3. März 2015
Die Rentenpolitik der großen Koalition hat Schlagseite. Seit Inkrafttreten der Rente mit 63 im letzten Sommer verabschieden sich jeden Monat durchschnittlich 33.000 Arbeitnehmer mit voller Rente vorzeitig in den Ruhestand. Das macht den weithin beklagten Fachkräftemangel noch brisanter. Die als Gegengewicht geplante Flexi-Rente scheint derzeit jedoch auf Eis zu liegen. Den Koalitionsparteien fällt es anscheinend schwer, sich auf ein Konzept zu einigen. Die SPD strebt vor allem mehr Flexibilität bei Teilrenten vor der Regelaltersgrenze an, während viele in der CDU/CSU bessere Anreize für einen späteren Rentenbezug fordern.
[mehr]Flexi-Rente: Nicht in die falsche Richtung laufen
Dieter Bräuninger
Die Rentenpolitik der großen Koalition hat Schlagseite. Flexi-Rente: Nicht in die falsche Richtung laufen Seite 1 von 3 Aktueller Kommentar Flexi-Rente: Nicht in die falsche Richtung laufen 3. März 2015 Die Rentenpolitik der großen Koalition hat Schlagseite. Seit Inkrafttreten der Rente mit 63 im letzten Sommer verabschieden sich jeden Monat durchschnittlich 33.000 Arbeitnehmer mit voller Rente vorzeitig in den Ruhestand. Das macht den weithin beklagten Fachkräftemangel noch brisanter. Die als Gegengewicht geplante Flexi-Rente scheint derzeit jedoch auf Eis zu liegen. Den Koalitionsparteien fällt es anscheinend schwer, sich auf ein Konzept zu einigen. Die SPD strebt vor allem mehr Flexibilität bei Teilrenten vor der Regelaltersgrenze an, während viele in der CDU/CSU bessere Anreize für einen späteren Rentenbezug fordern. Mehr Flexibilität beim Übergang von Arbeit in Rente ist sinnvoll. In Deutschland fehlen gute Rahmenbedingungen, die Erwerbstätigkeit verbunden mit dem Bezug einer (Teil-)Rente attraktiv machen. Die Fakten sprechen hier Bände: Nur 0,25% der Neurentner wählten 2013 eine Teilrente, das sind rd. 1.600 von knapp 650.000. Und Erwerbstätigkeit jenseits des Rentenalters scheint nur für wenige eine bedenkenswerte Option zu sein. Zwar ist die Erwerbsneigung Älterer in den letzten Jahren gestiegen. Aber nach wie vor arbeitet in Deutschland nur eine von acht Personen im Alter von 65 bis 69, während es in Großbritannien oder der Schweiz jeder Fünfte und in Norwegen sogar jeder Vierte ist. In Deutschland markiert das gesetzliche Rentenalter eine tiefe Zäsur. Weitere Erwerbstätigkeit jenseits dieser Grenze ist zwar möglich. Aber für Arbeitnehmer und Unternehmen bestehen kaum Anreize dafür. Der rechtliche Rahmen vermittelt eher die Botschaft, dass Staat und Gesellschaft verlängerte Erwerbstätigkeit nicht schätzen. Dabei erscheint es nicht nur wegen des Fachkräftemangels sinnvoll, von dem heute üblichen abrupten Einschnitt bei Erreichen des Rentenalters – von derzeit 65 Jahren und 4 Monaten – abzugehen. Unter älteren Beschäftigten gibt es durchaus den Wunsch nach späterem oder stufenweisem Einstieg in den Ruhestand, etwa weil sie ihr Einkommen aufbessern oder ihre Kompetenzen weiterhin in Unternehmen einbringen wollen. Weiterbeschäftigungshemmnisse erwachsen derzeit vor allem aus dem Sozialrecht. Abgesehen von geringfügiger Beschäftigung wird Arbeit jenseits des Rentenalters erheblich mit Sozialabgaben belastet, ohne dass es eine angemessene Gegenleistung dafür gibt. So verlieren Beschäftigte, die das Rentenalter überschreiten, den Anspruch auf Arbeitslosengeld. Gleichwohl fordert der Staat vom Arbeitgeber weiterhin Beiträge zur Arbeitslosenversicherung ein. Auch an die Rentenversicherung muss der Arbeitgeber Beiträge entrichten. Höhere Renten resultieren daraus aber nicht. Das ist schwer nachvollziehbar, passt nicht zum sozialrechtlichen Prinzip von Leistung und Gegenleistung und verteuert die betrieblichen Arbeitskosten von Älteren unsachgemäß. Wenn mehr Ältere über das gesetzliche Rentenalter hinaus beschäftigt sein sollen, müssen diese Hemmnisse beseitigt werden. Die Logik spricht dafür, Löhne und Gehälter im Rentenalter bei der Arbeitslosenversicherung gänzlich beitragsfrei zu stellen, also auch für Arbeitgeber. Bei der Rentenversicherung könnte ebenso verfahren werden. So käme das Äquivalenzprinzip auf einfache Weise zur Geltung. Bei der Rente gibt es indes auch Alternativen. Statt die Beiträge zu streichen, könnte man älteren Beschäftigten zusätzliche Rentenansprüche gewähren bzw. die späteren Renten angemessen aufstocken. Eine verlängerte Erwerbsphase wäre dann auch für Personen mit geringeren, an der Grenze zum Grundsicherungsniveau liegenden Renten zusätzlich attraktiv. Gegen diese Alternative wird mitunter vorgebracht, dass die daraus resultierenden Rentenansprüche nicht nachhaltig finanziert wären. Dabei werden aber die gesamtwirtschaftlichen Wohlfahrtsgewinne erhöhter Beschäftigung übersehen. Dissens herrscht in der Regierungskoalition vor allem über die Reform des Rentenbezugs vor der Regelaltersgrenze. Hier plädieren die Gewerkschaften und Teile der SPD dafür, das Mindestalter für den Bezug einer Teilrente von derzeit 63 auf 60 Jahre vorzuziehen. Manche Ökonomen fordern darüber hinaus ein völlig flexibles Rentenalter, etwa im Intervall zwischen 60 und 67 oder 69 Jahren. Aktueller Kommentar Seite 2 von 3 Die Crux dieser Vorschläge liegt aber in den Abschlägen bei vorzeitigem Rentenbezug. Wie hoch sollten die Abschläge sein? Für umlagefinanzierte Rentensysteme wie die gesetzliche Rentenversicherung besteht darüber kein Konsens. So gilt der derzeitige Abschlagsatz von 3,6% pro Jahr zwar weithin als aktuarisch fair aus Sicht der Rentenversicherung, d.h. der Versicherung entstehen dabei keine finanziellen Nachteile aus früherem Rentenbezug. Viele Ökonomen gehen aber davon aus, dass dieser Satz zu niedrig ist, weil die Menschen i.d.R. zukünftige Einkommen geringer wertschätzen, also zu einem höheren Satz diskontieren, und folglich die vorzeitige Rente mit Abschlag einer späteren höheren Rente vorziehen. Wollte man solche Fehlanreize ausschließen, müsste der Abschlag wohl eher bei 7% liegen. Politischer Streit wäre also programmiert und eine ökonomisch befriedigende Lösung nach aller Erfahrung kaum zu erwarten. Mögliche Verzerrungen durch unangemessene Abschläge sind aber umso größer, je weiter der Rentenbezug vorgezogen werden kann. Mit einem früheren Einstiegsalter bei der Teilrente würde zudem ein falsches Signal gesetzt. Allzu leicht könnten ältere Beschäftigte den Eindruck gewinnen, Rentenbezug ab 60 wäre erwünscht und sinnvoll. Das widerspräche den Erfordernissen der alternden Gesellschaft und dürfte insbesondere bei Personen mit geringeren Einkommen und begrenzten Rentenansprüchen auch nicht zur individuellen Lebenslage passen. Es wäre verfehlt, neue Wege zu einem frühzeitigen (Teil-)Ruhestand zu öffnen, wenn damit das Risiko vermehrter Altersarmut und erhöhten Bedarfs an staatlichen Transfers einherginge. Vieles spricht also dafür, bei der Reform der Teilrente auf bessere Regeln zu zielen. Eine Teilrente kann heute nur als ein-Drittel-, zwei-Drittel- oder 50%-Rente bezogen werden. Hier sollten flexiblere Arrangements, etwa 10%-Schritte, möglich sein. Noch wichtiger wäre es, die starren, wenig transparenten Grenzen für den Hinzuverdienst zu lockern. Diese Grenzen hängen von der Art der Teilrente und den individuellen Arbeitseinkommen der letzten drei Kalenderjahre ab. Ohne Hilfe der zuständigen Behörden sind sie kaum zu ermitteln. Wer die Grenzen überschreitet, muss jedoch mit einer schmerzhaften Rentenkürzung rechnen. Zum Beispiel wird statt einer zwei-Drittel-Rente dann nur noch ein halbe Rente bezahlt. Dies gilt zwar nur bis zum Bezug einer Vollrente bzw. dem Erreichen der Regelaltersgrenze. Dies ist aber vielen Älteren wohl nicht bekannt. Auch das dürfte zum Schattendasein der Teilrente beitragen. Wirtschaftsvertreter fordern daher zu Recht, bei Bezug einer Teilrente mit Abschlägen die Grenzen für den Hinzuverdienst grundsätzlich abzuschaffen. Hingegen sind bei der jetzt so populären abschlagsfreien Rente mit 63 weiterhin Restriktionen notwendig, damit diese Art vorzeitigen Rentenbezugs nicht noch attraktiver wird. Der Hinzuverdienst könnte hier auf das maximal zulässige Entgelt für einen Minijob, also EUR 450 pro Monat, begrenzt werden. Das entspräche der geltenden Hinzuverdienstgrenze bei vorgezogenen Vollrenten. Damit sind nur einige der wichtigsten To dos beim Thema Flexi-Rente angeführt. Handlungsbedarf besteht darüber hinaus etwa im Steuerrecht. Wegen der in den kommenden Jahren weiter schrittweise steigenden Sätze bei der Besteuerung der Altersrenten wird vorzeitiger Rentenbezug steuerlich privilegiert. Dabei sollte es nicht bleiben. Für eine erfolgreiche Reform sollte der Gesetzgeber über die oben genannten sozialrechtlichen Anpassungen hinaus generell sicherstellen, dass flexiblere Übergänge von Arbeit in Rente die Arbeitgeber nicht mit zusätzlichen Kosten belasten. Mit einer Einigung über die notwendigen Maßnahmen, insbesondere transparente, einfachere Hinzuverdienstregeln und bessere Anreize für Erwerbstätigkeit jenseits des Rentenalters, könnten die Koalitionsparteien die Schlagseite der Rentenpolitik mindern. Der durch die Rente mit 63 verursachte vorzeitige Berufsausstieg zigtausender Fachkräfte dürfte sich damit aber nur teilweise korrigieren lassen. Die Aktuellen Kommentare im Audio-Format finden Sie hier... Autor: Dieter Bräuninger (+49) 69 910-31708 mehr zum Research-Bereich Wirtschafts- und Europapolitik Aktuelle Kommentare - Archiv Aktueller Kommentar Seite 3 von 3 © Copyright 2015. Deutsche Bank AG, Deutsche Bank Research, 60262 Frankfurt am Main, Deutschland. Alle Rechte vorbehalten. Bei Zitaten wird um Quellenangabe „Deutsche Bank Research“ gebeten. Die vorstehenden Angaben stellen keine Anlage-, Rechts- oder Steuerberatung dar. Alle Meinungsaussagen geben die aktuelle Einschätzung des Verfassers wieder, die nicht notwendigerweise der Meinung der Deutsche Bank AG oder ihrer assoziierten Unternehmen entspricht. Alle Meinungen können ohne vorherige Ankündigung geändert werden. Die Meinungen können von Einschätzungen abweichen, die in anderen von der Deutsche Bank veröffentlichten Dokumenten, einschließlich Research-Veröffentlichungen, vertreten werden. 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