Aussagen und Maßnahmen von Entscheidungsträgern mit Blick auf die Fiskalpolitik, Strukturreformen oder neue Regulierung beeinflussen die Finanzmärkte immer stärker. Zusätzlich zu den Nachwirkungen der Finanz- und Schuldenkrise sorgten einige jüngste Entwicklungen für erhöhte Aufmerksamkeit. Zum Beispiel wurde der breite Konsens der europäischen Einigung durch das Brexit-Referendum beschädigt. Darüber hinaus erhöhten die Wahlen in den größten europäischen Ländern die politischen Risiken. Angesichts möglicher negativer Effekte für die Volkswirtschaft und die Finanzmärkte ist die wirtschaftspolitische Unsicherheit (WPU) in Europa in den letzten Jahren zunehmend in den Fokus gerückt.
Trotz erhöhtem Interesse war es lange Zeit nicht einfach, dem Verlauf der WPU zu folgen, da sie nicht direkt beobachtbar ist. Mit den Fortschritten in der empirischen Textanalyse ist es jetzt jedoch möglich, die WPU zu messen und Trends zu quantifizieren.[1] Grafik 1 zeigt die Entwicklung des geglätteten europäischen WPU-Index seit 2001. Auffallend ist, dass die WPU seit 2016 sehr stark gestiegen ist. Zum Beispiel war der WPU-Index nach dem Brexit-Referendum 5-mal so hoch wie im Jahr 2007. Ungeachtet einer minimalen Korrektur in den letzten Monaten bleibt der WPU-Index noch sehr erhöht. Um eine potenzielle Übertragung von WPU auf die Kapitalmärkte festzustellen, ist auch der Zusammenhang von WPU und Unsicherheit an den Finanzmärkten (gemessen am VSTOXX) in der Grafik dargestellt. Im Gegensatz zur WPU ist diese in letzter Zeit auf einem Allzeittief. Interessant zu beobachten ist, dass sich die wirtschaftspolitische und die Unsicherheit an den Finanzmärkten mit dem starken WPU-Anstieg 2016 voneinander entkoppelt haben.
Damit ist die Korrelation von rund 60% auf etwa 40% zurückgegangen. Es mag auf den ersten Blick scheinen, dass die WPU eine geringere Wirkung als früher auf die Finanzmärkte hat. Die beiden Indikatoren sind jedoch auf lange Sicht miteinander verbunden, und werden wahrscheinlich auch wieder konvergieren – entweder durch eine Zunahme der Unsicherheit an den Finanzmärkten oder einen Rückgang der WPU in den kommenden Quartalen. Zusätzlich zum Aktienmarkt wird eine hohe WPU tendenziell auch auf die Anleihemärkte übertragen, indem sie zu höheren Spreads von Unternehmensanleihen führt. Um diese negativen Auswirkungen der WPU auf die Kapitalmärkte zu reduzieren, sollten deshalb die Entscheidungsträger während der Brexit-Verhandlungen entschlossen vorgehen und vermeiden, dass weitere wirtschaftspolitisch induzierte Unsicherheiten entstehen.
Durch die wirtschaftliche und monetäre Integration zwischen den EU-Mitgliedstaaten sind die einzelnen EU-Länder miteinander stark verbunden. Grafik 2 beleuchtet die WPU-Trends in den größeren Ländern separat. In Deutschland, Frankreich und Großbritannien gibt es deutliche Parallelen in der Entwicklung. So war der Index vor der Finanzkrise in allen drei Ländern weitgehend niedrig, stieg danach exponentiell an und erreichte 2017 nach dem Brexit-Referendum sein Allzeithoch. Der WPU-Anstieg rund um das Brexit-Referendum war dagegen in den von der Staatsschuldenkrise betroffenen südlichen Ländern wie Italien und Spanien eher moderat, was ziemlich überrascht. Einige Schwächen in der Messung der WPU – z.B. wird bei den Nachrichten, die Unsicherheit anzeigen, nicht zwischen lokalen und internationalen Ursachen unterschieden – können in einigen Fällen, wie etwa dem Brexit, zu einer Überzeichnung der WPU führen. Die stärksten Anstiege der Unsicherheit werden von Ereignissen mit unvorhersehbarem Ausgang ausgelöst. Gleichzeitig wird die WPU insbesondere von den größten EU-Ländern auf andere Länder übertragen. In der Tat zeigt eine dynamisch-bedingte Korrelationsanalyse, dass die dem Brexit geschuldete hohe wirtschaftspolitische Unsicherheit in Großbritannien vor allem zu einer höheren WPU in Deutschland und Frankreich führt, und in geringerem Maße auch auf Spanien und am wenigsten auf Italien übertragen wird.
Im Großen und Ganzen fallen Phasen der erhöhten Unsicherheit mit einem erhöhten Gegenparteirisiko für Banken zusammen. Da die Kreditvergabe ein mittel- bis langfristiges Engagement bedeutet, kann es sein, dass sich die Banken in Phasen erhöhter WPU bei der Kreditvergabe an nichtfinanzielle Firmen oder an Haushalte zurückhalten. Und tatsächlich zeigt unsere empirische Analyse, dass sogar ein nur moderater Anstieg der Unsicherheit die Bankkreditvergabe an nichtfinanzielle Unternehmen erheblich reduziert. Dieser Effekt wird besonders in Spanien und Italien und bis zu einem gewissen Grad in Frankreich beobachtet. Die Wirkung ist nur in Deutschland insignifikant. Darüber hinaus gibt es eine gewisse Asymmetrie der Auswirkungen steigender WPU auf die Kreditvergabe mit Blick auf die Unternehmensgröße. So neigen Banken bei erhöhter WPU gerade bei kleinen und mittleren Unternehmen, die eine zentrale Rolle bei der Beschäftigung und Wertschöpfung spielen, zu einer Drosselung der Kreditvergabe – mehr als bei größeren Firmen. Zusammengenommen können die Banken ein zentraler Kanal sein, über den sich WPU auf die Realwirtschaft überträgt.
Alles in allem hat eine erhöhte WPU negative Auswirkungen auf die Realwirtschaft sowohl über die Kapitalmärkte als auch über eine geringere Bankkreditvergabe an Unternehmen und Privatpersonen. Dabei wird die wirtschaftspolitische Unsicherheit auch grenzüberschreitend zwischen verschiedenen Ländern übertragen. Dies kann eine nachhaltige wirtschaftliche Erholung beeinträchtigen. Daher sind eine Koordinierung der Wirtschaftspolitik und Konvergenz zwischen den verbleibenden EU-Staaten nach dem Brexit wichtig, um die WPU effektiv zu reduzieren und dadurch auch Risiken für die Finanzstabilität zu minimieren.
[1] Dabei misst der WPU-Index von Baker, Bloom und Davis (2016, „Measuring economic policy uncertainty“, The Quarterly Journal of Economics, 131, 1593- 1636), wie häufig Zeitungsartikel erscheinen, die gleichzeitig Wörter mit Bezug zur Wirtschaft, Politik und Unsicherheit beinhalten.