagten Anstiegs der öffentlichen alterungsbezo genen Staatsausgaben einhalten zu können. Die Autoren weisen zudem darauf hin, dass die fiskalische Nachhaltigkeitslücke Deutschlands nicht besonders empfindlich auf Änderungen in den zugrunde liegenden Zinsannahmen reagiert. 0 200 400 600 800 1.000 0 5 10 15 20 25 Vorsorgelücke (EUR Mrd.) (rechts) Vorsorgelücke (% BIP) (links) DE: Vorsorgelücke des Bundes für Pensions - und Beihilfeverpflichtungen 116 Vorsorgelücke (ungedeckte Pensions - und Beihilfeverpflichtungen)* Quellen: Statistisches Bundesamt, Bundesfinanzministerium, Deutsche Bank Research * Berechnet als die Differenz zwischen den Rückstellungen für Pensions - und Beihilfeleistungen und der bereits getroffenen Kapitalvorsorge für künftige Pensions - und Beihilfeleistungen. Bei den Rückstellungen handelt es sich um den erforderlichen (Gegenwarts - ) Wert, der heute angelegt werden müsste, um unter Berücksichtigung der zu erwartenden Zinserträge sämtliche zukünftigen Pensions - und Beihilfeverpflichtungen finanzieren zu können. -2 -1 0 1 2 3 4 BE NL FI SE IE AT DE EU EA IT DK ES FR PT EU: Langfristiger Nachhaltigkeits - indikator (S2) für die Staatsverschuldung 117 Unmittelbar u. dauerhaft notwendige Anpassung des strukturellen Primärsaldos*, Pp. des BIP * zur Sicherstellung der Tragfähigkeit der Staatsverschuldung. Quelle: Europäische Kommission (Debt Sustainability Monitor 2020 vom Februar 2021) Die Rückkehr massiver Staatsausgaben: Wird dieses Mal wirklich alles anders? 47 | 4. August 2021 Deutschland-Monitor Stattdessen reagiert diese deutlich stärker auf demografische Entwicklungen und damit verbundene Änderungen in der Erwerbstätigkeit (welche in Deutsch land recht unvorteilhaft sind). Schließlich zeigen die Autoren, dass in bestimm ten makroökonomischen und demografischen Konstellationen eine Senkung der Zinsannahme(n) zu einer kontraintuitiven Vergrößerung der Nachhaltigkeitslü cke führen kann. Dies bedeutet, dass sich niedrigere Zinsen unter bestimmten Umständen sogar negativ auf die Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen aus wirken können (für weitere Informationen siehe deren Forschungsbericht: ifo Institut: „Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen: Spielt sie noch eine Rolle?"). Die Alterung fordert auch die Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen in der EU heraus Aber nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen großen Volkswirtschaf ten stehen die Staatfinanzen vor einer großen Belastungsprobe. Denn sowohl die voranschreitende Alterung der Bevölkerung als auch der bislang fortge setzte, nicht nachhaltige finanzpolitische Kurs dürfte perspektivisch zu steigen den fiskalischen Belastungen führen. In Europa steht die Tragfähigkeit der Staatsverschuldung wegen des absehbaren, drastischen Anstiegs der alte rungsbedingten Staatsausgaben (wie z.B. für die Gesundheitsversorgung und soziale Pflege) auf tönernen Fußen (siehe auch den aktuellsten Debt Sustaina bility Monitor 2020 der Europäischen Kommission). Der langfristige Tragfähig keitsindikator S2 der Europäischen Kommission, der die zur Sicherstellung lang fristig tragfähiger Staatsfinanzen erforderlichen Haushaltsanpassungen quantifi ziert, deutet auf erhebliche Tragfähigkeitslücken in den meisten Ländern hin. Ganz konkret quantifiziert dieser Indikator für ein Land die unmittelbar (und dau erhaft) notwendige Anpassung des strukturellen Primärsaldos, um fortan alle zu künftigen alterungsbedingten Mehrausgaben zu decken und somit die Staats verschuldungsquote über einen unendlichen Zeithorizont stabilisieren zu kön nen. Im EU- (Euroland-) Durchschnitt bewegt sich die benötigte fiskalische An passung in einer Größenordnung von 1½ (1,2) Prozentpunkten des BIP. Dies bedeutet, dass der strukturelle Primärsaldo - der in den meisten Ländern der zeit ein großes Defizit aufweist (siehe Grafik 117) - dauerhaft um diese Größen ordnung verbessert werden müsste, um die langfristige Tragfähigkeit der Staats verschuldung sicherzustellen. In einigen größeren Eurostaaten (wie z.B. Bel gien, den Niederlanden oder Deutschland) ist diese langfristige fiskalische Trag fähigkeitslücke sehr viel größer als der Eurozonen-Durchschnitt (siehe Grafik 117). Finanzpolitische Perspektiven in den USA: Gesundheitsausgaben treiben Defi zite in die Höhe Bereits bevor die Biden-Regierung das USD 1,9 Bill. schwere Konjunkturpaket (ca. 9% des BIP im Jahr 2020) verabschiedete, hatte die Haushaltsbehörde des Kongresses der Vereinigten Staaten - das Congressional Budget Office (CBO) - in ihren Analysen aufgezeigt, dass die US-Staatsfinanzen auf der Bundes ebene („Federal finances") zunehmend untragbar geworden sind. Denn bei ei ner Fortführung des gegenwärtigen finanzpolitischen Kurses dürfte sowohl das öffentliche Haushaltsdefizit als auch die Staatsverschuldung (gemessen anhand der von der Öffentlichkeit gehaltenen Bundesschulden; „Federal debt held by the public") von bereits hohen Ausgangsniveaus weiter stark ansteigen. In sei ner jüngsten Fiskalanalyse legte das CBO langfristige Projektionen für den Haushalt und die Schulden der US-Bundesebene vor (siehe „The 2021 Long Term Budget Outlook"). In der CBO-Analyse wurde in Rahmen eines Basis-Sze narios die mögliche Entwicklung der US-Bundesfinanzen und -schulden über die nächsten 30 Jahre (das heißt bis zum Jahr 2051) abgeschätzt. Das Basis Szenario baut auf plausiblen makroökonomischen Annahmen zur US-Wirtschaft -16 -14 -12 -10 -8 -6 -4 -2 0 2 2006 2009 2012 2015 2018 2021 2024 2027 2030 2033 2036 2039 2042 2045 2048 2051 Nettozinsausgaben Primärsaldo Finanzierungssaldo % BIP Quelle: Congressional Budget Office (CBO) USA: Langfristprojektionen für die Staatsfinanzen (US - Bundesebene) 118 0 2 4 6 8 10 2006 2009 2012 2015 2018 2021 2024 2027 2030 2033 2036 2039 2042 2045 2048 2051 0 50 100 150 200 250 Staatsschulden beim nicht-öffentlichen Sektor* (links) Nettozinsausgaben (rechts) % BIP Quelle: Congressional Budget Office (CBO) * Federal Debt Held by the Public USA: Langfristprojektionen für die Verschuldung und die Zinsausgaben (US - Bundesebene) 119 0 1 2 3 4 5 Arbeitsproduktivitätspotenzial Arbeitskräftepotenzial Produktionspotenzial % und Wachstumsbeiträge in Pp. Quelle: Congressional Budget Office (CBO) USA: Durchschnittliches (reales) Wachstumspotenzial 120 Die Rückkehr massiver Staatsausgaben: Wird dieses Mal wirklich alles anders? 48 | 4. August 2021 Deutschland-Monitor über den vorgenannten Prognosezeitraum auf, wie z.B. auf Projektionen zur künftigen Wachstums-, Inflations-, Zins- und Arbeitsmarktentwicklung. Als Ar beitshypothese wird zudem unterstellt, dass sich die Haushaltspolitik nicht än dert, d.h. die aktuellen Gesetze zu Steuern und Staatsausgaben über den Prog nosezeitraum unverändert bleiben. Das CBO nimmt im Basis-Szenario unter anderem an, dass sich die Wachs tumspotenzialrate der US-Wirtschaft im Zuge der Alterung der Bevölkerung ge ringfügig abschwächen wird (von heute 1,7% auf nur noch 1,5%) (siehe Grafik 120). Darüber hinaus geht das CBO davon aus, dass der durchschnittliche, auf die ausstehenden Staatsschulden zu zahlende Zinssatz ab Mitte der 2020er Jahre wieder ansteigen wird: von einem Tiefpunkt von 1,2% auf bis zu 4,5% im Jahr 2051 (siehe Grafik 121). Vor diesem Hintergrund dürfte die US Staatsschuldenquote ab den 2030er Jahren sehr stark ansteigen (siehe Grafi ken 119 und 122). Die US-Defizitquote dürfte in den kommenden drei Jahrzehn ten auf der US-Bundesebene stark ansteigen. Nach einem zwischenzeitlichen Rückgang auf etwa 4,5% des BIP nach der Überwindung der Pandemie dürfte sich das Finanzierungsdefizit schließlich wieder bis zum Jahr 2051 auf 13,3% ausweiten (siehe Grafik 118). Die perspektivisch stark ansteigenden Haushaltsdefizite - die vor allem durch höhere Zinsausgaben befeuert werden dürften - führen in der Vorausschau dazu, dass die Staatsschuldenquote auf ein Allzeithoch von über 250% des BIP katapultiert wird, was im Vergleich zur heutigen Schuldenquote einer Verdopp lung gleichkäme (siehe Grafik 122). Die US-Bundesausgaben, die im Jahr 2020 mehr als 31% des BIP betrugen und sich bis zu den Jahren 2022 und 2023 bei ungefähr 21% des BIP einpendeln sollten, geraten schließlich im weiteren Prog nosezeitraum außer Kontrolle. Der prognostizierte, steile Anstieg der US Bundesausgaben wird dabei hauptsächlich durch steigende Ausgaben für die bedeutenden Gesundheitsprogramme, die soziale Absicherung und nicht zuletzt die deutlich höheren Nettozinsausgaben hervorgerufen (wobei die ersten beiden Ausgabenposten größtenteils aufgrund der Alterung der Bevölkerung anstei gen). Laut den CBO-Projektionen dürften sich die zusammengefassten Staats ausgaben für diese drei Ausgabenkategorien im Prognosezeitraum ungefähr verdoppeln (von derzeit 12% auf ca. 24% des BIP) (siehe Grafik 124). Aufgrund dessen könnte der Anteil dieser drei Ausgabenposten an den gesamten US Bundesausgaben bis zum Jahr 2051 auf mehr als 75% steigen, was dazu füh ren dürfte, dass andere Haushaltsposten (wie z.B. die Investitionsausgaben) nach und nach verdrängt werden (siehe Grafik 125). Solche langfristigen Haushaltsprojektionen sind selbstverständlich mit hohen Unsicherheiten behaftet, da sich wirtschaftliche Entwicklungen und Bedingun gen ändern können und/oder die Regierung über die Zeit einen anderen haus haltspolitischen Kurs einschlagen könnte. Dennoch liefert die Analyse des CBO 0 2 4 6 8 10 12 14 50 60 70 80 90 00 10 20 30 40 50 Staatsanleiherendite (10 Jahre Restlaufzeit) (US Treasuries) (Kalenderjahr) Impliziter Zinssatz US-Staatsanleiherendite und impliziter Zinssatz, % Quelle: Congressional Budget Office (CBO) USA: CBO-Projektionen für die US-Staatsanleiherenditen ... 121 0 50 100 150 200 250 1900 1910 1920 1930 1940 1950 1960 1970 1980 1990 2000 2010 2020 2030 2040 2050 Quelle: Congressional Budget Office (CBO) % BIP Erster Welt - krieg Zweiter Weltkrieg Große Depression Globale Finanz - krise COVID - 19 - Pandemie USA: Staatsverschuldung auf der Bundesebene (Federal debt h eld by the public) 122 -6 -4 -2 0 2 4 6 8 10 50 60 70 80 90 00 10 20 30 40 50 Staatsanleiherendite (10 Jahre Restlaufzeit) (US Treasuries) (Kalenderjahr) Impliziter Zinssatz Zins - Wachstumsdifferenz, Prozentpunkte ... und die Zins - Wachstumsdifferenz 123 Quellen: Congressional Budget Office (CBO), Deutsche Bank Research Die Rückkehr massiver Staatsausgaben: Wird dieses Mal wirklich alles anders? 49 | 4. August 2021 Deutschland-Monitor wichtige Erkenntnisse für die aktuelle Debatte zur Schuldentragfähigkeit im Kon text des Niedrigzinsniveaus und einer alternden Bevölkerung. Erstens wird die voranschreitende Alterung der Bevölkerung zu einem zunehmenden finanzpoliti schen Problem, da die Wachstumspotenzialrate nicht ausreichen dürfte, um den voraussichtlichen Anstieg der Gesundheitskosten und der Ausgaben für die so ziale Sicherung zu finanzieren. Zweitens werden die Nettozinsausgaben des Staates nicht ewig so niedrig bleiben wie im Moment. Selbst unter der An nahme, dass die (realen) Zinssätze im weiteren Prognosezeitraum nur moderat ansteigen (auf Niveaus, die unterhalb der langfristigen Durchschnittswerte lie gen), wird der von den höheren Zinsausgaben/Haushaltsdefiziten auf die Staatsschulden ausgehende Schneeballeffekt mit der Zeit derart groß, dass der Schuldenpfad außer Kontrolle gerät. Drittens kommt es in dem CBO-Basis Szenario zu einer ganz eindeutig nicht tragfähigen Entwicklung der Staatsfinan zen, obwohl über einen langen Zeitraum innerhalb des Prognosezeitraums ein negatives Zins-Wachstumsdifferenzial unterstellt wird (siehe Grafik 123). Und schließlich würde die US-Staatsverschuldungsquote auf der Bundesebene selbst unter erheblich günstigeren Wachstums- und Zinsannahmen einen explo sionsartigen Verlauf nehmen. Im Falle einer höheren Produktivitäts- und damit BIP-Wachstumsrate (d.h. einer um +0,5% höheren Wachstumsrate der Totalen Faktorproduktivität gegenüber dem Basisszenario), würde die US-Staats verschuldungsquote bis zum Jahr 2051 auf noch immer bedrohlich hohe 156% vom BIP ansteigen. Auch im Falle eines geringer ausgeprägten Zinsanstiegs (in Richtung 2,7% statt der im Basis-Szenario unterstellten 4,6%) würde die Staats schuldenquote bis zum Jahr 2051 auf bis zu 160% des BIP in die Höhe schie ßen. Insgesamt zeigt die Analyse des CBO, dass eine dauerhaft nicht tragfähige Fiskalpolitik selbst in einem finanzpolitisch günstigen Umfeld mit Zinssätzen un terhalb der BIP-Wachstumsraten keine empfehlenswerte Option darstellt. F. Kernbotschaften der Studie Der Regimewechsel in der Fiskalpolitik wurde erst durch die sehr expansive Geldpolitik ermöglicht Wie so oft in der Vergangenheit scheint das „neue" geld- und fiskalpolitische Regime in den USA zu einer Art Vorbild für viele andere Staaten geworden zu sein, in der die Regierungen ihre Staatsausgaben massiv ausweiten und eine noch stärkere und aktivere Rolle im Wirtschaftsgeschehen einnehmen. Obwohl das Niedrigzinsumfeld dafür gesorgt hat, dass die Zinslasten der meisten Staa ten - trotz steigender Verschuldung - noch immer in einem für die öffentlichen Haushalte tragbaren Rahmen geblieben sind, ist der gegenwärtige fiskalpoliti sche Kurs in vielen Ländern ganz eindeutig nicht mehr nachhaltig und somit auf Dauer fortzuführen. Darüber hinaus konnte diese nicht nachhaltige Verschul dungspolitik der Staaten bislang nur deswegen durchgehalten werden, weil sich die Geldpolitik ihrerseits auf einen ultra-expansiven und nicht nachhaltigen Pfad begeben hat. Der gegenwärtige Kurs in der Fiskalpolitik ist daher - wenn über haupt - nur bei einer Fortführung der nicht nachhaltigen Geldpolitik aufrechtzu erhalten. Von dieser gehen aber wiederum nicht unerhebliche Risiken und Ne benwirkungen auf die Wirtschaft aus. Die in vielen Ländern deutlich überbeanspruchten Staatsfinanzen haben im letz ten Jahrzehnt nur deshalb zu keinen größeren Verwerfungen geführt, weil die Zentralbanken im Rahmen ihrer ultra-expansiven geldpolitischen Ausrichtung immer umfassendere und umfangreichere unkonventionelle Maßnahmen ergrif fen haben. Die großen Zentralbanken - die immer mehr Staatsschulden in ihren Bilanzen halten - sind zunehmend an ihre geldpolitischen Grenzen gestoßen. 0 5 10 15 20 25 10 15 20 25 30 35 40 45 50 Nettozinsausgaben Sozialversicherungsausgaben Ausgaben für die bedeutenden Gesundheitsprogramme % BIP USA: CBO - Projektionen für die Staatsausgaben auf der US - Bundes - ebene 124 Quelle: Congressional Budget Office (CBO) 0 10 20 30 40 50 60 70 80 10 15 20 25 30 35 40 45 50 Nettozinsausgaben Sozialversicherungsausgaben Ausgaben für die bedeutenden Gesundheitsprogramme % Ausgaben Quellen: Congressional Budget Office (CBO), Deutsche Bank Research USA: CBO - Projektionen für die Staatsausgaben auf der US - Bundes - ebene 125 -20 -15 -10 -5 0 5 00 02 04 06 08 10 12 14 16 18 20 US JP EA GB Staatlicher Finanzierungssaldo, % BIP Die öffentlichen Haushaltsdefizite sind stark angewachsen ... 126 Quellen: AMECO, IWF WEO, Deutsche Bank Research Die Rückkehr massiver Staatsausgaben: Wird dieses Mal wirklich alles anders? 50 | 4. August 2021 Deutschland-Monitor Mittlerweile sind sie in ihrer Rolle als Kreditgeber der letzten Instanz und de facto als Garant für die Stabilität der Staatsfinanzen kaum noch wegzudenken (siehe Grafiken 146-49). Aufgrund ihres großen Staatsanleihebesitzes sind sie mittlerweile zu den dominierenden Akteuren in den Staatsanleihemärkten ge worden. In den USA liegen nunmehr ungefähr ein Fünftel der ausstehenden US-Staatsschulden in der Bilanz der Fed. In Japan liegt der entsprechende Ver gleichswert sogar bei fast 45%. Aufgrund der hohen Staatsverschuldung und der Tatsache, dass die vorhandenen finanzpolitischen Puffer in den letzten Jahrzehnten weitestgehend ausgeschöpft worden sind, sind viele Staaten in ei nem hohen Maße darauf angewiesen, ihren großen Finanzbedarf auch weiter hin jederzeit und zu dauerhaft günstigen Konditionen an den Kreditmärkten de cken zu können. Das Risiko, dass fiskalische Bedenken und Erwägungen letzt lich eine entscheidende Rolle bei den geldpolitischen Entscheidungen der Zent ralbanken spielen könnten („fiskalische Dominanz"), lässt sich also nicht mehr wegdiskutieren. Die nicht nachhaltige Politik dürfte entweder zu mehr Inflation oder neuen „Boom-bust"-Zyklen führen Obwohl Zentralbanken die Verbraucherpreisinflation unter strukturellen Ge sichtspunkten noch immer für zu niedrig halten, birgt eine Fortsetzung der nicht nachhaltigen Geld- und Fiskalpolitik erhebliche makroökonomische Risiken. Denn bei einem plötzlichen Anspringen der Inflationsrate und/oder steigenden Inflationserwartungen hätten die großen Zentralbanken einen schwierigen Ba lanceakt zu meistern. Zum einen wären sie gefordert, die Inflation wieder einzu fangen und/oder die Inflationserwartungen zu stabilisieren. Auf der anderen Seite müssten sie aber auch weiterhin für eine ausreichend große geldpolitische Unterstützung für die hoch verschuldeten Staaten sorgen, damit es in diesen Ländern nicht zu einer Rezession, einem starken Anstieg der Risikoprämien und einer Staatsschuldenkrise kommt. Eine solch höhere - und für die Notenbanken und Staaten bedrohliche - Inflationsdynamik könnte z.B. über einen Abbau der während der Pandemie aufgestauten Konsumnachfrage und/oder ein plötzli ches Überschießen der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage (über das vorhan dene Angebot) in Gang kommen. Aber auch ein Auslaufen der disinflationären Kräfte könnte die Inflation mittelfristig anschieben. Der aktuelle Inflationssprung in den USA (auf bis zu 5,4% im Juni 2021) und in Deutschland (auf bis zu 3,8% bzw. 3,1% im Juli; in nationaler bzw. harmonisier ter Betrachtung) (siehe Grafiken 130 und 131) wird derzeit kontrovers unter Ökonomen diskutiert. Es geht dabei um die Frage, ob die gegenwärtig höhere Inflation lediglich ein temporäres und durch Sondereffekte getriebenes Phäno men ist oder diese den Beginn einer neuen Ära mit einer strukturell (dauerhaft) höheren Inflation markiert. In einem aktuellen Artikel von DB Research gehen wir der Frage nach, wie hoch die Gefahren einer höheren Inflation und einer Rückkehr von „Boom-bust"-Zyklen in den nächsten Jahren sind (siehe „What's in the tails? - Inflation: The defining macro story of this decade"). In einer weite ren Analyse haben wir uns das Inflationspotenzial für Deutschland genauer an geschaut (siehe „Nehmen die Inflationsrisiken in Deutschland tatsächlich zu? Oder machen wir uns wieder einmal umsonst verrückt?"). In diesem Zusammenhang gehen weitere Risiken vom Bankensystem aus, wel ches hohe Bestände an Staatsschulden in der Bilanz hält („Staaten-Banken-Ne xus"). Sollte es zu einer Neubewertung der staatlichen Zahlungsausfallrisiken und damit einem Anstieg der Risikoprämien/Staatsanleiherenditen kommen, würde dies Umbewertungsverluste im Bankensystem nach sich ziehen, die die makroökonomischen Probleme noch vertiefen dürften. Sollte die Inflation stärker anspringen als gedacht und die Zentralbanken sich nicht in der Lage sehen oder nicht willens sein, ihre Geldpolitik zu straffen (z.B. weil sie die negativen -5 0 5 10 15 20 00 02 04 06 08 10 12 14 16 18 20 US JP EA GB Jährliche Ankäufe von Staatsschulden durch die Notenbanken*, % BIP Quellen: Zentralbanken, AMECO, IWF WEO, Haver Analytics, WEFA, Deutsche Bank Research * siehe auch die Erläuterungen in Grafik 30. ... und die Notenbanken haben viele Staatsschulden aufgekauft 127 -20 -10 0 10 20 30 40 50 00 02 04 06 08 10 12 14 16 18 20 US JP EA GB % Staatsausgaben Quellen: Zentralbanken, AMECO, IWF WEO, Haver Analytics, Deutsche Bank Research * Siehe auch die Erläuterungen in Grafik 30. Jährliche Ankäufe von Staats - schulden* durch die Notenbanken 128 0 20 40 60 80 100 120 00 02 04 06 08 10 12 14 16 18 20 US JP EA GB % BIP Quellen: Zentralbanken, AMECO, IWF WEO, Haver Analytics, Deutsche Bank Research * Siehe auch die Erläuterungen in Grafik 30. Kumulierte Ankäufe von Staats - schulden* durch die Notenbanken 129 Die Rückkehr massiver Staatsausgaben: Wird dieses Mal wirklich alles anders? 51 | 4. August 2021 Deutschland-Monitor Auswirkungen auf die Staatsfinanzen oder die Makroökonomie fürchten), könnte das Zusammenspiel zwischen einer höheren Inflation und steigenden Inflations erwartungen unweigerlich zu einer tatsächlich stärkeren Inflationsdynamik füh ren. Sollten die Zentralbanken jedoch entschieden gegen die höhere Inflation ankämpfen, um so auch die Inflationserwartungen wieder zu stabilisieren, könnte dies einen Anstieg der Risikoprämien auf Staatsanleihen zur Folge ha ben und somit schlimmstenfalls eine Staatsschuldenkrise auslösen, die schließ lich eine Sanierung der Staatsfinanzen unausweichlich machen und einen schmerzhaften Konsolidierungsprozess nach sich ziehen würde. In einem sol chen für die Fiskalpolitik nachteiligen Szenario wären in besonderem Maße die hoch verschuldeten Staaten betroffen, die einen hohen wiederkehrenden Finan zierungsbedarf zu decken haben. Darüber hinaus sind jene Staaten, die große Teile ihrer ausstehenden Staatsschulden entweder in Fremdwährung(en) bege ben haben und/oder sich in erheblichem Maße im Ausland (bei Nicht-Gebietsan sässigen) verschuldet haben, besonders hohen Risiken ausgesetzt. Insgesamt steht das aktuell vorliegende Gleichgewicht aus Niedrigzinsen/gerin ger Inflation und hoher Staatsverschuldung auf einem wackeligen Fundament. Zudem dürften die Stabilitätsrisiken immer weiter zunehmen, je länger die nicht tragfähige Geld- bzw. Fiskalpolitik fortgeführt wird. Wenn vorsichtige und weit sichtige Finanzpolitiker die im gegenwärtigen Status quo bestehenden Stabili tätsrisiken internalisieren würden, müssten sie glaubhafte Schritte in Richtung einer wieder tragfähigeren Finanzpolitik einleiten, sobald die Corona-Krise aus gestanden ist. Insbesondere im Euroraum scheint der Trend jedoch in die ge nau entgegengesetzte Richtung zu gehen, wie man z.B. an der Schaffung des aus gemeinsamen EU-Schulden finanzierten EU-Wiederaufbaus erkennen kann. Die zunehmend größere politische Bereitwilligkeit, eine gemeinsame Fis kalpolitik mit gemeinschaftlicher Risiko- und Haftungsteilung umzusetzen, birgt schließlich eine Reihe von Risiken. Denn einerseits wird dadurch das Subsidiari tätsprinzip ausgehöhlt und andererseits lädt eine solche gemeinsame Schulden- und Haftungspolitik regelrecht zu einem moralischen Fehlverhalten („Moral ha zard") ein und ermutigt die Staaten gerade nicht dazu, ihre nationale Fiskalpoli tik solider und nachhaltiger aufzustellen. Die Budgetbeschränkung greift auch weiterhin und eine nicht nachhaltige Geld- und Finanzpolitik hat ihren Preis Obwohl das Niedrigzinsumfeld eindeutig dazu beiträgt, dass die Zinsbelastun gen für die Staaten bisher noch tragbar geblieben sind, sind niedrige Zinsen nicht in Stein gemeißelt. Die Erfahrungen aus der Wirtschaftsgeschichte haben gelehrt, dass die Zinsen jederzeit abrupt ansteigen können und dass Staaten oftmals von günstigen Finanzierungsbedingungen profitierten ehe es zu größe ren Haushaltskrisen gekommen ist. Die europäische Staatsschuldenkrise dient dafür als warnendes Beispiel (siehe Grafik 92). Regierungen, die das Niedrig zinsniveau in ihren Haushaltsplanungen auch für die ferne Zukunft fortschrei ben, verfolgen einen mit hohen Risiken behafteten haushaltspolitischen Ansatz. Eine solch kurzsichtige Fiskalpolitik birgt erhebliche Risiken für die Realwirt schaft und die Finanzmärkte. Daher sollten insbesondere die hoch verschulde ten Staaten die günstige Gelegenheit, die sich aus der aktuell negativen Zins Wachstumsdifferenz ergibt, dazu nutzen, ihre Staatsfinanzen anhand eines ge ordneten und graduellen Konsolidierungskurses im Anschluss an die Pandemie wieder auf ein solideres Fundament zu stellen. Eine anschließende Haushalts konsolidierung schließt im Übrigen keine höhere staatliche Investitionstätigkeit aus, die in einigen Bereichen angezeigt ist. Denn schließlich könnten die Regie rungen die zur Finanzierung der höheren öffentlichen Investitionen notwendigen Finanzmittel (anstatt über neue Schulden) auch über eine klarere Prioritätenset zung in der Haushaltspolitik freimachen. -2 -1 0 1 2 3 4 5 6 15 16 17 18 19 20 21 US JP EA DE Verbraucherpreise, % gg. Vj. Quellen: WEFA, Haver Analytics, OECD, Eurostat, Deutsche Bank Research Die Inflationsraten sind in den USA und Deutschland deutlich angestiegen 130 Eurozone und Deutschland: Harmonisierter Verbraucherpreisindex (HVPI) -3 -2 -1 0 1 2 3 4 5 6 95 00 05 10 15 20 US DE Verbraucherpreise, % gg. Vj. Quellen: WEFA, Haver Analytics, OECD, Eurostat Entwicklung der Inflationsrate in den USA und Deutschland 131 Deutschland: Harmonisierter Verbraucherpreisindex (HVPI) -1 0 1 2 3 4 5 -10 0 10 20 30 40 50 15 16 17 18 19 20 21 (Verkaufs-) Preiserwartungen der Industrie: nächste 3M (%) (links) VPI (% gg. Vj.) (rechts) Quellen: Statistisches Bundesamt, Eurostat, Deutsche Bank Research * Saldo der Umfragemeldungen (saisonbereinigt) bezüglich der erwarteten Verkaufspreise in den nächsten drei Monaten DE: Verbraucherpreisindex (VPI) vs. Preiserwartungen* der Industrie (Eurostat - Umfrage) 132 Die Rückkehr massiver Staatsausgaben: Wird dieses Mal wirklich alles anders? 52 | 4. August 2021 Deutschland-Monitor Es gibt zahlreiche empirische Belege dafür, dass eine zu hohe Staatsverschul dungsquote negative wirtschaftliche Folgen nach sich ziehen kann. Im schlim msten Fall kann sie einerseits zu einer Staatsschulden-, Banken- und/oder mul tiplen Finanzkrise führen oder sich zumindest (über eine Verdrängung der priva ten Investitionen) als belastender Faktor für das Wirtschaftswachstum heraus stellen. Aber selbst, wenn das gegenwärtige, für die Finanzpolitik äußerst güns tige Niedrig-/Negativzinsumfeld noch eine Weile anhalten sollte, gehen mit der nicht nachhaltigen Geld- und Fiskalpolitik ökonomische Kosten einher, die sich bereits an anderen Stellen gezeigt haben. In vielen großen Volkswirtschaften hat die nicht nachhaltige Fiskalpolitik bereits zu einer sehr hohen Steuerbelastung geführt, die erforderlich geworden ist, um zumindest einen Teil der höheren Staatsausgaben gegenzufinanzieren. Diese Steuerlast dürfte in vielen Staaten noch weiter ansteigen und somit zu einer zu nehmenden Gefahr für den Arbeitsmarkt - also die Erwerbstätigkeit - werden, sofern es zu keinen Korrekturen in der Haushaltspolitik kommt. Darüber hinaus hat die hochgradig expansive Geldpolitik, die durch die nicht nachhaltige Fiskal politik zunehmend verfestigt werden könnte, bereits zu einer starken Vermö genspreisinflation geführt, welche die Einkommens- und Vermögensungleich heiten noch weiter verschärfen könnte. Die fiskalischen Ressourcen sind immer noch endlich: Die Regierungen müssen klarere Budgetprioritäten setzen Da die Steuerbelastung der heutigen und künftigen Steuerzahler nicht ins Uner messliche steigen kann - sofern man vor einem Rückgang der Erwerbstätigkeit, der Wirtschaftsleistung und somit des Wohlstandes zurückschreckt -, sind die fiskalischen Ressourcen noch immer endlich. Aus diesem Grund liegt es aus der Regierungssicht nahe, die Zusammensetzung des Staatshaushaltes wachs tumsfreundlicher zu gestalten. In vielen großen Ländern stehen die Sozialaus gaben bereits für den größten Teil der gesamten Staatsausgaben (mit einer steigenden Tendenz). Einen besonders großen Anteil nehmen dabei vor allem die staatlichen Ausgaben für die Alters- und Gesundheitsversorgung ein (insbe sondere in vielen europäischen Staaten). Darüber hinaus dürften die alterungs bezogenen Staatsausgaben (z.B. für die Rente, die Gesundheit oder soziale Pflege) im Zuge der rapiden Alterung der Bevölkerung in erheblichem Maße weiter zunehmen, sodass diese mit der Zeit schließlich andere Ausgabenposten im Haushalt verdrängen könnten („soziale Dominanz"). Daher führt in vielen Ländern kein Weg daran vorbei, die Staatshaushalte durch notwendige Strukturreformen in den sozialen Sicherungssystemen (Rente, Ge sundheit und soziale Pflege) nachhaltiger aufzustellen. Eine naheliegende, je doch politisch unpopuläre Maßnahme wäre es, die Lebensarbeitszeit der Men schen mit der (steigenden) Lebenserwartung zu verknüpfen und sich bei den staatlichen Sozialausgaben wieder stärker auf das Bedürftigkeitsprinzip zu be sinnen. In den Ländern, in denen die Steuerbelastung (und die Ausgabenquote) noch relativ niedrig sind, könnten auch höhere Steuereinnahmen in Erwägung gezogen werden, um die Tragfähigkeit der Staatsverschuldung wiederherzustel len. Solche Länder mit einer bereits hohen Steuerlast sollten sich jedoch vorwie gend darauf konzentrieren, fiskalische Spielräume über eine klarere Prioritäten setzung in der Ausgabenpolitik zurückzugewinnen. -15 -10 -5 0 5 10 15 -1 0 1 2 3 4 5 05 07 09 11 13 15 17 19 21 Verbraucherpreisindex (links) Erzeugerpreisindex (rechts) Importpreisindex (rechts) % gg. Vj. Quellen: Statistisches Bundesamt, Deutsche Bank Research DE: Verbraucher-, Erzeuger- und Importpreisentwicklung 133 40 45 50 55 60 65 70 75 80 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 PMI Input-Preise PMI Output-Preise Quellen: IHS Markit, Deutsche Bank Research Index (saisonbereinigt) (Verarbeitendes Gewerbe und Dienstleistungssektor) DE: Die Zahlen zum Einkaufsmanager - Index (PMI) signalisieren einen anhaltend hohen Preisdruck 134 -8 -6 -4 -2 0 2 4 6 95 00 05 10 15 20 25 DE US JP Produktionslücken, % Produktionspotenzial Quellen: IWF, Deutsche Bank Research Die US - Produktionlücke dürfte laut IWF - Prognosen schon in diesem Jahr wieder positiv werden 135 Die Rückkehr massiver Staatsausgaben: Wird dieses Mal wirklich alles anders? 53 | 4. August 2021 Deutschland-Monitor Staatliche Investitionsprogramme müssen ausgewogen bleiben und erfordern Verbesserungen bei den Angebotsbedingungen Konjunkturprogramme haben in der aktuellen Krise ihre Daseinsberechtigung; deren Volumina müssen jedoch ausgewogen bleiben. Das jüngste US Konjunkturprogramm hat Ängste geschürt, dass das Volumen des Pakets zu groß sein und es dadurch zu einer höheren Verbraucherpreisinflation kommen könnte. Im Kontext der gestiegenen US-Inflationsrate hat Lawrence H. Sum mers bereits davor gewarnt, dass eine „Überhitzung - und nicht eine übermä ßige Flaute - in den nächsten ein, zwei Jahren das dominierende Wirtschaftsri siko für die USA darstellt" (siehe den CNN-Artikel: „Larry Summers sends infla tion warning to White House: Dominant risk to economy is 'overheating'"). Ein allzu großer finanzpolitischer Impuls, der die momentan negative Output-Lü cke übersteigt und damit in der kurzen Frist auf ein begrenztes Angebot trifft, würde unweigerlich zu Verdrängungseffekten führen. Selbst wenn es im gegen wärtigen Niedrigzinsumfeld zu keinen nennenswerten, klassischen Verdrän gungseffekten kommen sollte (im Sinne eines durch höhere Zinsen ausgelösten Rückgangs der privaten Investitionstätigkeit), dürfte es zumindest zu entspre chenden Verdrängungseffekten bei den real verfügbaren - und kurzfristig be grenzten - Ressourcen wie den Arbeitskräften, Rohstoffen und Sachkapital kommen. Insbesondere in den schnell alternden Volkswirtschaften, in denen der Fach kräftemangel schon heute ein drängendes Problem darstellt, wäre ein allzu gro ßes und überambitioniertes öffentliches Investitionsprogramm ohne begleitende Reformen auf der Angebotsseite (die z.B. die Arbeitsanreize über eine längere Wochen- oder Lebensarbeitszeit stärken) nicht erfolgversprechend. Aus den Er fahrungen der Geschichte wissen wir zudem, dass der Staat nicht der bessere Unternehmer ist. Deswegen sollten die staatlichen Markteingriffe und Aktivitäten auf diejenigen Bereiche begrenzt bleiben, in denen sie unbedingt erforderlich sind (wie z.B. bei der Existenz natürlicher Monopole und/oder dem Vorliegen von Marktversagen). Das freie Spiel der Marktkräfte bleibt dabei eine Grundvo raussetzung, um den wirtschaftlichen Wohlstand zu wahren oder weiter mehren zu können. Dazu gehören Marktpreise, die sich beim Zusammentreffen von An gebot und Nachfrage frei einstellen können, und deren zentrale Funktion darin besteht, existierende Angebotsengpässe/-überschüsse in den Wirtschaftsberei chen anzuzeigen. Heutzutage sind daher oftmals nicht mehr, sondern weniger staatliche Eingriffe gefragt. In jedem Fall sollten zusätzliche bzw. stärkere Staatseingriffe immer wohlüberlegt sein. Ebenso sollten die mit den Staatsein griffen verbundenen, für den Privatsektor einhergehenden, negativen Nebenwir kungen mit bedacht werden. Eine zur Ankurbelung des Wirtschaftswachstums betriebene Fiskalpolitik stößt unweigerlich an (natürliche) Grenzen Für den effektiven Einsatz geld- und fiskalpolitischer Maßnahmen zur Förderung des Wirtschaftswachstums gibt es unweigerlich Grenzen. Ein allzu großes und blindes Vertrauen in die Wirksamkeit aktiver staatlicher Investitionspolitik kann zu einer erheblichen Fehlallokation von Steuergeldern führen. Der aktuelle Zeit geist, groß angelegte öffentliche Investitionsprogramme als einfaches Mittel zur Lösung sämtlicher wirtschaftlicher, politischer, sozialer oder ökologischer Prob leme zu betrachten, kann daher problematisch werden. Es lässt sich nicht abzu streiten, dass die Staaten in der Wirtschafts-, Sozial- und Umweltpolitik vor gro ßen Herausforderungen stehen. Aus diesen Gründen sind auch höhere öffentli che „Investitionen" in Bildung, Forschung und Entwicklung sowie die Digitalisie rung und die Dekarbonisierung der Wirtschaft nötig, um das Wachstumspoten zial zu stärken und den digitalen und ökologischen Wandel voranzubringen. -10 -8 -6 -4 -2 0 2 4 6 85 90 95 00 05 10 15 20 Outputlücke, % Produktionspotenzial Struktureller Primärsaldo, % BIP Quelle: OECD USA: Outputlücke vs. struktureller Primärsaldo des Staates 136 0,0 0,5 1,0 1,5 2,0 2,5 3,0 3,5 4,0 4,5 -6 -4 -2 0 2 4 85 89 93 97 01 05 09 13 17 21 Produktionslücke, % Produktionspotenzial (%) (links) Kerninflationsrate, % (rechts) USA: Produktionslücke vs. Kerninflation 137 Quelle: OECD 25 30 35 40 45 50 55 00 02 04 06 08 10 12 14 16 18 20 OECD CA FR DE IT JP GB US Quellen: OECD, Deutsche Bank Research % der Arbeitskosten OECD: Steuer - und Abgabenkeil für Einzelverdiener ohne Kinder* 138 * mit einem Einkommensniveau von 100% des durchschnittlichen Arbeitseinkommens Die Rückkehr massiver Staatsausgaben: Wird dieses Mal wirklich alles anders? 54 | 4. August 2021 Deutschland-Monitor Dennoch ist es ein Irrglaube davon auszugehen, dass dieser Wandel (mindes tens in der Übergangsphase) keinerlei oder kaum fiskalische, ökonomische und soziale Kosten verursachen wird. Aufgrund der mit der Transformation verbun denen, hohen wirtschaftlichen Kosten sind ein wohlabgestimmter Ansatz bzw. in sich stimmige Rahmenbedingungen von entscheidender Bedeutung, um die Transformation zu den geringstmöglichen wirtschaftlichen Kosten meistern zu können. Grundsätzlich sollte für die Regierungen gelten, dass die staatlichen In vestitionsentscheidungen auf der Grundlage einer profunden Kosten-Nutzen- bzw. Bedarfsanalyse getroffen werden. Vor diesem Hintergrund kann man auch den gegenwärtigen, im Rahmen des Bundestagswahlkampfes zu beobachten den Überbietungswettbewerb der politischen Parteien mit Blick auf eine vielfach gewünschte staatliche Investitionsoffensive kritisch sehen. Schlussendlich sind aus einer Investitionsperspektive der Wirtschaft und Bürger nicht die von den Parteien im Wahlkampf ausgerufenen Investitionssummen („Schaufenstersum men") entscheidend, sondern vielmehr der tatsächliche, realistischerweise vor handene und zu befriedigende Investitionsbedarf der Volkswirtschaft. Wenn öffentliche Investitionsausgaben aber künftig nur noch nach Maßgaben politischer Zielsetzungen (politischer Wirtschaftspläne) durchgeführt werden sol len, sind Fehlallokationen, Missbrauch und Verschwendung öffentlicher Steuer gelder Tür und Tor geöffnet und somit ein Einkommens- und Wohlstandsverlust vorprogrammiert. Um nachteilige „Boom-bust"-Wirtschaftszyklen zu verhindern, ist es von äußerster Wichtigkeit, dass die öffentliche Investitionstätigkeit nicht statisch, sondern in einem dynamischen Prozess abläuft. Staatliche Investitions entscheidungen sollten dabei auf der Grundlage eines regelmäßigen Überwa chungs- und Steuerungsprozesses stattfinden: D.h. Haushaltsmittel, die für ihre eigentlich vorgesehenen Zwecke nicht abgerufen bzw. benötigt worden sind, sollten entweder in andere unterfinanzierte Bereiche umgeleitet werden, bei de nen zusätzliche Investitionsmaßnahmen von Nutzen sind. Trifft dies aber nicht zu, sollten die überschüssigen Budgetmittel einfach eingespart werden oder dazu genutzt werden, angebotsstärkende Steuererleichterungen zu finanzieren. Große Staaten haben eine Vorbildfunktion für kleinere Staaten Die sehr großen US-Konjunkturprogramme haben zunehmend die fiskalpoliti sche Debatte außerhalb der USA beeinflusst. Das liegt unter anderem an der herausragenden Rolle und Bedeutung der US-Wirtschaft für die Weltwirtschaft und die globalen Kapitalmärkte. In gewisser Weise erhöht jedes zusätzliche US Konjunkturprogramm den Druck auf die anderen Staaten, es den USA gleichzu tun, da diese Länder ansonsten befürchten könnten, gegenüber den USA in puncto internationaler Wettbewerbsfähigkeit zurückzufallen. Wenn die deutsche Bundesregierung auch über die Pandemie hinaus eine nicht nachhaltige Fiskal politik verfolgt, indem sie z.B. weiterhin die von der Schuldenbremse des Bun des eingezogenen Haushaltsgrenzen außer Kraft setzt, ist es nicht unwahr scheinlich, dass andere fiskalisch schwächere europäische Länder dem deut schen Beispiel folgen werden. Dies könnte schließlich nicht nur in Deutschland, sondern auch anderen europäischen Staaten die fiskalpolitische Glaubwürdig keit und Verlässlichkeit beschädigen. Aus der Vergangenheit wissen wir nur allzu gut, wohin ein solcher Weg im schlimmsten Fall führen kann. Von den Ver stößen Deutschlands und Frankreichs gegen die Regeln des Europäischen Sta bilitäts- und Wachstumspakts (SGP) in den Jahren 2002/03 gingen mit Sicher heit keine positiven Signale für eine umsichtige bzw. disziplinierende Fiskalpoli tik im Rest der Eurozone aus. Mit Ausbruch der europäischen Staatsschulden krise waren schließlich Deutschland und Frankreich dazu gezwungen, an der Einführung umfassender europäischer Rettungsprogramme und -mechanismen mitzuwirken, um letztlich eine Kettenreaktion an staatlichen Zahlungsausfällen in der Eurozone zu verhindern. 15 20 25 30 35 40 45 50 00 02 04 06 08 10 12 14 16 18 20 OECD CA FR DE IT JP GB US Quellen: OECD, Deutsche Bank Research OECD: Steuer - und Abgabenkeil für Familien mit Kindern* 139 * Verheirater Doppelverdienerhaushalt mit zwei Kindern, wobei ein Partner 100% und der andere 67% des durchschnittlichen Arbeitseinkommens verdient. % der Arbeitskosten 0 5 10 15 20 25 30 35 40 DE BE AT IT NL PT FR GR OECD IE SE US AU GB CA JP ES CH KR Sozialversicherungsbeiträge der Arbeitnehmer auf das Arbeitseinkommen Einkommensteuer der Arbeitnehmer auf das Arbeitseinkommen Quellen: OECD, Deutsche Bank Research % der Bruttoverdienste der Arbeitnehmer * Für einen Einzelverdiener ohne Kinder mit einem Einkommensniveau in Höhe von 100% des Durchschnittseinkommens. OECD: Steuer - und Abgabenbelastung für Arbeitnehmer (2020) 140 Die Rückkehr massiver Staatsausgaben: Wird dieses Mal wirklich alles anders? 55 | 4. August 2021 Deutschland-Monitor Wenn Regierungen - sei es in den USA, Deutschland, Europa oder anderen Teilen der Welt - weiterhin die Grenzen der Fiskalpolitik ignorieren, dürfte dies entweder zu einer strukturell höheren Inflation, wirtschaftlich schmerzhaften „Boom-bust"-Zyklen oder einem allmählich sinkenden Wirtschaftswachstum füh ren. Wenn die Staaten nicht willens sind, ihre fiskalischen Puffer wieder aufzu füllen und die Tragfähigkeit der Staatsverschuldung wiederherzustellen, könnte es trotz des aktuell niedrigen Zinsniveaus sehr viel eher zu einer größeren Ver trauenskrise bzw. Staatsschuldenkrise kommen, als die meisten Beobachter derzeit zu glauben wagen. Denn die Geschichte lehrt auch, dass die nächste große Wirtschafts-/Finanzkrise mit hoher Sicherheit kommen wird. Ungewiss bleibt nur, wann genau sie eintreten wird. Schlussendlich sollten die Staaten nur solche öffentliche Investitionen anstoßen, die unter einer volkswirtschaftlichen Nutzenbetrachtung vernünftig und profitabel sind. Um zu verhindern, dass öffentliche Steuergelder über höhere Investitions preise verpuffen, sollte der Umfang der öffentlichen Investitionsoffensive in ei nem realistischen und ausgewogenen Rahmen bleiben. Nicht eine kurzfristig und auf große Summen setzende Investitionspolitik, sondern vielmehr eine an Kosten-Nutzen-Überlegungen ansetzende und zeitverstetigende Investitionspo litik sollte das Ziel sein. Denn dann dürften sich die Investitionen nicht nur für die heutigen, sondern auch die künftigen Generationen auszahlen. Notwendige öf fentliche Infrastrukturinvestitionen - sofern sie gut geplant und umgesetzt wer den - dürften sich langfristig positiv für die Volkswirtschaft auszahlen. Darüber hinaus kann der dringend erforderliche - und mit erheblichen Herausforderun gen verbundene - digitale und grüne Strukturwandel nur über entsprechende Investitionen in diesen Bereichen bewältigt werden. Das derzeit (noch) niedrige Zinsumfeld stellt für die Staaten eine günstige Gelegenheit dar, den erforderli chen öffentlichen (Infrastruktur-) Investitionsbedarf zu bezahlbaren Finanzie rungsbedingungen zu decken. Dennoch darf die Fiskalpolitik mit Blick auf die Modernisierungsoffensive nicht nur einseitig die Nachfrageseite betrachten, sondern muss vielmehr auch die dazu erforderlichen Angebotsbedingungen ver bessern. Eine staatliche Fiskal-/Investitionspolitik, welche die bestehenden an gebotsseitigen Probleme ausblendet, wird nicht halten können, was sie ver spricht. Denn eine vernachlässigte Angebotsseite könnte schlichtweg nicht mit der deutlich höheren Nachfrage Schritt halten, sodass es in diesem Fall bei den realen Ressourcen (wie z.B. Facharbeitern) zu Verdrängungseffekten und damit einer Preissteigerung kommen dürfte. Auch wenn der EU-Wiederaufbauplan große Produktivitätschancen für die Mit gliedstaaten eröffnet und damit das Potenzialwachstum in der Eurozone stärken könnte, bleibt er alles andere als ein Selbstläufer. Die Erfahrung mit niedrigen Absorptionsraten in der EU - vor allem in den beiden Ländern, die in absoluten Eurobeträgen die voraussichtlich höchsten nicht rückzahlbaren Zuschüsse er halten dürfen (Italien und Spanien) (siehe Grafik 104) - verdeutlicht, dass die politischen Entscheidungsträger auch an verbesserten Angebotsbedingungen in der Wirtschaft und effizienteren Prozessen in der öffentlichen Verwaltung arbei ten müssen, um zu einer schnelleren Ausschöpfung dieser Finanzmittel gelan gen zu können. In diesem Kontext warnt schließlich Zsolt Darvas vom Bruegel Thinktank in ei nem Blogpost, dass „die Inanspruchnahme von EU-Mitteln in der Regel langsam ist und manche Länder damit Probleme haben könnten, das [Geld] auszugeben, was sie bekommen können". Er rät daher, dass „der Fokus auf sinnvollen Aus gaben liegen sollte und nicht nur auf der Ausschöpfung von EU-Mitteln". Aus unserer Sicht sollten die großen Länder wie z.B. die USA oder Deutschland nicht nur in puncto nachhaltige Fiskalpolitik, sondern auch bei der effektiven und effizienten Planung sowie Umsetzung sinnvoller Infrastrukturinvestitionen - die zur Ankurbelung des Wirtschaftswachstums notwendig sind - mit entsprechend gutem Beispiel vorangehen. 32 34 36 38 40 42 44 46 95 97 99 01 03 05 07 09 11 13 15 17 19 EU28 EA19 DE FR IT ES NL SE EU: Ausgaben für die soziale Sicherung 141 % Staatsausgaben Quellen: Eurostat, AMECO, Deutsche Bank Research 8 10 12 14 16 18 20 95 97 99 01 03 05 07 09 11 13 15 17 19 EU28 EA19 DE FR IT ES NL SE EU: Gesundheitsausgaben 142 % Staatsausgaben Quellen: Eurostat, AMECO, Deutsche Bank Research 7 8 9 10 11 12 13 14 15 95 97 99 01 03 05 07 09 11 13 15 17 19 EU28 EA19 DE FR IT ES NL SE EU: Bildungsausgaben 143 % Staatsausgaben Quellen: Eurostat, AMECO, Deutsche Bank Research Die Rückkehr massiver Staatsausgaben: Wird dieses Mal wirklich alles anders? 56 | 4. August 2021 Deutschland-Monitor G. Fazit Die Corona-Pandemie hat zu einem massiven, weltweiten Schock für die öffent lichen Finanzen geführt, der sich in einem starken Anstieg der Haushaltsdefizite und Staatsverschuldung gezeigt hat. Zur Bekämpfung der Gesundheits- und Wirtschaftskrise haben die Staaten weltweit ihre Haushaltsschleusen geöffnet. Infolgedessen sind die Staatsschuldenquoten massiv angestiegen und haben daraufhin in vielen Volkswirtschaften neue - zu Friedenszeiten noch nie dage wesene - Rekordwerte erreicht. Auch wenn ein entschiedenes Einschreiten der Finanzpolitik wohl unvermeidlich war, hat der Trend zu immer höheren öffentli chen Haushaltsdefiziten und Staatsschulden mittlerweile besorgniserregende Ausmaße angenommen. In der Tat haben sich die Defizit- und Staatsschulden quoten in vielen Ländern mit jeder Krise immer weiter erhöht. Darüber hinaus rächen sich nunmehr die in vielen großen Volkswirtschaften - aufgrund einer gewissen Reformmüdigkeit - unterlassenen Strukturreformen sowie ein grund sätzlich zu lockerer finanzpolitischer Kurs in der Vor-Corona-Zeit. In vielen hoch verschuldeten Ländern scheinen die Staatsfinanzen nicht mehr tragfähig zu sein. Angesichts der Tatsache, dass die finanzpolitischen Puffer in der aktuellen Krise weitestgehend ausgeschöpft worden sind - und in dem Bewusstsein, dass der zeitliche Abstand von einer zur nächsten Krise immer kürzer geworden ist -, haben die meisten Staaten augenscheinlich gar keine andere Wahl, als die öf fentlichen Finanzen im Nachgang an die Pandemie zu konsolidieren und die Tragfähigkeit der Staatsverschuldung wiederherzustellen. Aufgrund der schwachen Wachstumsaussichten kommt die Sanierung der Staatsfinanzen in den hoch verschuldeten Staaten jedoch einer Herkulesauf gabe gleich. Aber auch niedriger verschuldete Staaten (wie z.B. Deutschland) stehen Demografie-bedingt vor enormen Herausforderungen. Um das Wachs tum der Sozialausgaben unter Kontrolle zu halten und die Arbeitsanreize zu stärken, müssten diese Staaten mehr Haushaltsmittel in produktive Ausgaben bereiche lenken und gleichzeitig die erforderlichen Strukturreformen anpacken. In den moderat verschuldeten Ländern könnten produktivitäts-/wachstumsför dernde öffentliche Investitionen zumindest einen Beitrag dazu leisten, wieder aus den Schulden herauszuwachsen. Die Rekordverschuldung konnte bislang nur dank der Niedrigzinsen und der de facto Monetarisierung von Staatsschulden durch die Notenbanken unter Kon trolle gehalten werden (siehe Grafiken 146-49). Das aktuelle Gleichgewicht aus niedrigen Zinsen und hohen Staatsschulden bleibt ein fragiles Gebilde, welches in ganz entscheidender Weise eine weiterhin niedrige Inflationsdynamik voraus setzt. Sollte die Inflation dauerhaft nach oben schießen und die Zentralbanken nicht entsprechend gegensteuern, könnte die Preisdynamik außer Kontrolle ge raten. Sollten die Zentralbanken jedoch allzu kräftig auf das Bremspedal treten, könnten steigende Risikoprämien schlimmstenfalls eine Schuldenkrise auslösen und einen schmerzhaften Anpassungsprozess erzwingen. Inspiriert vom US-„XXL"-Fiskalvorstoß erleben wir derzeit im deutschen Bundes tagswahlkampf einen regelrechten Überbietungswettbewerb mit Blick auf die staatlichen Investitionen. Der aktuelle Zeitgeist, in schuldenfinanzierten Investiti onen ein Allheilmittel für alle gesellschaftlichen Probleme zu sehen, ist proble matisch. Damit soll keineswegs der Nutzen produktivitätsfördernder Investitio nen (wie z.B. in die Digitalisierung) infrage gestellt werden. Allerdings sollte be dacht werden, dass eine solche Investitionsoffensive nur gelingen kann, wenn sie sukzessive und mit Maß und Mitte erfolgt und die dafür erforderlichen Ange botsbedingungen in der Wirtschaft verbessert werden. Anderenfalls riskieren wir, gerade mit Blick auf den bevorstehenden demografischen Wandel, die glei chen Fehler wie in den 1970er Jahren zu begehen, die zur Stagflation führten. Sebastian Becker (+49 69 910-21548, sebastian-b.becker@db.com) 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 FI IE AT SE FR NL PT DE HU CZ GR PL IT DK BE RO ES Absorptionsrate (Ende 2020) EU-Durchschnitt EU: Absorptionsraten der Finanzmittel aus dem Europäischen Struktur - und Investitionsfonds* (2014 - 20) 144 * European Structural and Investment Funds (ESIF) Absorptionsrate (Ende 2020), % Quellen: Europäische Kommission (European Structural and Investment Funds), Deutsche Bank Research -18 -16 -14 -12 -10 -8 -6 -4 -2 0 -6 -5 -4 -3 -2 -1 0 1 2 3 85 89 93 97 01 05 09 13 17 21 Produktionslücke, % Produktionspotenzial (%) (links) Struktureller Finanzierungssaldo, % Produktionspotenzial (rechts) Quelle: OECD USA: Produktionslücke vs. struktureller Finanzierungssaldo des Staates 145 Die Rückkehr massiver Staatsausgaben: Wird dieses Mal wirklich alles anders? 57 | 4. August 2021 Deutschland-Monitor H. Anhang: Wirtschaftstheoretische Aspekte zur Fiskalpolitik und Staatsverschuldung Ein Blick in die Geschichte der Wirtschaftswissenschaften zeigt, dass sich die vorherrschende Meinung zur Wirtschaftspolitik im Allgemeinen - und der Rolle der Fiskalpolitik bzw. Staatsverschuldung im Besonderen - mit der Zeit fortlau fend verändert hat, genauso wie sich auch die vorherrschenden Wirtschaftsthe orien über die Zeit weiterentwickelt haben. Die Einschätzungen zu der Frage, welche Rolle die Fiskalpolitik allgemein einnehmen sollte, hängen sehr stark von der jeweiligen wirtschaftstheoretischen Betrachtungsweise zu den Kosten und Nutzen der öffentlichen Verschuldung ab. In der neoklassischen Theorie führt eine schuldenfinanzierte Haushaltspolitik entweder zu (a) einem niedrigeren künftigen Produktions- und Einkommensni veau, weil der dadurch ausgelöste Zinsanstieg zu einer Verdrängung privater In vestitionen und einem fortan niedrigeren privaten Kapitalstock führt und/oder zu (b) einem niedrigeren Volkseinkommen, das sich aus einer Verschlechterung der Außenbilanz ergibt, weil der Staat die auf seine Auslandsschulden zu leis tenden Zinsausgaben an Nicht-Gebietsansässige transferieren muss. Diese bei den - von einer höheren Staatsverschuldung auf Produktion und/oder Einkom men ausgelösten - negativen Effekte treten in der Theorie jedoch nur dann auf, wenn das sogenannte „Ricardianische Äquivalenztheorem" nicht gilt, d.h. keine „Schuldenneutralität" vorliegt. Gemäß der „Ricardianischen Äquivalenz" würde nämlich ein höheres öffentli ches Haushaltsdefizit (d.h. ein höherer staatlicher Finanzierungsbedarf) und ein dadurch ausgelöster Schuldenanstieg vollständig über einen proportionalen An stieg der privaten Ersparnisse gegenfinanziert werden, da die aktuelle Genera tion aufgrund inhärenter altruistischer Motive ihren privaten Konsum entspre chend einschränken würde. Tatsächlich verwarf der klassische Ökonom David Ricardo, der dieses Theorem entwickelte, selbiges später als nicht plausibel. Im Großen und Ganzen wird in der Neoklassik angenommen, dass ein dauerhafter Anstieg der öffentlichen Schulden schädlich für das künftige Produktions- und Einkommensniveau ist und es somit zu einer Einkommensumverteilung zwi schen den Generationen kommt, von der die aktuelle Generation zulasten künf tiger Generationen profitiert („Ausnutzung künftiger Generationen"). In der keynesianischen Wirtschaftstheorie nimmt die Fiskalpolitik (bzw. die öf fentliche Verschuldung) eine Schlüsselrolle in der aktiven Wirtschaftspolitik ein, da sie einen Staat in die Lage versetzt, eine unter Nachfrageschwäche leidende (d.h. unterausgelastete) Volkswirtschaft zum neuen gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht zurück zu verhelfen. In einem solchen Fall wird einer defizitbetrie benen/schuldenfinanzierten expansiven Fiskalpolitik die Hauptrolle zuteil, da diese es schließlich ermöglicht, die schwache Nachfrage wieder anzukurbeln und zurück auf das höhere gesamtwirtschaftliche Angebotsniveau zu hieven. Die neoklassische Theorie geht davon aus, dass sich bei freien Märkten (cha rakterisiert durch rationales Verhalten, einen vollständigen Wettbewerb, Ge winn- und Nutzenmaximierung von Produzenten und Konsumenten sowie keine Lohn- und Preisrigiditäten) ein gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht automa tisch einstellt. Während es in der Neoklassik daher auch keine unfreiwillige Ar beitslosigkeit gibt, geben keynesianische Ökonomen zu bedenken, dass Nach frageschocks (wie z.B. die Große Depression) eine Volkswirtschaft für einen ziemlich langen Zeitraum unter ihr Produktionspotenzial drücken können. Aus diesem Grund führt eine gesamtwirtschaftliche Nachfrageschwäche auch zu einer unfreiwilligen Arbeitslosigkeit, die für eine sehr lange Zeit fortbestehen kann („auf lange Sicht sind wir alle tot"), sofern die Regierung und/oder die Zen tralbank nicht über eine antizyklische (d.h. expansive) Fiskal- und Geldpolitik ge 0 20 40 60 80 100 120 140 00 02 04 06 08 10 12 14 16 18 20 davon: außerhalb der Notenbank davon: in der Bilanz der Notenbank Staatsverschuldung USA 146 Quellen: Federal Reserve, IWF WEO, WEFA, Deutsche Bank Research Staatsverschuldung, % BIP Staatsverschuldung: IWF - Zeitreihe. In der Bilanz der Notenbank gehaltene Staatsschulden: Siehe auch die Erläuterungen in Grafik 30. 0 50 100 150 200 250 300 00 02 04 06 08 10 12 14 16 18 20 davon: außerhalb der Notenbank davon: in der Bilanz der Notenbank Staatsverschuldung Japan 147 Staatsverschuldung, % BIP Quellen: Bank von Japan, IWF WEO, WEFA, Deutsche Bank Research Staatsverschuldung: IWF - Zeitreihe. In der Bilanz der Notenbank gehaltene Staatsschulden: Siehe auch die Erläuterungen in Grafik 30. Die Rückkehr massiver Staatsausgaben: Wird dieses Mal wirklich alles anders? 58 | 4. August 2021 Deutschland-Monitor gensteuern würde(n). Obwohl eine expansive Fiskalpolitik auch in der keynesia nischen Wirtschaftstheorie zu einer teilweisen Verdrängung privater Investitio nen führen kann, werden die daraus entstehenden Nachteile durch die aus dem fiskalischen Multiplikator-Effekt entstehenden Vorteile (d.h. durch ein höheres Einkommensniveau) überkompensiert. Die gegenwärtig vorherrschenden Wirtschaftstheorien betrachten die volkswirt schaftlichen Prozesse auf eine deutlich differenziertere Art und Weise. Der so genannte Neukeynesianismus , der heute zum makroökonomischen Mainstream gehört, baut sein Theoriegebäude sowohl auf keynesianischen (hauptsächlich kurzfristigen) als auch neoklassischen (hauptsächlich langfristigen) Elementen auf. Im Neukeynesianismus ist es zunächst einmal die Aufgabe der Geldpolitik - der eine besondere Wirksamkeit zugeschrieben wird -, den Konjunkturverlauf zu steuern (und nicht der Fiskalpolitik, wie von Keynes postuliert). Ihre Gegen spieler, die Verfechter des Postkeynesianismus oder der sogenannten Modern Monetary Theory (MMT) , betonen deutlich stärker die Rolle der Fiskalpolitik. In der MMT wird die Fiskal- und Geldpolitik im Grunde genommen als ein und dasselbe betrachtet. Ferner postuliert sie, dass der Staat die Fiskalpolitik als Hauptwerkzeug dazu einsetzten sollte, Vollbeschäftigung zu erreichen und die Inflation unter Kontrolle zu halten („Functional finance") (siehe auch eine kriti sche Diskussion der MMT von Michael Krause und Thomas A. Lubik vom Insti tut für Wirtschaftspolitik an der Universität zu Köln (iwp)). Eine zentrale An nahme der MMT ist, dass der Staat grundsätzlich nicht zahlungsunfähig werden kann, solange er seine Haushaltsdefizite und Staatsschulden in eigener Wäh rung finanziert bzw. denominiert, da er die heimische Währung bei Bedarf selbst schaffen kann. Der effektive Einsatz der Fiskalpolitik zur Förderung des Wirt schaftswachstums wird lediglich durch die Inflation eingeschränkt. Eine zentrale Schwäche der MMT ist ihre stark mechanisch ausgerichtete Be trachtungsweise im Rahmen von Bilanzbeziehungen bzw. Buchführungsprozes sen. Ebenso werden die von einer solchen Wirtschaftspolitik ausgehenden (ne gativen) Auswirkungen auf das Anreiz- und Vermeidungsverhalten der Wirt schaftssubjekte (Haushalte, Unternehmen) nicht ausreichend berücksichtigt. Obwohl es richtig sein mag, dass ein Staat nicht zahlungsunfähig werden kann, sofern er seine Schulden ausschließlich in seiner eigenen (jederzeit „nachdruck baren") Währung aufgenommen hat, ignoriert die MMT die Tatsache, dass die privaten Haushalte und Unternehmen die nationale Währung nur dann verwen den wollten, wenn sie in deren Werthaltigkeit vertrauen. Es gibt viele Länderbei spiele, die gezeigt haben, dass eine durch MMT inspirierte und über Gebühr be anspruchte Fiskalpolitik oftmals in einer hohen Inflation, Währungsabwertung und wirtschaftlichen Turbulenzen mündet und letztlich das Entstehen von Paral lelwährungen befördert. 0 20 40 60 80 100 120 00 02 04 06 08 10 12 14 16 18 20 davon: außerhalb der Notenbank davon: in der Bilanz der Notenbank Staatsverschuldung Staatsverschuldung, % BIP Eurozone 148 Quellen: EZB, Eurostat, AMECO, Haver Analytics, Deutsche Bank Research Staatsverschuldung: Eurostat/AMECO - Zeitreihe. In der Bilanz der Notenbank gehaltene Staatsschulden: Siehe auch die Erläuterungen in Grafik 30. 0 20 40 60 80 100 120 00 02 04 06 08 10 12 14 16 18 20 davon: außerhalb der Notenbank davon: in der Bilanz der Notenbank Staatsverschuldung Staatsverschuldung, % BIP Vereinigtes Königreich 149 Quellen: Bank von England, IWF WEO, Haver Analytics, Deutsche Bank Research Staatsverschuldung: IWF - Zeitreihe. In der Bilanz der Notenbank gehaltene Staatsschulden: Siehe auch die Erläuterungen in Grafik 30. Die Rückkehr massiver Staatsausgaben: Wird dieses Mal wirklich alles anders? 59 | 4. August 2021 Deutschland-Monitor      In der Reihe „Deutschland-Monitor" greifen wir politische und strukturelle Themen mit großer Bedeutung für Deutschland auf. Darunter fallen die Kommentierung von Wahlen und politischen Weichenstellungen sowie Technologie- und Bran chenthemen, aber auch makroökonomische Themen, die über konjunkturelle Fragestellungen - die im Ausblick Deutsch land behandelt werden - hinausgehen. Deutschland-Monitor © Copyright 2021. Deutsche Bank AG, Deutsche Bank Research, 60262 Frankfurt am Main, Deutschland. Alle Rechte vorbehalten. Bei Zitaten wird um Quellenangabe „Deutsche Bank Research" gebeten. Die vorstehenden Angaben stellen keine Anlage-, Rechts- oder Steuerberatung dar. Alle Meinungsaussagen geben die aktuelle Einschätzung des Ver fassers wieder, die nicht notwendigerweise der Meinung der Deutsche Bank AG oder ihrer assoziierten Unternehmen entspricht. Alle Meinungen kön nen ohne vorherige Ankündigung geändert werden. Die Meinungen können von Einschätzungen abweichen, die in anderen von der Deutsche Bank veröffentlichten Dokumenten, einschließlich Research-Veröffentlichungen, vertreten werden. Die vorstehenden Angaben werden nur zu Informations zwecken und ohne vertragliche oder sonstige Verpflichtung zur Verfügung gestellt. Für die Richtigkeit, Vollständigkeit oder Angemessenheit der vorste henden Angaben oder Einschätzungen wird keine Gewähr übernommen. In Deutschland wird dieser Bericht von Deutsche Bank AG Frankfurt genehmigt und/oder verbreitet, die über eine Erlaubnis zur Erbringung von Bankge schäften und Finanzdienstleistungen verfügt und unter der Aufsicht der Europäischen Zentralbank (EZB) und der Bundesanstalt für Finanzdienstleis tungsaufsicht (BaFin) steht. Im Vereinigten Königreich wird dieser Bericht durch Deutsche Bank AG, Filiale London, Mitglied der London Stock Exchange, genehmigt und/oder verbreitet, die von der UK Prudential Regulation Authority (PRA) zugelassen wurde und der eingeschränkten Aufsicht der Financial Conduct Authority (FCA) (unter der Nummer 150018) sowie der PRA unterliegt. In Hongkong wird dieser Bericht durch Deutsche Bank AG, Hong Kong Branch, in Korea durch Deutsche Securities Korea Co. und in Singapur durch Deutsche Bank AG, Singapore Branch, verbreitet. In Japan wird dieser Bericht durch Deutsche Securities Inc. genehmigt und/oder verbreitet. In Australien sollten Privatkunden eine Kopie der betreffenden Produktinformation (Product Disclosure Statement oder PDS) zu jeglichem in diesem Bericht erwähnten Finanzinstrument beziehen und dieses PDS berücksichtigen, bevor sie eine Anlageentscheidung treffen. Druck: HST Offsetdruck Schadt & Tetzlaff GbR, Dieburg ISSN (Print): 2511-1663 Unsere Publikationen finden Sie unentgeltlich auf unserer Internetseite www.dbresearch.de Dort können Sie sich auch als regelmäßiger Empfänger unserer Publikationen per E-Mail ein tragen. Für die Print-Version wenden Sie sich bitte an: Deutsche Bank Research Marketing 60262 Frankfurt am Main Fax: +49 69 910-31877 E-Mail: marketing.dbr@db.com Schneller via E-Mail: marketing.dbr@db.com  Die Rückkehr massiver Staatsausgaben: Wird dieses Mal wirklich alles anders? ........................ 4. August 2021  Nehmen die Inflationsrisiken in Deutschland tatsächlich zu? Oder machen wir uns wieder einmal umsonst verrückt? . 29. Juli 2021  Die deutsche EU-Politik post-Merkel: Grüner, aber finanzpolitisch weiterhin eher konservativ .. 27. Juli 2021  Zuwanderungsdelle durch Corona in den Jahren 2020/ 2021: Lohndruck könnte in der Dekade ansteigen .......... 22. Juli 2021  Neupositionierung der Berliner Wohnungspolitik ............ 21. Juni 2021  Stimmungsbild deutscher Unternehmen zu zentralen Wahlkampfthemen ...................................... 16. Juni 2021  Klimapolitische Ansprüche treffen auf energiewirtschaftliche Hürden .......................... 7. Juni 2021  Deutscher Büromarkt: Traditionelles Büro bleibt Dreh- und Angelpunkt der Wirtschaft ...................... 2. Juni 2021  Was bewegt die Wähler im September: Post-Corona-Aufschwung oder Dürresommer? ................. 7. Mai 2021  Deutschland in der nächsten Dekade: Ambitionen und Potenziale ............................................ 24. März 2021
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