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  4. Ausblick Deutschland
27. Juli 2023
Das Wachstum in Deutschland wird erneut durch konjunkturelle, aber auch strukturelle Gegenwinde unter Druck gesetzt. In dieser Ausgabe von Ausblick Deutschland stellen wir unser neues Nowcast-Modell für das deutsche BIP vor, das für das zweite Quartal einen BIP-Anstieg von 0,2% prognostiziert, allerdings nehmen die Risiken für das Wachstum im zweiten Halbjahr zu. Wir nehmen die Sommerpause in Berlin zum Anlass für eine Halbzeitbilanz der Arbeit der Ampelkoalition. In einer historischen Rückblende lassen wir die Herausforderungen Revue passieren, mit denen Deutschland konfrontiert war, als der Economist es als den kranken Mann des Euro bezeichnete, und welche politischen Maßnahmen das Land ein Jahrzehnt später in einen wirtschaftlichen Superstar verwandelten. Wir finden interessante Parallelen zur heutigen Situation. [mehr]
Ausblick Deutschland Die Debatte über den kranken Mann Europas - damals und heute . Fast 25 Jahre, nachdem der Economist Deutschland den kranken Mann des Euro nannte, ist die Debatte über die wirtschaftliche Zukunft Deutschlands wieder da. Damals haben umfangreiche Steuer- und Arbeitsmarktreformen die verlorene Wettbewerbsfähigkeit wiederhergestellt und einen säkularen Rückgang der Ar beitslosigkeit ausgelöst. Diesmal hat der Ukraine-Krieg drei Säulen des deut schen Wirtschaftserfolgs ins Wanken gebracht, was zusammen mit anderen strukturellen Herausforderungen eine Trendwende sehr viel schwieriger macht. Nowcasting des deutschen BIP - leichte Erholung in Q2 . Unser neues Modell ergänzt die kurz- und mittelfristige BIP-Prognose. Trotz erheblicher Unsicherhei ten scheint in Q2 ein leichtes BIP-Wachstum möglich. Die jüngsten Stimmungs daten signalisieren Abwärtsrisiken für H2. Verbraucherpreise: Inflation dürfte aber wieder fallen. Aufgrund desinflationärer Entwicklungen bei Energie, Nahrungsmitteln und den Kerngütern dürfte die Ge samtinflationsrate in den nächsten 12 bis 18 Monaten erheblich sinken. Auf wärtsrisiken ergeben sich jedoch aus dem kräftigen Lohnwachstum und der Auf kündigung des Getreideabkommens durch Russland. Robuster Arbeitsmarkt stößt an strukturelle Grenzen . Trotz Fachkräftemangels scheint das Beschäftigungswachstum zu stagnieren und die Arbeitslosenzahl zuzulegen. In den Tarifverhandlungen gibt es noch keine Sommerpause. Öffentliche Finanzen: Leere Kassen und Schuldenbremse erfordern eine finanz politische Wende. Trotz erheblicher fiskalischer Puffer außerhalb des Kernhaus halts dürften die finanzpolitischen Spielräume in den kommenden Haushaltsjah ren zunehmend enger werden. Rückläufiger Energieverbrauch spiegelt Schwäche energieintensiver Industrien wider. Die industrielle Gasnachfrage ging in der ersten Hälfte des Jahres 2023 weiter zurück (-11,2 % gg. Vj.), was den Rückgang der Industrieproduktion in energieintensiven Branchen widerspiegelt. Das Wirtschaftswachstum entkoppelt sich aber auch zunehmend vom Primärenergieverbrauch. Büromarkt: Brems t die Infrastruktur die Nachfrage in den Metropolen? Der Boom auf dem Büromarkt ist vorbei. Die Leerstandsquoten sind im Durchschnitt gestiegen, insbesondere in den Großstädten, wo die Kapazitätsgrenzen des öf fentlichen Verkehrs ein bisher vernachlässigter Faktor sein könnten. Rück - und Ausblick zur Halbzeit der Legislaturperiode - Anpassung des Wachs tumsmodells im Fokus. Während Deutschland immer noch einen Wettbewerbs vorteil bei der Herstellung grüner Exportgüter hat, gewinnt China rasch Marktan teile auf diesem wachsenden Markt. Daher scheint die „grüne Exportchampion Strategie" mit weiteren Wachstumsstrategien kombiniert werden zu müssen. ! Autor en Stefan Schneider und Team Economic Research, Frankfurt Editor Stefan Schneider Deutsche Bank AG Deutsche Bank Research Frankfurt am Main Deutschland E-Mail: marketing.dbr@db.com Fax: +49 69 910-31877 www.dbresearch.de DB Research Management Stefan Schneider Inhaltsverzeichnis Seite Prognosen ................................................... 2 Die Debatte über den kranken Mann Europas - damals und heute ....................... 3 Nowcasting des deutschen BIP - eine ge wisse Erholung in H2 ist immer noch zu er warten ..................................................... 12 Verbraucherpreise: Basiseffekte schieben Juni-Rate an - Inflation dürfte aber wieder fallen ........................................................ 16 Robuster Arbeitsmarkt stößt an strukturelle Grenzen .................................................... 22 Öffentliche Finanzen: Leere Kassen und Schuldenbremse erfordern eine finanzpoliti sche Wende .............................................. 26 Rückläufiger Energieverbrauch spiegelt Schwäche energieintensiver Industrien wider ......................................................... 32 Büromarkt: Bremst die Infrastruktur die Nachfrage in den Metropolen? ................. 36 Rück- und Ausblick zur Halbzeit - Anpas sung des Wachstumsmodells im Fokus ..... 40 Datenkalender ........................................... 50 Datenmonitor ............................................. 51 Finanzmarktprognosen .............................. 52 Original in englischer Sprache: 25.07.2023 27. Juli 2023 „ Halbzeitbilanz " - Reformen zur Bewältigung der neuen Wachstumsherausforderung „Halbzeitbilanz" - Reformen zur Bewältigung der neuen Wachstumsherausforderung 2 | 27. Juli 2023 Ausblick Deutschland Wachstum, Inflation, Leistungsbilanz, Budgetsaldo BIP - Wachstum Inflation* Leistungsbilanzsaldo Budgetsaldo in % gg. Vj. in % gg. Vj. in % des BIP in % des BIP 2022 2023P 2024P 2022 2023P 2024P 2022 2023P 2024P 2022 2023P 2024P Euroland 3,4 0,5 0,5 8,4 5,5 2,1 - 1,1 0,6 1,2 - 3,6 - 3,5 - 3,3 Deutschland 1,8 - 0,3 0,5 6,9 6,1 2,3 4,2 3,2 3,9 - 2,7 - 2,1 - 1,4 Frankreich 2,5 0,6 0,2 5,9 5,5 2,5 - 2,0 - 1,5 - 1,2 - 4,7 - 4,4 - 4,6 Italien 3,8 1,1 0,4 8,7 6,3 2,0 - 1,2 0,5 1,3 - 8,0 - 5,3 - 4,8 Spanien 5,5 2,0 0,9 8,3 4,1 2,3 0,6 1,0 1,0 - 4,8 - 4,7 - 3,9 Niederlande 4,3 1,0 1,2 11,6 4,7 2,3 9,2 6,3 6,3 0,0 - 2,1 - 1,7 Belgien 3,2 0,7 1,1 10,3 3,6 2,4 - 3,6 - 2,1 - 1,4 - 3,9 - 5,0 - 5,1 Österreich 5,0 0,3 1,2 8,6 7,1 2,7 0,7 1,2 1,5 - 3,2 - 2,5 - 1,6 Finnland 1,6 - 0,1 1,2 7,2 5,3 1,9 - 3,6 - 1,9 - 1,2 - 0,8 - 2,6 - 2,4 Griechenland 5,9 2,4 1,5 9,3 4,3 2,1 - 9,7 - 8,0 - 6,0 - 2,3 - 2,4 - 1,3 Portugal 6,7 1,4 1,7 8,1 5,5 2,3 - 1,3 - 0,9 - 0,9 - 0,4 - 1,2 - 0,9 Irland 9,4 5,6 4,8 8,1 5,3 2,5 8,8 9,6 9,7 1,6 1,3 1,8 Großbritannien 4,1 0,3 0,4 9,1 7,6 3,3 - 3,8 - 3,9 - 3,1 - 5,3 - 4,8 - 3,5 Dänemark 2,7 0,3 1,3 8,5 4,5 2,7 13,5 10,5 9,5 3,3 1,5 1,1 Norwegen 3,2 1,4 1,0 5,8 4,9 2,8 30,2 22,7 19,5 26,0 21,0 19,7 Schweden 2,9 - 0,5 1,0 8,1 7,1 2,5 4,7 4,0 4,5 0,7 - 0,1 - 0,4 Schweiz 2,1 0,8 1,5 2,8 2,5 1,6 10,3 7,3 7,7 - 0,4 0,2 0,2 Tschech. Rep. 2,5 0,2 2,4 15,1 11,0 4,2 - 6,1 - 1,5 - 0,8 - 3,6 - 4,3 - 2,1 Ungarn 4,6 0,4 2,9 14,5 18,1 5,1 - 8,1 - 2,8 - 1,2 - 6,2 - 4,3 - 3,5 Polen 5,1 1,1 3,0 14,3 11,9 6,0 - 3,0 - 0,5 - 0,8 - 3,7 - 4,9 - 4,5 USA 2,1 1,8 - 0,3 8,0 3,9 1,9 - 3,7 - 4,4 - 4,5 - 5,4 - 5,7 - 5,7 Japan 1,0 1,1 0,8 2,5 3,3 2,5 1,9 2,8 3,1 - 6,9 - 5,0 - 3,7 China 3,0 5,3 5,0 2,0 0,7 2,3 2,2 1,8 1,5 - 4,7 - 4,3 - 4,0 Welt 3,3 2,8 2,6 8,7 6,4 4,8 * Außer für Deutschland basieren die Inflationsdaten für EU - Länder auf harmonisierten Verbraucherpreisindizes. Dies kann zu Diskrepanzen zu anderen DB Publikationen führen. Quellen: Nationale Behörden, Nationale Zentralbanken, Deutsche Bank Prognosen Deutschland: BIP-Wachstum nach Komponenten, % gg.Vq., Jahresdaten % gg.Vj. 2022 2023 2021 2022 2023P 2024P Q1 Q2 Q3 Q4 Q1 Q2P Q3P Q4P BIP 2,6 1,8 - 0,3 0,5 1,0 - 0,1 0,5 - 0,5 - 0,3 0,2 0,4 0,1 Privater Konsum 0,4 4,9 - 0,6 1,6 1,4 0,2 1,2 - 1,7 - 1,2 1,2 1,0 0,3 Staatsausgaben 3,8 1,2 - 2,5 2,5 0,8 0,4 - 1,1 0,2 - 4,9 2,5 1,0 1,0 Anlageinvestitionen 1,2 0,4 - 1,2 - 0,7 2,3 - 1,2 1,3 - 2,6 3,0 - 2,5 - 0,9 - 0,4 Ausrüstungen 3,5 3,3 2,1 0,4 1,8 1,1 5,4 - 3,6 3,2 - 2,0 - 0,5 0,0 Bau 0,0 - 1,8 - 4,3 - 2,2 3,5 - 3,1 - 1,0 - 3,2 3,9 - 4,0 - 1,5 - 1,0 Lager, %-Punkte 0,5 0,4 0,2 - 0,4 - 0,3 0,7 0,2 0,4 0,0 - 0,3 - 0,2 - 0,1 Exporte 9,7 3,4 1,1 2,3 0,3 0,6 1,5 - 1,3 0,4 0,8 1,2 0,6 Importe 9,0 6,9 0,1 3,3 0,4 2,3 2,5 - 2,4 - 0,9 1,0 1,3 1,0 Nettoexport, %-Punkte 0,8 - 1,3 0,5 - 0,3 0,0 - 0,7 - 0,4 0,5 0,7 - 0,1 0,0 - 0,1 Konsumentenpreise (VPI)** 3,1 6,9 6,1 2,3 Arbeitslosenquote, % 5,7 5,3 5,6 5,5 Industrieproduktion*** 4,8 - 0,3 1,0 0,5 Budgetsaldo, % BIP - 3,7 - 2,7 - 2,1 - 1,4 Öffentlicher Schuldenstand, % BIP 69,3 66,3 65,9 65,5 Leistungsbilanzsaldo, % BIP 7,7 4,2 5,0 4,8 Leistungsbilanzsaldo, EUR Mrd. 265 115,0 205 205 *Inflationsdaten für Deutschland basieren auf nationaler Abgrenzung (VPI). Dies kann zu Diskrepanzen zu anderen DB Publikatio nen (HVPI) führen. **Verarbeitendes Gewerbe (NACE C) Quellen: Statistisches Bundesamt, Deutsche Bundesbank, Arbeitsagentur, Deutsche Bank Research „Halbzeitbilanz" - Reformen zur Bewältigung der neuen Wachstumsherausforderung 3 | 27. Juli 2023 Ausblick Deutschland Die Debatte über den kranken Mann Europas - damals und heute - Fast 25 Jahre, nachdem die Zeitschrift Economist Deutschland als den kranken Mann des Euro bezeichnet hat, ist die Debatte über die wirtschaftli che Zukunft Deutschlands und insbesondere die Aussichten der deutschen Industrie wieder in vollem Gange. - In den frühen 2000er Jahren gelang es durch umfangreiche Steuer- und Ar beitsmarktreformen nicht nur, die verlorene Wettbewerbsfähigkeit wiederzu erlangen, sondern auch einen langfristigen Abwärtstrend der Arbeitslosig keit zu etablieren, sodass Deutschland gut zehn Jahre später Vollbeschäfti gung erreichte. - Diesmal sind durch den Krieg in der Ukraine drei Säulen des wirtschaftli chen Erfolgs Deutschlands ins Wanken geraten, was zusammen mit ande ren ungünstigen strukturellen Veränderungen eine solche Trendwende zu einer viel schwierigeren Aufgabe macht. - Dennoch geben der florierende und innovative Mittelstand, die im internatio nalen Vergleich immer noch gute Haushaltslage und die Erfolgsbilanz, Her ausforderungen wie die deutsche Wiedervereinigung oder die wachsende Konkurrenz aus den Schwellenländern in deutsche Erfolgsgeschichten zu verwandeln, Anlass zu Optimismus. Fast 25 Jahre, nachdem der Economist Deutschland das unrühmliche Zeugnis „kranker Mann des Euro" 1 ausstellte, befinden wir uns in einer ähnlichen Situa tion der kollektiven Selbstzweifel und Sorgen über Deutschlands wirtschaftliche Zukunft. Damals, 1999, analysierte der Economist, dass eine Kombination von konjunkturellen und strukturellen Faktoren die Ursache für Deutschlands Ma laise sei, ganz ähnlich wie die aktuelle Situation. Es wurde über eine mögliche technische Rezession spekuliert (die nicht eingetreten ist). Außerdem wurden die Wachstumserwartungen für 1999 auf nur 1% gesenkt und festgestellt, dass das deutsche BIP-Wachstum um etwa 1 Prozentpunkt hinter dem EWU-Durch schnitt zurückgeblieben war. Während sich das deutsche BIP-Wachstum im Laufe des Jahres 1999 und im ersten Quartal 2000 mit einer durchschnittlichen Wachstumsrate von 0,9% gegenüber dem Vorquartal zumindest vorübergehend stark beschleunigte, traten die ungelösten strukturellen Probleme wieder in den Vordergrund, als der Hype um die „New Economy" im Frühjahr 2000 zusam menbrach und der DAX-Index seinen dreijährigen Abwärtstrend begann, in dem er 73% seines Wertes einbüßte. Es bedurfte harter Arbeitsmarktreformen, die zu einem Rückgang der relativen Lohnstückkosten in Deutschland um 25% bei trugen, um die Wettbewerbsfähigkeit wiederzuerlangen und das Land in einen wirtschaftlichen Superstar zu verwandeln. 2 Das deutsche Arbeitsmarktwunder Das hervorstechendste Merkmal der deutschen Wirtschaft ist der grundsolide Arbeitsmarkt. Während die Arbeitslosenquoten in vielen anderen Ländern wäh rend der globalen Finanzkrise 2007-2009 explodierten, stieg die jährliche Ar beitslosenquote in Deutschland nur um 0,3 Prozentpunkte auf 8,1% im Jahr 2009, nahm aber im darauffolgenden Jahr ihren langfristigen Rückgang wieder auf. Selbst im ersten Jahr der Coronavirus-Pandemie schrumpfte das deutsche BIP nur um 3,7% (etwa 2 ½ Prozentpunkte weniger als der EWU-Durchschnitt; USA: -2,8%). Deutschland wurde weithin für seinen Umgang mit der COVID 1 The Economist, "The sick man of the euro", 3. Juni 1999 2 Christian Dustman et.al: "Germany's Resurgent Economy", Journal of Economic Perspectives, Band 28, Nummer 1, Winter 2014 0,0 0,2 0,4 0,6 0,8 1,0 1,2 1,4 1,6 1,8 2,0 Deutsches BIP - Wachstum 1 Quelle: Statistisches Bundesamt %, Periodendurchschnitte 0 2 4 6 8 10 12 14 -8 -6 -4 -2 0 2 4 6 92 96 00 04 08 12 16 20 BIP Arbeitslosenquote (rechts) Deutsches BIP und Arbeitslosenquote 2 Quelle: Statistisches Bundesamt % gg. Vj. in % der Erwerbstätigen „Halbzeitbilanz" - Reformen zur Bewältigung der neuen Wachstumsherausforderung 4 | 27. Juli 2023 Ausblick Deutschland Krise und die allgemeine Widerstandsfähigkeit seiner Wirtschaft gelobt. Die staatlich subventionierten Kurzarbeitsprogramme - die auf dem Höhepunkt der Arbeitsmarktkrise bis zu 5,99 Mio. Menschen umfassten - hielten nicht nur die Arbeitslosenquote in Schach, sondern wurden sogar zum Vorbild für die Einfüh rung ähnlicher Programme in anderen europäischen Ländern. Natürlich lösten die fast EUR 250 Mrd., die die Regierung während der COVID-Krise ausgab (zuzüglich eines beträchtlichen Betrags an Garantien), einige Bedenken hin sichtlich der Nachhaltigkeit der öffentlichen Finanzen aus, aber angesichts der hervorragenden Ausgangsposition Deutschlands - Haushaltsüberschüsse seit 2014 hatten die öffentliche Schuldenquote bis 2019 auf 59,6% gesenkt - scheint der Anstieg verkraftbar. Uk raine - Krieg erschüttert drei externe Säulen des deutschen Wohlstands Der russische Angriff auf die Ukraine versetzte der internationalen Wahrneh mung der deutschen Wirtschaft jedoch einen noch größeren Schlag. Mit dem (1) Ende des billigen russischen Gases, der endgültigen (2) Erkenntnis, dass China ein sehr viel schwierigerer Markt für deutsche Exporte und Unternehmen wer den wird, was sich auch auf die Verfügbarkeit kritischer Rohstoffe und bereitge stellter Technologie auswirken könnte, und (3) der Einsicht, dass Deutschland deutlich mehr in seine eigene Sicherheit investieren muss, schienen drei Säulen des deutschen Wirtschaftserfolgs der letzten Jahrzehnte gleichzeitig ins Wan ken zu kommen. Zusammen mit der notwendigen Klimawende, der demografi schen Herausforderungen und einer immer stärker zunehmenden Belastung durch Regulierung und Bürokratie bedrohen diese Poly-Herausforderungen das Fundament des exportorientierten, industriellen und auf qualifizierten Arbeits kräften basierenden deutschen Wachstumsmodells. Die Deutschen haben den Ruf, eher pessimistisch und sehr kritisch mit sich selbst zu sein. Vielleicht wird diese Episode der kollektiven Gewissensprüfung so ablaufen wie die vor 25 Jahren und Deutschland wird am Ende stärker sein Deutschlands Poly - Herausforderungen 3 Quelle: Deutsche Bank Research „Halbzeitbilanz" - Reformen zur Bewältigung der neuen Wachstumsherausforderung 5 | 27. Juli 2023 Ausblick Deutschland als zuvor. Ein Szenario, von dem politischen Entscheidungsträger in Berlin über zeugt zu sein scheinen. 3 Ende der 1990er Jahre waren die Probleme jedoch einfacher und klarer definiert und im Wesentlichen innenpolitischer Natur. Die notwendigen Maßnahmen zu ihrer Bewältigung - Arbeitsmarktreformen und Haushaltskonsolidierung - stammten aus dem Standardinstrumentarium der Mainstream-Ökonomie. Natürlich gab es auch damals Schocks wie 9/11, gefolgt von Kriegen, die schwer zu bewerten waren. 4 Deutsche industriebasierte Wirtschaft vor vielfältigen Herausforde rungen Aber dieses Mal macht das Zusammentreffen dieser Herausforderungen die Aufgabe erheblich schwieriger: Sie treffen Deutschland zu einem Zeitpunkt, an dem sein Wachstumspotenzial, d.h. letztlich die Ressourcen, die zur Bewälti gung der Herausforderungen gebraucht werden, aufgrund des schrumpfenden Arbeitskräfteangebots auf unter 1% sinken wird. Dennoch könnte es Parallelen zwischen diesen beiden Episoden geben, die einige Anhaltspunkte liefern könn ten, sodass wir im Folgenden einen kurzen Überblick über die stilisierten Fakten beider Episoden geben werden, wohl wissend, dass die Interpretation dieser Faktoren in der Vergangenheit und erst recht in der Gegenwart in erheblichem Maße subjektiv ist. Die Politik: Immer n ach 16 Jahren Regentschaft eines konservati ven Kanzlers / das verflixte sechzehnte Jahr Helmut Kohl, der von 1982 bis 1998 mit den Liberalen regierte, und Angela Mer kel, die von 2005 bis 2021, unterbrochen von einer Koalition mit den Liberalen (2009-2013), eine Koalition mit der SPD führte, haben auf den ersten Blick we nig gemeinsam, außer dass sie von 1990 bis 1998 demselben Kabinett ange hörten. Aber beide waren ungewöhnlich lange Amtszeiten und beide hatten ei nen starken Fokus auf die Außenpolitik. Keiner von ihnen hatte starke wirt schaftliche Überzeugungen oder verfolgte eine klar umrissene wirtschaftspoliti sche Agenda. Während Helmut Kohl - zumindest von seinen konservativen An hängern - als „Vater der deutschen Wiedervereinigung" angesehen wurde, könnte man Angela Merkel angesichts ihrer wesentlichen Rolle in der europäi schen Schuldenkrise wohl als die „Retterin der Währungsunion" bezeichnen. Diese unvorhergesehenen Herausforderungen, die zum Teil wirtschaftlicher Na tur waren, haben wahrscheinlich andere größere wirtschaftspolitische Initiativen auf die lange Bank geschoben. Dennoch spricht die Beobachtung, dass nach mehreren Amtszeiten der Reformbedarf zuzunehmen scheint, für die Idee, die Anzahl der Amtszeiten zu begrenzen, wie es beispielsweise beim US Präsidenten der Fall ist. Schwierige Anfangsphasen für die neuen SPD - Kanzler Aber es gibt noch weitere Parallelen. 1998 hatte die neue rot-grüne Regierung einen holprigen Start. Die keynesianisch/umverteilungsorientierten Vorstellun gen von Finanzminister Oskar Lafontaine kollidierten mit den eher wirtschafts freundlichen Absichten von Bundeskanzler Schröder. Zum Jahreswechsel war der Optimismus unter den Verbrauchern stark gestiegen, während die Stim mung in der Wirtschaft nahezu zusammenbrach. Der Konflikt wurde mit dem überraschenden Rücktritt Lafontaines am 11. März 1999 gelöst. 3 WELT, „Scholz verspricht sich Wachstum wie zu Zeiten des Wirtschaftswunders",10.03.2023 4 Sachverständigenrat Jahresgutachten 2001/02, „Für Stetigkeit - gegen Aktionismus" „Halbzeitbilanz" - Reformen zur Bewältigung der neuen Wachstumsherausforderung 6 | 27. Juli 2023 Ausblick Deutschland Als Bundeskanzler Scholz und die Ampelkoalition im Dezember 2021 ihr Amt antraten, drückten die immer noch andauernde COVID-Krise und steigende In flationsraten - im November lag die Verbraucherpreisinflation bei 5,2% - auf die Stimmung. In der traditionellen Allensbach-Umfrage zu Jahresbeginn sahen nur magere 40% dem neuen Jahr mit Hoffnung entgegen (dass es besser wird). 5 Der russische Angriff auf die Ukraine hat im Februar 2022 nicht nur die Energie preisinflation weiter angeheizt, sondern auch die meisten Projekte, die die neue Regierung, die neue Fortschrittskoalition, zu Beginn ihrer Amtszeit in Angriff nehmen wollte, zumindest vorübergehend zum Stillstand gebracht. BIP - Wachstum: Unter dem EWU - Durchschnitt Im Juni 1999 zeigten die vier letzten verfügbaren BIP-Werte (Q1 1998 bis Q4 1998), dass sich die durchschnittliche Wachstumsrate auf magere 0,15% qoq verlangsamte, wobei die jährliche Wachstumsrate von 3,3% in Q1 1998 auf 0,6% in Q4 zurückging. Diesmal verlangsamte sich das vierteljährliche BIP Wachstum in den letzten vier verfügbaren Quartalen (Q2'22 bis Q1'23) auf fast die gleiche Rate (0,13%), und Deutschland geriet im Winterhalbjahr sogar in eine technische Rezession. Die Jahreswachstumsrate verringerte sich von 1,7% in Q2'22 auf -0,2% in Q1'23. Der Wachstumsrückstand gegenüber der WWU hat wahrscheinlich noch mehr am deutschen Selbstbewusstsein genagt. Im Zeit raum 1998 bis 2005 blieb das deutsche BIP-Wachstum um rund 1 vollen Pro zentpunkt pro Jahr hinter dem EWU-Durchschnitt zurück. Im Jahr 2021/22 über traf das EWU-Wachstum das deutsche Pendant um durchschnittlich 2,2 Pro zentpunkte pro Jahr. Globaler Gegenwind trifft den Exportweltmeister 6 Der Welthandel hatte in den neunziger Jahren stark zugenommen. Doch die Konzentration der inländischen Ressourcen auf den Wiederaufbau der fünf neuen Bundesländer, die Asien- und Russlandkrise gegen Ende des Jahrzehnts und die verzögerten Auswirkungen des Anstiegs der deutschen Lohnstückkos ten um fast 20% in der ersten Hälfte des Jahrzehnts ließen den deutschen An teil an den weltweiten Ausfuhren von 11,6% im Jahr 1991 auf 8,5% im Jahr 2000 sinken. In ähnlicher Weise sank der deutsche Exportanteil von 8,4% (2016) auf 6,7% im Jahr 2022, wobei die COVID-Krise und die weltweiten Ver sorgungsengpässe wichtige Faktoren waren. Fiskalpolitik - Absicht, die Haushaltsdefizite zu reduzieren Bei Schröders Amtsantritt Ende 1998 näherte sich die deutsche Staatsverschul dung 60% des BIP, während sie 1991 noch bei einem - heute kaum noch vor stellbaren - Wert von 39% lag, bevor die Kosten für den Wiederaufbau Ost deutschlands zu einer rapiden Verschlechterung führten. Als Konsequenz wurde im Koalitionsvertrag von 1998 neben der Senkung der Arbeitslosenzahl (4,4 Mio. im Jahr 1998) die Konsolidierung der öffentlichen Finanzen als zentra les Ziel hervorgehoben. 7 Gleichzeitig setzte die rot-grüne Regierung ein dreistu figes Steuerentlastungsprogramm (2001/2003/2005) um, das den Körper schaftssteuersatz auf 25% senkte und den Spitzensteuersatz auf 42% und den Grenzsteuersatz auf 15% reduzierte. 5 FAZ, „Deutsche Fragen - Deutsche Antworten: Eine Funke Hoffnung", 21.12.2022 6 Deutschland hat diesen Titel 2009 endgültig an China verloren. 7 „Aufbruch und Erneuerung - Deutschlands Weg in das 21. Jahrhundert", Koalitionsvereinbarung zwischen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen -3 -2 -1 0 1 2 3 92 96 00 04 08 12 16 20 Wachstumslücke verbreitert sich wieder 4 EWU - GER Prozentpunkte Quellen: Eurostat, Deutsche Bank Research 6 7 8 9 10 11 12 91 95 99 03 07 11 15 19 Deutschlands Anteil am Welt - Güterexport 6 Quelle: AMECO % 90 95 100 105 110 115 120 125 130 135 96 99 02 05 08 11 14 17 20 23 Deutschland: Relative Lohnstückkosten 5 Index Quelle: OECD „Halbzeitbilanz" - Reformen zur Bewältigung der neuen Wachstumsherausforderung 7 | 27. Juli 2023 Ausblick Deutschland Als Scholz und Finanzminister Lindner 2021 ihr Amt antraten, hatte die Corona virus-Pandemie den Goldlöckchen-Jahren mit kontinuierlichen Haushaltsüber schüssen (2014 bis 2019) ein jähes Ende bereitet. Im Jahr 2021 verzeichnete Deutschland ein Haushaltsdefizit von 4,1% und die Schuldenquote war inner halb von nur zwei Jahren von 59,6% auf 69,3% gestiegen. Obwohl die Finanz politik erst ganz am Ende des Koalitionsvertrags 2021 behandelt wird, erklärten die Koalitionspartner, dass ihre fiskalische Ausgangslage „anspruchsvoll" sei: 8 (Nota bene, das war, bevor der russische Angriff auf die Ukraine die Notwendig keit weiterer substanzieller fiskalischer Programme auslöste.) Die Haushaltslage und die klare Absicht, die Schuldenbremse 2023 wieder einzuhalten, sowie grundsätzlich unterschiedliche Auffassungen der Koalitionspartner verhindern eine große Steuerreform. Dennoch ergreift die Regierung Maßnahmen, um den Anstieg der Steuerklassen durch Änderungen der Steuersätze und Steuerfreibe träge zu stoppen. Die Steuererleichterungen belaufen sich auf EUR 18,6 Mrd. (bis zu EUR 31,8 Mrd. im Jahr 2024) und betreffen 48 Mio. Bürger. Darüber hin aus hat Finanzminister Lindner in diesem Monat ein „Wachstums-Chancen-Ge setz" vorgeschlagen, das 50 verschiedene Maßnahmen zur Senkung der Kör perschaftssteuerbelastung um rund EUR 6 Mrd. pro Jahr enthält (Einzelheiten siehe Artikel „Rück- und Ausblick zur Halbzeit - Anpassung des Wachstumsmo dells im Fokus" auf Seite 40). Direktinvestitionen - Ab stimmung mit den Füßen Die Höhe ausländischer Direktinvestitionen sind wahrscheinlich einer der besten Maßstäbe dafür, wie ein Land von internationalen Unternehmen wahrgenom men wird, deren Standortentscheidungen zumeist auf umfangreichen verglei chenden Analysen basieren. In den frühen 2000er Jahren gingen die ausländi schen Direktinvestitionen in Deutschland drastisch zurück und erreichten 2004 ihren Tiefpunkt, als Ausländer tatsächlich nicht mehr in Deutschland investier ten. Auch die deutschen Investitionen im Ausland gingen zurück und erreichten 2004 ihren Tiefpunkt. In den Jahren 2021/22 gingen die Zuflüsse ausländischer Investitionen wieder drastisch zurück. Im Gegensatz dazu nahmen die deutschen Direktinvestionen im Ausland weiterhin stark zu. Infolgedessen verließen 2022 netto EUR 125 Mrd. Deutschland. Ein weiterer Rekord nach EUR 110 Mrd. im Jahr 2021 und 8 „Mehr Fortschritt wagen, Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit", Koalitionsvertrag zwischen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP 30 40 50 60 70 80 90 91 95 99 03 07 11 15 19 Staatsverschuldung 7 in % des BIP Quelle: Deutsche Bundesbank 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 92 96 00 04 08 12 16 20 Kombinierter Körperschaftssteuersatz 8 Quelle: OECD % -5 -4 -3 -2 -1 0 1 2 92 96 00 04 08 12 16 20 Strukturelles öffentliches Defizit 9 Quelle: AMECO in % des potenziellen BIP -50 0 50 100 150 200 250 300 95 99 03 07 11 15 19 Deutsche Direktinvestitionen gesamt Ausländ. Direktinvestionen in D Direktinvestitionen 10 Mrd. EUR Quelle: Deutsche Bundesbank „Halbzeitbilanz" - Reformen zur Bewältigung der neuen Wachstumsherausforderung 8 | 27. Juli 2023 Ausblick Deutschland ein deutliches Alarmsignal im Hinblick auf die Wettbewerbsfähigkeit Deutsch lands. 9 Die Stimmung in der Bevölkerung Während der Durchschnittsbürger die Wirtschaftsstatistiken vielleicht nicht im Detail verfolgt, üben der Nachrichtenfluss und die öffentliche Debatte, in der Nachrichten im Kontext der vorherrschenden Erzählung interpretiert werden, ei nen starken Einfluss auf die öffentliche Meinung aus. Das Verbrauchervertrauen ist stark gesunken Das Verbrauchervertrauen, das die Entwicklungen durch eine eher wirtschaftli che Brille betrachtet, erreichte Anfang 1999, also Monate vor der Veröffentli chung des Economist-Artikels, eine Reihe von Höchstständen. Es folgte ein vierjähriger Rückgang, der erst im Frühjahr 2003 endete. Verglichen mit dem Einbruch des Verbrauchervertrauens zu Beginn der COVID-Pandemie und er neut während des russischen Angriffs auf die Ukraine sowie während des Inflati onsschubs im Jahr 2022 war der Rückgang in den frühen 2000er Jahren jedoch eher moderat. Die Schröder - Reformjahre forderten ihren Tribut Politische Umfragen geben differenziertere Einblicke in die Stimmungslage der Bürger. Zum Jahreswechsel 1998/99, als die neue rot-grüne Regierung gerade ihr Amt angetreten hatte, nahm der Optimismus in der deutschen Bevölkerung stark zu. In der traditionellen Allensbach-Neujahrsumfrage gab eine knappe Mehrheit von 51% an, optimistisch in das Jahr 1999 zu blicken, während 1997 und 1998 noch die Pessimisten die Oberhand hatten. Der Wachstumsschub der New Economy und die Aktienmarktrallye im Jahr 2000 (trotz der bereits einset zenden Korrektur) trugen Anfang 2001 sogar zu einer „überschwänglichen Stim mung" bei. Laut der Allensbach-Umfrage sahen 56% der Bevölkerung dem neuen Jahr optimistisch entgegen. Doch von da an ging es bergab. Der Schock vom 11. September 2001 ließ den Anteil der Optimisten nach einem kurzen Auf schwung auf 30% sinken. Im Dezember 2022 sank er wieder auf 31%. In einem FAZ-Artikel schrieb der Leiter des Allensbach-Instituts, die Deutschen seien sel ten so niedergeschlagen gewesen wie zu Beginn des Jahres 2003, wobei die düsteren Konjunkturaussichten und die Sorge um den Arbeitsplatz die Haupt gründe seien. 10 Ein Jahr später diagnostizierten die Allensbach-Forscher ein „entmutigtes Volk", das weitere Arbeitsplatzverluste und Verlagerungen von Fabriken und sogar Forschungs- und Entwicklungsabteilungen befürchtet. Erst 2005/06 besserte sich die Stimmung, die Zahl der Optimisten stieg wieder auf 45%. Damals war Schröder allerdings nach seiner zweiten Amtszeit abgewählt worden - nicht zuletzt wegen der unpopulären Arbeitsmarktreformen (Hartz-Re formen) 11 , und die erste Groko-Regierung unter Bundeskanzlerin Merkel hatte bereits ihr Amt angetreten. 9 IW, „Investitionen: Geldabflüsse in Deutschland so hoch wie nie", 28. Juni 2023 10 FAZ, „Worüber man in Deutschland spricht", 29.01.2003 11 Joachim Ragnitz, „Zehn Jahre Hartz-Reform in Deutschland", ifo Dresden, 2015 -50 -40 -30 -20 -10 0 10 20 30 95 99 03 07 11 15 19 23 Index Quelle: GfK Konsumentenvertrauen 11 „Halbzeitbilanz" - Reformen zur Bewältigung der neuen Wachstumsherausforderung 9 | 27. Juli 2023 Ausblick Deutschland COVID und Ukraine - Krieg: Deutsche stürzen in einen kollektiven Blues Zu Beginn dieses Jahrzehnts löste die Coronavirus-Pandemie einen massiven Vertrauensschock aus, mit mageren 40% der Bevölkerung, die dem neuen Jahr hoffnungsvoll entgegensahen - sehr niedrige Werte im historischen Vergleich. Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine sank der Anteil der Optimisten auf einen historischen Tiefstand von 19%, bis Oktober ließen die steigende Inflation und die Sorge um die Gasversorgung die Zahl auf 16% sinken. Bis zum Jahres ende erholte sich die Zahl etwas und lag bei 28%. 12 Diesmal ist es anders - vor allem auf dem Arbeitsmarkt Aus der Vogelperspektive betrachtet, gibt es in der Tat einige starke Parallelen zwischen den deutschen Problemen Ende der 1990er Jahre und den aktuellen Problemen, obwohl es auch deutliche Unterschiede gibt. Der auffälligste Unter schied ist natürlich die Situation auf dem Arbeitsmarkt. Damals war die stei gende Arbeitslosigkeit die Hauptsorge der Bürger und der Regierung gleicher maßen. Im Februar 2005 erreichte die Zahl der registrierten Arbeitslosen mit 5,2 Millionen einen Nachkriegshöchststand, was vor allem auf die schwache Kon junktur, aber auch auf Einmaleffekte infolge statistischer Änderungen im Sozial versicherungssystem zurückzuführen war. Einige Kommentatoren verglichen die Situation sogar mit der Weimarer Republik, in der die Zahl der Arbeitslosen im Jahr 1932 6 Millionen erreicht hatte. Die weitreichenden Arbeitsmarktreformen wurden zum wirtschaftlichen Marken zeichen der Regierung Schröder, obwohl sich ihr Erfolg erst nach seiner Abwahl 2005 einstellte. Die wichtigsten Maßnahmen der sogenannten Hartz-Reformen waren (1) eine Neuorganisation der deutschen Arbeitsagentur, (2) die Schaffung eines Niedriglohnsektors durch flexiblere Regelungen für Leiharbeit, die Einfüh rung von geringfügig entlohnten Mini- und Midi-Jobs, die teilweise von Sozial versicherungsbeiträgen befreit wurden, und eine staatlich geförderte Initiative zur Förderung der Selbstständigkeit (Ich-AGs), (3) die Zusammenlegung von Ar beitslosenhilfe und Sozialhilfe, (4) und eine zeitliche Begrenzung des Bezugs von (höherem) Arbeitslosengeld, dessen Höhe an das vorherige Gehalt gekop pelt ist. Auch wenn einige dieser Maßnahmen sich in einer von der Regierung in Auftrag gegebenen Evaluierung als unwirksam herausgestellt haben, besteht weitgehende Einigkeit darüber, dass diese Reformen - und das durch sie her beigeführte neue Kräfteverhältnis zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern - der Hauptgrund für den säkularen Rückgang der deutschen Arbeitslosenquote 12 FAZ, „Einen Funken Hoffnung", 21.12.2022 39 40 28 29 24 34 26 28 30 6 8 8 0 50 100 2020 2021 2022 Mit Hoffnungen Mit Befürchtungen Mit Skepsis Unentschieden % der Antworten Deutsche weniger hoffnungsvoll zu Beginn dieses Jahres 12 Quelle: ifd - Allensbach Umfrage: "Sehen S ie dem neuen Jahr mit Hoffnungen oder Befürchtungen entgegen?", Dez. 2022 0 10 20 30 40 50 60 70 80 1950 1952 1954 1956 1958 1960 1962 1964 1966 1968 1970 1972 1974 1976 1978 1980 1982 1984 1986 1988 1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010 2012 2014 2016 2018 2020 2022 % der Nennungen, Wert für Hoffnung Umfrage: „ Sehen Sie dem Jahr 2023 mit Hoffnungen oder Befürchtungen entgegen? " 13 Quelle: Institut für Demoskopie Allensbach, Allensbacher Archiv, zuletzt IfD - Umfrage 12065, Dez. 2022 Basis: Umfragen jeweils am Jahresende, 1949 - 1989: Westdeutschland, ab 1990 Gesamtdeutschland „Halbzeitbilanz" - Reformen zur Bewältigung der neuen Wachstumsherausforderung 10 | 27. Juli 2023 Ausblick Deutschland von 12,1% im Frühjahr 2005 auf ein Allzeittief von 4,9% im Frühjahr 2019 waren (nationale Definition, magere 2,9% nach der ILO-Definition). Arbeitsmarkt ein konjunkturelles Bollwerk , ... Diesmal ist der Arbeitsmarkt sicher nicht mehr das Epizentrum der deutschen Probleme wie Ende der 1990er Jahre und in der ersten Hälfte des darauffolgen den Jahrzehnts. Zwar haben die schleppende Konjunktur und die Auswirkungen der Integration ukrainischer Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt (Details siehe Artikel „Robuster Arbeitsmarkt stößt an strukturelle Grenzen" auf Seite 22) die Arbeits losenquote um etwa ¾ Prozentpunkt auf 5,7% ansteigen lassen. Nach der IAO Definition liegt sie immer noch bei mageren 2,9%, weniger als die Hälfte des EWU-Durchschnitts und fast einen Prozentpunkt unter dem US-amerikanischen Wert. .... aber eine zunehmende strukturelle Schwäche Es überrascht nicht, dass der Höchststand der deutschen Arbeitslosenquote im Jahr 2005 mit dem Höchststand der deutschen Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter zusammenfiel, die in jenem Jahr etwa 64 Millionen Menschen umfasste. Aufgrund einer stark steigenden Erwerbsquote - teils ausgelöst durch die Hartz Reformen, teils durch ein besseres Kinderbetreuungsangebot - nahm das tat sächliche Erwerbspersonenpotenzial weiter zu. Im vergangenen und in diesem Jahr zusammengenommen könnte es aufgrund des starken Zustroms von Zu wanderern sogar um etwa 750.000 auf 48,2 Mio. steigen. Die meisten Progno sen gehen jedoch davon aus, dass es in den kommenden Jahrzehnten trotz der starken Zuwanderung deutlich zurückgehen wird. Schätzungen gehen davon aus, dass derzeit rund 630.000 zusätzliche qualifizierte Arbeitskräfte pro Jahr benötigt werden (BMWK). Im Frühjahr 2023 gaben rund 42% der deutschen Un ternehmen an, dass ihre Tätigkeit durch den Mangel an qualifiziertem Personal beeinträchtigt wird. Da in den kommenden Jahren rund 12 Mio. Babyboomer - die meisten von ihnen gut qualifiziert - in den Ruhestand gehen werden, wird der Mangel an Arbeitskräften immer drängender und in der zweiten Hälfte des Geschätztes bisheriges und prognostiziertes Arbeitskräftepotenzial 16 Anmerkung: Der orange schattierte Bereich zeigt das 66%ige Vertrauens-Intervall an. Der grau schattierte Bereich zeigt den Prog nosehorizont an. Quelle: Eigene Berechnung des Autors. Verwendete Daten wie im Text erläutert; Copyright IAB 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 92 96 00 04 08 12 16 20 % Quelle: Statistisches Bundesamt Arbeitslosenquote 14 54 55 56 57 58 59 60 61 62 63 91 95 99 03 07 11 15 19 Erwerbstätigenquote 15 Quelle: ILO „Halbzeitbilanz" - Reformen zur Bewältigung der neuen Wachstumsherausforderung 11 | 27. Juli 2023 Ausblick Deutschland Jahrzehnts der Hauptfaktor sein, der das Potenzialwachstum in Richtung 0,5% bremst. Neben verschiedenen Qualifizierungsmaßnahmen zur Erhöhung des in ländischen Fachkräfteangebots hat die Regierung im Juni 2023 ein neues Fach kräfteeinwanderungsgesetz auf den Weg gebracht, das die Anerkennung aus ländischer Qualifikationen und Berufserfahrungen vereinfachen und ein Punkte system (Chancenkarte) einführen wird, um potenzielle Bewerber anzuziehen. Doch die Herausforderung, Arbeitskräfte aus dem Ausland zu gewinnen, wäh rend in vielen Ländern auch die demografische Entwicklung das Angebot bremst und viele ehemalige Herkunftsländer inzwischen ebenfalls hervorra gende berufliche Perspektiven bieten, macht dies wahrscheinlich zu einer schwierigen Aufgabe. Außerdem ist die Demografie nur eines der drei „D", die die Regierung hervor hebt (Demografie, Digitalisierung, Dekarbonisierung). Ein Blick auf das Schau bild mit den vielen Herausforderungen zeigt, dass es noch viele weitere gibt, die die Regierung zum Teil bereits in Angriff genommen hat, zum Beispiel mit der Sicherheits- und der China-Strategie. Deuts chland beginnt, die Herausforderungen anzugehen Längerfristige Vorhersagen, die versuchen, strukturelle Veränderungen und ihre Auswirkungen auf das Wachstum zu antizipieren, zeigen, dass solche Progno sen in der Regel nicht zutreffen. Siehe z.B. die populären Warnungen vor dem Aufstieg Japans zur wirtschaftlichen Supermacht in den 70er und frühen 80er Jahren oder der Hype um die BRIC-Staaten in den frühen 2000er Jahren. Dar über hinaus betreffen viele dieser Poly-Herausforderungen auch andere Länder, obwohl Deutschland der Erosion der drei oben genannten Säulen seines Wohl stands besonders ausgesetzt ist. Wir stimmen mit dem Chor der Wirtschaftsex perten überein, die erwarten, dass die nächsten Jahre hart werden, was sich auch in unseren gedämpften BIP-Prognosen widerspiegelt. Wir sollten jedoch nicht vergessen, dass Deutschland noch über einige Trümpfe verfügt. An erster Stelle ist hier die große Zahl der vielfältigen mittelständischen Unternehmen zu nennen, die das Rückgrat der deutschen Anpassungsfähigkeit bilden. Zweitens sind die öffentlichen Finanzen (und die niedrige Verschuldung des Privatsek tors) trotz der Rückschläge durch COVID und den Ukraine-Krieg unter den G7 Ländern herausragend und bieten mehr Handlungsspielraum als in den meisten anderen Ländern. Darüber hinaus scheint die Debatte über den Standort Deutschland und die Wettbewerbsfähigkeit viel intensiver zu sein als in vielen anderen europäischen Ländern. Diesmal gibt es keine vorgefertigten Lösungen. Deutschland muss experimentieren und neue Wege finden, auch mit dem Risiko temporärer Misserfolge, mit dem sich die perfektionistischen Deutschen schwer- tun. Aber die Erkenntnis der Herausforderung ist sicherlich eine wichtige Vo raussetzung, um solche Lösungen zu suchen und zu finden. Die Geschichte kann ermutigend sein, der erfolgreiche Aufbau Ostdeutschlands und die Über windung des „kranken Mannes von Europa" vor 20 Jahren können dabei als Leitfaden dienen. Stefan Schneider (+49 69 910-31790, stefan-b.schneider@db.com) „Halbzeitbilanz" - Reformen zur Bewältigung der neuen Wachstumsherausforderung 12 | 27. Juli 2023 Ausblick Deutschland Nowcasting des deutschen BIP - ein e gewisse Erholung in H2 ist immer noch zu erwarten - Unser neues Nowcast-Modell ist eine nützliche Ergänzung der kurz- und mittelfristigen BIP-Prognose, insbesondere aufgrund der Verwendung einer erweiterten und höherfrequenten Datenbasis. Da es auf dynamischen Fak toren basiert, bietet es mehr Flexibilität, um zeitnahe Informationen zu erfas sen, die sowohl die Prognosen als auch die Nowcasts beeinflussen. - Die deutsche Wirtschaft kämpft um eine Erholung. Nach dem starken Rück schlag im März haben die harten Daten zumindest etwas aufgeholt. Trotz aller Unsicherheiten scheint in Q2 ein BIP-Wachstum von 0,2% gg. Vq. zu sein, insbesondere nach der deutlichen Revision der Einzelhandelsum sätze. - Angesichts der bisher vorliegenden harten Daten und des gesamtwirtschaft lichen Umfelds fühlen wir uns mit unserer BIP-Prognose von -0,3% für das Gesamtjahr 2023 und 0,5% für 2024 nach wie vor wohl. Dennoch deuten die aktuellen Stimmungsindikatoren auf Abwärtsrisiken im zweiten Halbjahr hin. U nser neue s Nowcast - Mod ell für das deutsche BIP Die vierteljährlichen BIP-Wachstumsraten werden mit erheblicher zeitlicher Ver zögerung publiziert. Das Statistische Bundesamt veröffentlicht 30 Tage nach Quartalsende eine erste Schnellschätzung (z.B. 2023 Q2: 28. Juli), die - wie die jüngsten Daten zeigten - mit dem endgültigen Ergebnis noch revidiert werden kann. Aufgrund der Bedeutung der BIP-Wachstumsrate sind gute Schätzungen jedoch schon früher erforderlich. Der Begriff „Nowcasting" bezieht sich im Weiteren auf die Schätzung des BIP Wachstums in einem Quartal, für das bislang nur monatliche Daten relevanter Indikatoren vorliegen, aber noch keine Schnellschätzung oder endgültige BIP Daten. „Prognose" bezieht sich auf den Zeitraum zukünftiger Quartale, für die auch noch keine monatlichen Daten vorliegen. Unser neuer Nowcast-Ansatz ergänzt eine Reihe von Brückengleichungsmodel len. Er basiert auf einem dynamischen Faktormodell, das dem Nowcast-Modell der New Yorker Fed folgt. Dieser Ansatz ermöglicht es, eine breitere Palette von Indikatoren mit höherer Frequenz zu verwenden. Das erlaubt es, kontinuierlich aktualisierte Schätzungen der vierteljährlichen BIP-Wachstumsraten zu erstel len, wenn die entsprechenden Indikatoren in einer höheren, z.B. monatlichen, Frequenz veröffentlicht werden. Nach unserem aktuellen Nowcast für Q2 könnte das deutsche BIP um gut 0,2% gg. Vq. gewachsen sein. Das entspricht auch unserer Gesamtprognose für das abgelaufene Quartal. Für Q3 2023 prognostizierte das Modell zuvor eine Wachstumsrate von 0,32%, der Nowcast nach den ersten Daten steht nun bei rund 0,25%. Beide Werte liegen knapp unter unserer Basiserwartung (Q3: 0,4%). Alles in allem deutet dies auf eine leichte Erholung von der technischen Rezession im Winterhalbjahr hin. Für das hier erläuterte Nowcast-Modell haben wir einen umfangreichen Daten satz von 105 Indikatoren zusammengestellt, die alle monatlich veröffentlicht werden. Darin sind unter anderem Daten zu Inflation, Arbeitsmarkt, Industriepro duktion, Verbrauchervertrauen, Stimmungsindikatoren der Unternehmen, Han del enthalten, sodass sich insgesamt 13 Indikatorgruppen ergeben. Die Aus wahl der Variablen basiert auf der Nowcasting-Literatur und der Wirtschaftstheo rie. -0,8 -0,6 -0,4 -0,2 0 0,2 0,4 0,6 0,8 1 1,2 22Q1 Q2 Q3 Q4 23Q1 Q2 Q3 Q4 Tatsächliche Werte Modell Prognose Nowcast Deutsches BIP: Nowcast und Prognose 1 % gg. Vq. Quelle: Deutsche Bank Research „Halbzeitbilanz" - Reformen zur Bewältigung der neuen Wachstumsherausforderung 13 | 27. Juli 2023 Ausblick Deutschland Zur Dimensionsreduktion werden die Informationen dieser 105 vorselektierten Indikatoren mithilfe einer Hauptkomponentenanalyse zu (synthetischen) Fakto ren verdichtet. Die daraus resultierenden Faktoren werden dann als Input für die Berechnung des Nowcasts verwendet. Eine Hauptschwierigkeit ist der Umgang mit den potenziellen nichtlinearen Aus wirkungen der zuvor geschätzten Faktoren auf die Wachstumsrate. Eine weitere Herausforderung liegt in der gemischten Frequenz der monatlichen Faktoren zur Vorhersage der vierteljährlichen Zielvariable. Die Parameter des Modells werden in einem Rolling-Window-Ansatz über die letzten 15 Jahre bis zum letzten abgeschlossenen Quartal (in diesem Fall Q1 2023) mithilfe eines sogenannten EM-Algorithmus (Expectation-Maximation-Al gorithmus) geschätzt. Da der Einfluss der Faktoren zeitlich variieren kann (d.h. dynamisch ist), bietet der Ansatz mehr Flexibilität, um Informationen zu erfassen, die sowohl Progno sen als auch Nowcasts beeinflussen. Dies spiegelt sich auch in der guten „in sample" Anpassung des Modells wider (Grafik 2). Die kontinuierliche Aktualisie rung des Modells mit höherfrequenten Indikatoren ermöglicht es zu quantifizie ren, wie deren Veröffentlichung bzw. die zusätzliche Information zum Nowcast beiträgt. Somit ist das neue Nowcast-Modell eine nützliche Ergänzung unserer kurz- und mittelfristigen BIP-Prognose, die einem gepoolten Prognoseansatz folgt, insbe sondere durch die Verwendung einer erweiterten und höherfrequenten Daten basis. Konjunktur startet erwart ungsgemäß schwach in den Sommer Nach einer Rezession über zwei Quartale, in der die Wirtschaftsleistung kumu liert um fast 0,9 Prozentpunkte zurückging, hat die deutsche Konjunktur Mühe, im Sommer wieder Tritt zu fassen. Nach dem scharfen Rückschlag im März ha ben die harten Wirtschaftsdaten im Mai zumindest wieder etwas aufgeholt. Trotz aller Unsicherheiten scheint unsere Prognose eines BIP-Wachstums von 0,2% gg. Vq. in Q2 noch in Reichweite zu sein, insbesondere nach der deutli chen Revision der Einzelhandelsumsätze vom Mai (1,6% gg. Vm., vorl. 0,4%). Auch der wöchentliche Aktivitätsindex der Bundesbank erholte sich in Q2 deut lich und setzte diese Entwicklung auch im dritten Quartal fort. Es hängt jedoch noch einiges davon ab, wie sich vor allem die Produktion im Verarbeitenden Gewerbe im Juni entwickelt hat. Nach den enttäuschenden Märzdaten liegt sie im 2-Monatsvergleich von April und Mai gegenüber Februar und März noch rund 0,4% im Minus. Unter Berücksichtigung der wöchentlichen Maut-Fahrleistungsdaten könnte die Industrieproduktion im Juli zumindest seit wärts tendiert haben. Ausgehend von den Stimmungsdaten dürfte der Dienst leistungssektor in Q2 (PMI: 55,8) das Wachstum gestützt haben. Sentiment startet schwach in Q3 - Lichtblicke sind die Einkommens - und Inflati onsentwicklung Das Positive vorneweg. Wir erwarten in Q3 immer noch eine gewisse Aufholbe wegung beim privaten Verbrauch und damit auch beim BIP (Q3: 0,4% gg. Vq.), wenn die Gesamtinflation weiter zurückgeht und die vereinbarten Lohnerhöhun gen bzw. steuer- und abgabebefreiten Inflationsausgleichszahlungen wirksam werden. Zudem wurden die Renten für rund 21 Mio. Ruheständler zum 1. Juli um 4,39% im Westen und 5,86% im Osten angehoben. -15 -10 -5 0 5 10 18 19 20 21 22 23 Tatsächliche Werte Modell In-Sample-Anpassung des Modells 2 % gg. Vq. Quelle: Deutsche Bank Research 90 95 100 105 110 115 120 125 130 60 70 80 90 100 110 120 Industrieproduktion Auftragseingang (o. Großaufträge) Einzelhandelsumsätze Index, sb. Index, sb. Entscheidende Wirtschaftsdaten erholten sich bis Mai teilweise 3 Quelle: Statistisches Bundesamt -7 -5 -3 -1 1 3 5 Mrz 20 Jul 20 Nov 20 Mrz 21 Jul 21 Nov 21 Mrz 22 Jul 22 Nov 22 Mrz 23 Jul 23 %, sb. Quelle: Deutsche Bundesbank Wöchentlicher Aktivitätsindex der Bundesbank noch auf Erholungskurs 4 „Halbzeitbilanz" - Reformen zur Bewältigung der neuen Wachstumsherausforderung 14 | 27. Juli 2023 Ausblick Deutschland Das am GfK-Index gemessene Verbrauchervertrauen für den August hat sich etwas erholt auf -24,4 Punkte (+0,8 gg. Vm.). Vor allem die Einkommenserwar tungen haben sich spürbar verbessert, während die Anschaffungsneigung vor erst noch fast unverändert schwach bleibt. Im Verarbeitenden Gewerbe scheint sich der Pessimismus allerdings vorerst verfestigt zu haben. Der Einkaufsmanager-Index (PMI) für die Industrie liegt schon seit Mitte 2022 im kontraktiven Bereich von unter 50 und enttäuschte auch im Juli mit einem Absacken auf 38,8 (Erstmeldung), dem tiefsten Stand seit Mai 2020! Auch das ifo Geschäftsklima für das Verarbeitende Gewerbe sackte im Juli (-6,6 gg. Vm. auf 3,6 Saldenpunkte) weiter ab, vor allem getrieben durch eine Ver schlechterung der Lageeinschätzung. Die Kapazitätsauslastung gibt in Q3 um 1,4 %-Punkte nach, auf 83%. Damit liegt sie erstmals seit gut zwei Jahren unter ihrem langfristigen Mittelwert von 83,6%. Wenngleich sich die zum Jahreswechsel befürchteten Risiken für die Energie versorgung nicht materialisiert haben, belastet nun die schwache Globalkon junktur den Ausblick und die Lageeinschätzung der Industrie. Vor allem die schwächer als erwartet ausfallende Konjunkturerholung in China dürfte das Ge schäftsklima belasten. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund sind die Unternehmen vorsichtiger bei der Auftragsvergabe geworden und könnten auch noch über ausreichend Vorräte an Produktionsmaterial verfügen. Die PMI-Komponente der Neuaufträge sank im Juli auf 32,7 und damit ebenfalls auf den tiefsten Stand seit Mai 2020. Hinsichtlich der schwächeren Erholung von Chinas Wirtschaft und der von uns zum Jahresende noch erwarteten leichten US-Rezession dürften auch die Im pulse für den Außenhandel schwächer ausfallen, was sich bereits in unserer Jahresprognose und dem Quartalsprofil für 2023 widerspiegelt. Für den deut schen Nettoaußenbeitrag könnte es ein zumindest kurzfristiges Aufwärtsrisiko geben, wenn die Importpreise deutlicher schrumpfen als die Exportpreise und sich die nominalen Volumina entsprechend günstig entwickeln. Im Vergleich zum Verarbeitenden Gewerbe hielt sich die Stimmung im Dienst leistungsbereich bis vor Kurzem noch robust expansiv, geradezu als Dichoto mie. Seit Juni zeigt sich jedoch auch hier, dass die positive Widerstandsfähigkeit Grenzen hat. Zu Beginn von Q3 gab der PMI für die Dienstleistungen rund 2 Pkt. nach, auf einen Stand von 52. Der größte Teil der Nachholeffekte durch aufgestaute Nachfrage der privaten Haushalte scheint aufgebraucht zu sein. Risiko Niedrigwasser im Rhein 8 Der Wasserstand des Rheins weckte zuletzt Erinnerungen an 2018 und 2022 . Wenngleich die kon junkturellen Rahmenbed ingungen anders sind als in früheren Dürrejahren, dürfte n niedrige Was serstände zumindest die Transportkosten auf Deutschlands wichtigster Wasserstraße treiben. Zwi schenzeitlich war der Wasserstand an dem für die Rheinschifffahrt wichtigen Pegel in Kaub am 24. Juli auf den Jahrestiefststand von 92 cm gefallen. Wasserstände unter 135 cm bedeuten dort, dass ein typisches Großes Containerschiff (200 TEU (twenty - foot equivalent unit) oder bis zu 3.000 Ton nen, Länge 110m, Tiefgang ca. 3m) in der Regel seine Ladu ng auf ca. 50% reduzieren muss. Das bedeutet, dass für die gleiche Menge an Ladung mehr Schiffsraum zur Verfügung gestellt werden muss. Zur Deckung der Mehrkosten werden vertraglich vereinbarte Kleinwasserwasserzuschläge in Abhängigkeit von den Wasserständ en an Referenzpegeln (z.B. Kaub oder Duisburg - Ruhrort für die Rheinabschnitte südlich bzw. nördlich von Koblenz) erhoben. Für das Jahr 2018 schätzte das Institut für Weltwirtschaft (IfW) in Kiel, dass die Produktion des V erarbeitenden Gewerbes um etwa 1% zurückging, wenn der Wasserstand am Pegel Kaub für ei nen Zeitraum von 30 Tagen unter die Marke von 78 Zentimetern fiel. Di e heutigen Verhältnisse er scheinen uns bisher weniger dramatisch. Zum einen ist die Industrieaktivität derzeit gedämpfter, zum anderen haben die Erfahrungen der letzten Jahre wahrscheinlich zu Anpassungen in den po tenziell betroffenen Lieferketten beigetra gen. -80 -70 -60 -50 -40 -30 -20 -10 0 10 -80 -60 -40 -20 0 20 40 60 80 20 21 22 23 GfK Konsumklima Einkommenserwartungen Anschaffungsneigung Sparneigung (rechts) Konsumklima: Einkommenserwartungen stabilisieren, Kaufneigung noch schwach 5 Index Index Quelle: GfK 15 25 35 45 55 65 75 16 17 18 19 20 21 22 23 PMI Industrie PMI Industrie: Auftragseingang PMI Dienstleistungen Quellen: S&P, HCOB Index, sb. PMIs: Dichotomie von Verarbeitendem Gewerbe und Dienstleistungen 6 0 100 200 300 400 500 600 700 2023 2022 2018 10J-Durchschn. Rheinpegel am Messpunkt Kaub, in Zentimetern Pegel des Rheins weckten zuletzt Erinnerungen an 2022 und 2018 7 Quellen: Wasserstraßen - und Schifffahrtsverwaltung des Bundes, Bloomberg Finance LP „Halbzeitbilanz" - Reformen zur Bewältigung der neuen Wachstumsherausforderung 15 | 27. Juli 2023 Ausblick Deutschland Angesichts der bislang vorliegenden harten Daten und des gesamten Konjunk turumfeldes fühlen wir uns mit unserer BIP-Prognose von -0,3% für das Ge samtjahr 2023 und 0,5% für 2024 noch wohl. Gleichwohl signalisieren die aktu ellen Stimmungsindikatoren eher Abwärtsrisiken für H2 2023. Marc Schattenberg (+49 69 910-31875, marc.schattenberg@db.com) Wir danken Niklas Humann für seinen umfassenden Beitrag zur Erstellung des Nowcast-Modells. „Halbzeitbilanz" - Reformen zur Bewältigung der neuen Wachstumsherausforderung 16 | 27. Juli 2023 Ausblick Deutschland Verbraucherpreise : Basiseffekte schieben Juni - Rate an - Inflation dürfte aber wieder fallen - Nach drei Monatsrückgängen zwischen Februar und Mai zog die deutsche Jahresteuerungsrate (nationaler Verbraucherpreisindex; VPI) im Juni wieder an. Der Wiederanstieg im Juni sollte jedoch nicht mit einem Wiederaufleben des zugrunde liegenden Inflationsdrucks verwechselt werden, da er aus schließlich auf zwei statistische Basiseffekte („9-Euro-Ticket", „Kraftstoffra batt") zurückgeführt werden kann. - Angesichts des desinflationären Ausblicks für Energie, Nahrungsmittel und die sogenannten Kerngüter (Waren ohne Energie/Nahrungsmittel) dürfte die VPI-Gesamtinflationsrate in den nächsten 12 bis 18 Monaten erheblich sin ken. Unserer Einschätzung nach könnte die 2 %-Marke womöglich bereits Ende 2024 wieder unterschritten werden. In einer Jahresdurchschnittsper spektive erwarten wir einen Rückgang der Gesamtinflationsrate auf 6,1% im Jahr 2023 und auf 2,3% im Jahr 2024 (2022: 6,9%). Die Kerninflationsrate dürfte allerdings recht hartnäckig bleiben bzw. deutlich langsamer zurückge hen. Sie dürfte im Jahresmittel 2023/24 noch immer hohe Werte von 5,2% bzw. 3,4% (2022: 3,8%) erreichen. - Mit Blick auf unsere Inflationsprognosen (weiterer Rückgang in unserer Ba sis-Projektion) sind die Risiken in der Summe nach wie vor aufwärtsgerich tet. Insbesondere ein anhaltend hoher Lohndruck könnte die Dienstleis tungspreisinflation anheizen und den Normalisierungsprozess bei der zu grunde liegenden Inflation verlangsamen, begrenzen oder gar beenden. Darüber hinaus könnte die Aufkündigung des Getreideabkommens durch Russland zumindest vorübergehend zu erneuten globalen Engpässen bei der Nahrungsmittelversorgung führen und damit die Nahrungsmittelpreise abermals unter Aufwärtsdruck setzen. Aber auch die derzeitige Dürre in Südeuropa könnte die von uns erwartete Mäßigung bei den Lebensmittel preisen über größere Ernteausfälle verlangsamen, wenn nicht gar verhin dern. Juni - Rückblick : Zwei Basiseffekte haben die VPI - Inflationsrate … Nach drei Monatsrückgängen zwischen Februar und Mai zog die deutsche Jah resteuerungsrate (nationaler Verbraucherpreisindex; VPI) im Juni wieder von 6,1% auf 6,4% an. Im Vergleich zum Mai-Wert stieg der VPI um 0,26% (saison bereinigt: ca. +0,34%). Die Juni-Zahlen entsprachen zwar unseren eigenen Prognosen, lagen jedoch leicht über den Markterwartungen (Konsens: +0,2 gg. Vm. / +6,3% gg. Vj.). Derweil stieg der harmonisierte - und für Ländervergleiche gewöhnlich herangezogene - Verbraucherpreisindex (HVPI) um 0,4% gg. Vm. (saisonbereinigt: ca. +0,5%), was zu einem Anstieg der Jahresteuerungsrate auf nunmehr 6,8% (Mai: 6,3%) zur Folge hatte. ... um ca. ½ bis ¾ Prozentpunkte auf jetzt 6,4% angeschoben Der Wiederanstieg im Juni sollte jedoch nicht mit einem Wiederaufleben des zu grunde liegenden Inflationsdrucks verwechselt werden, da er ausschließlich auf zwei statistische Basiseffekte zurückgeführt werden kann, die im Zusammen hang mit der temporären Bereitstellung des „9-Euro-Tickets" sowie der vorüber gehenden Gewährung des „Tankrabatts" zwischen Juni und August 2022 ste hen. Ohne diese beiden Effekte - welche die Jahresteuerungsrate auch noch im Juli und August rechnerisch hoch- bzw. höherhalten werden - wäre die VPI Gesamtinflationsrate weiter gefallen. Auf Basis der detaillierten/finalen Juni -2 0 2 4 6 8 10 21 22 23 VPI: Kraftstoffe VPI: Haushaltsenergie VPI: Nahrungsmittel VPI: Kernrate (ohne Energie/Nahrungsmittel) VPI Quellen: WEFA, Statistisches Bundesamt, Deutsche Bank Research % gg. Vj. bzw. Beiträge in Prozentpunkten VPI - Gesamtinflationsrate (und Unterkomponenten) 1 -2 0 2 4 6 8 10 12 19 20 21 22 23 HVPI: Kraftstoffe HVPI: Haushaltsenergie HVPI: Nahrungsmittel HVPI: Kernrate (ohne Energie/Nahrungsmittel) HVPI % gg. Vj. bzw. Beiträge in Prozentpunkten HVPI - Gesamtinflationsrate (und Unterkomponenten) 2 Quellen: Eurostat, Haver Analytics, Deutsche Bank Research „Halbzeitbilanz" - Reformen zur Bewältigung der neuen Wachstumsherausforderung 17 | 27. Juli 2023 Ausblick Deutschland Werte für den VPI schätzen wir, dass allein der Basiseffekt des 9-Euro-Tickets" die Jahresveränderungsrate um etwa einen halben Prozentpunkt erhöht haben könnte. 13 Darüber hinaus hat sich der zum Vorjahresmonatswert gemessene Rückgang der Kraftstoffpreise im Juni auf „nur noch" 6,9% abgeschwächt (Mai: - 14,2% gg. Vj.), was vor allem auf den Tankrabatt-Effekt zurückgeführt werden kann. Insgesamt schätzen wir, dass diese beiden Basiseffekte zusammenge nommen die VPI-Jahresveränderungsrate um grob ½ - ¾%-Punkte erhöht ha ben dürften. Bei Haushaltsenergie, Nahrungsmittel n und den Kern g üter n ging die Jahresteuerungsrate im Juni weiter zurück Unter Berücksichtigung der oben beschriebenen Sonderfaktoren haben die de taillierten Juni-Inflationsdaten uns in unserer Einschätzung bestätigt, dass die Gesamtinflationsrate in der kurzen bis mittleren Sicht weiter deutlich zurückge hen dürfte. In diesem Zusammenhang sei gesagt, dass sich der Preisauftrieb bei Nahrungsmitteln - der zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch immer eine Haupttriebkraft für die Gesamtinflationsrate ist - in den letzten drei Monaten er heblich abgeschwächt hat. Auf Grundlage saisonbereinigter Daten ist die VPI Nahrungsmittelpreiskomponente im zweiten Quartal bereits um durchschnittlich 0,35% pro Monat gesunken (z. Vgl. Q1: +1,6% pro Monat). Infolgedessen ging die Jahresteuerungsrate für die VPI-Nahrungsmittelpreiskomponente im Juni den dritten Monat in Folge zurück. Mit „nur noch" 13,7% hat sie ihren Höchst stand von 22,3% im März inzwischen deutlich unterschritten. Darüber hinaus spricht auch der nachlassende Preisdruck bei den sogenannten Kerngütern (Waren ohne Nahrungsmittel/Energie) für einen auf kurz bis mittlere Sicht weiter nachlassenden Teuerungsdruck. Der kräftige Preisauftrieb bei den Kerngütern - der während der Pandemie sowie im Anschluss an den russischen Angriffskrieg aufgrund erheblicher Ungleichgewichte zwischen Angebot und Nachfrage angefacht worden ist - ging im Juni weiter auf nunmehr rund 6,4% 13 Insbesondere der Teilindex für die Preise von kombinierten Personenbeförderungsleistungen - der ein VPI-Warenkorbgewicht von ca. 0,68% hat und im Monatsvergleich unverändert blieb - stieg im Juni im Vorjahresvergleich um außergewöhnlich hohe 112,8%. Aufgrund der Einführung des deutschlandweiten ÖPNV-Tickets („49-Euro-Ticket" war dieser Teilindex im Mai noch um 22,9% im Vergleich zum entsprechenden Vorjahreswert zurückgegangen. Darüber hinaus stieg der - im Monatsvergleich unveränderte - Teilindex für die Preise von Bahnfahrkarten im allge meinen Nahverkehr im Juni im Vorjahresvergleich um hohe 61,6% an (Mai: +6,2%). 0 1 2 3 4 5 6 7 8 21 22 23 VPI: Kernrate (ohne Energie u. Nahrungsmittel) VPI: Waren ohne Energie u. Nahrungsmittel VPI: Dienstleistungen Quellen: WEFA, Statistisches Bundesamt, Deutsche Bank Research % gg. Vj. VPI-Kerninflationsrate: Waren vs. Dienstleistungen 3 -2 0 2 4 6 8 10 12 21 22 23 VPI: Waren ohne Energie u. Nahrungsmittel VPI: Verbrauchsgüter ohne Energie u. Nahrungsmittel VPI: Gebrauchsgüter mit mittlerer Lebensdauer VPI: Langlebige Güter % gg. Vj. Quellen: WEFA, Statistisches Bundesamt, Deutsche Bank Research VPI: Waren ohne Energie und Nahrungsmittel 4 0 20 40 60 80 100 90 92 94 96 98 00 02 04 06 08 10 12 14 16 18 20 22 Material/Ausrüstungen Arbeitskräfte Fehlende Nachfrage Finanzielle Hürden % (saisonbereinigte Quartalsdaten) Quellen: WEFA, Europäische Kommission Industrie - Umfrage der EU - Kommission: Produktionsbegrenzende Faktoren in Deutschland 5 „Halbzeitbilanz" - Reformen zur Bewältigung der neuen Wachstumsherausforderung 18 | 27. Juli 2023 Ausblick Deutschland zurück (nach 6,7% im Mai und 7,4% im April). Mit Blick auf die globale Lieferket tenproblematik gaben im Juni laut einer Umfrage des ifo Instituts „nur noch" 31,9% der Produzenten im deutschen Verarbeitenden Gewerbe an, unter einer Knappheit an Vorprodukten zu leiden. Dieser Wert ist zwar immer noch recht hoch, allerdings deutlich niedriger als zu Zeiten des Höhepunkts in der Ange botskrise (März 2022: 80,2%). Schließlich hat auch der nachlassende Energiepreisschock bereits zu einem Rückgang der Jahresteuerungsrate für die VPI-Energiepreiskomponente (Haus haltsenergie, Kraftstoffe) geführt. Dabei sei erwähnt, dass die entsprechende Teilkomponente für Haushaltsenergie - bestehend aus Strom, Gas, Fernwärme, festen Brennstoffen und Heizöl - im Juni um 0,5% gg. Vm. und damit schon den zweiten Monat in Folge gesunken ist (Mai: -0,6% gg. Vm.). Dies hat zur Folge gehabt, dass sich die entsprechende Jahresteuerungsrate für Haushaltsenergie auf „nur noch" 14,0% abgeschwächt hat. Zum Vergleich: Im Oktober/November stand sie noch bei Spitzenwerten von rund 47%). 14 Auch wenn wir davon aus gehen, dass sich die Jahresteuerungsrate für Haushaltsenergie in den kommen den Monaten weiter zurückbilden dürfte, könnte die Energiepreisinflation insge samt - aufgrund der verzögerten Wirkungen des Tankrabatt-Basiseffektes - im Juli und August wieder temporär auf die Marke von über 5% ansteigen. Hohe Dienstleistungspreis inflation gibt weiterhin Anlass zur Sorge Im Gegensatz zur Preisentwicklung bei Energie, den Nahrungsmitteln sowie den Kerngütern hat sich der Preisauftrieb im Dienstleistungssektor noch nicht we sentlich verlangsamt. Tatsächlich hat sich die Jahresteuerungsrate der VPI Dienstleistungskomponente - die im Mai auf 4,5% zurückgegangen war (ausge hend von ihrem bisherigen Höchststand von 4,8% im März) - im Juni erneut auf nunmehr 5,3% erhöht. Dabei muss man allerdings wissen, dass die im Zusam menhang mit dem 9-Euro-Ticket stehenden Basiseffekte für die Preisentwick lung für öffentliche Verkehrsmittel im Moment die Entwicklung der Dienstleis tungspreisinflation verzerren bzw. nach oben überzeichnen. 15 Andererseits muss aber auch erwähnt werden, dass die Dienstleistungspreisinflation nach wie vor in einem erheblichen Maße durch den niedrigen Preisauftrieb bei den Wohnungsmieten gedämpft wird. So beträgt die im VPI gemessene Mietpreisin flation - die einen großen Anteil von etwa 35,7% an der gesamten VPI Dienstleis-tungspreiskomponente ausmacht - aktuell lediglich um die 2% pro Jahr. Daher dürfte die entsprechende Teilkomponente für die Preise der soge nannten Kern-Dienstleistungen - also die ohne die tatsächlichen/unterstellten Nettokaltmieten gemessenen Dienstleistungspreise - ein realistischeres Bild für die zugrunde liegende Preisdynamik im Dienstleistungssektor abgeben. Auch wenn die Jahresteuerungsrate der Kern-Dienstleistungen ohne den 9-Euro-Ti 14 Während die Jahresteuerungsrate für Heizöl (einschließlich Betriebskosten für eine Gaszentral heizung) mit -13,9% inzwischen deutlich im negativen Bereich liegt, haben sich die Jahresteue rungsraten für Gas (einschließlich Betriebskosten für eine Gaszentralheizung) (+33,3% vs. eines Spitzenwertes von +82,8%), Strom (+10,5% vs. +26,7%) und Fernwärme (+9,3% vs. 37,6%) im Vergleich zu den Höchstständen aus dem Jahr 2022 mehr als halbiert. Dieser nachlassende Preisdruck lässt sich durch eine Kombination aus a) großen Basiseffekten, b) den (teilweisen) Energiepreisobergrenzen der Regierung (die die Strom-, Gas- und Fernwärmepreise dämpfen) und c) dem Einbruch der Großhandelspreise für Strom und Gas erklären, die (allmählich) in die VPI-Statistiken einfließen. 15 Es besteht der folgende Hintergrund: Zunächst hat die Einführung des dauerhaften 49-Euro-Ti ckets (Deutschland-Ticket) die Mai-Werte künstlich abgesenkt. Wir schätzen, dass dies die ge genüber dem Vorjahresmonat gemessene Gesamtinflationsrate bzw. die Kerninflationsrate um etwa 0,2 bzw. ½ Prozentpunkten gedämpft haben dürfte. Bei der Dienstleistungspreisinflation könnte der Dämpfungseffekt in der Größenordnung von etwa 0,4 Prozentpunkten gelegen haben. Im Juni hat dann schließlich der im Zusammenhang mit dem 9-Euro-Ticket stehende Basiseffekt die Jahresveränderungsrate der VPI-Dienstleistungspreiskomponente um etwa einen vollen Pro zentpunkt erhöht. -10 -5 0 5 10 15 0 1 2 3 4 5 6 7 8 21 22 23 VPI: Dienstleistungen VPI: Tatsächliche und unterstellte Nettokaltmieten VPI: Andere Dienstleistungen (ohne Pauschalreisen) VPI: Pauschalreisen (rechts) % gg. Vj. Quellen: WEFA, Statistisches Bundesamt, Deutsche Bank Research VPI: Dienstleistungen 6 -10 -5 0 5 10 15 20 25 30 35 40 19 20 21 22 23 Kraftstoffe Heizöl (einschl. Betriebskosten) Feste Brennstoffe Fernwäre u.a. Gas (einschl. Betriebskosten) Strom VPI: Energie % gg. Vj. bzw. Beiträge in Prozentpunkten Quellen: WEFA, Statistiscches Bundesamt, Deutsche Bank Research Der Energiepreisschock lässt nach 7 „Halbzeitbilanz" - Reformen zur Bewältigung der neuen Wachstumsherausforderung 19 | 27. Juli 2023 Ausblick Deutschland cket-Effekt deutlich unterhalb des offiziell ausgewiesenen (und nach oben ver zerrten) Wertes von 6,9% gelegen hätte, wäre sie mit deutlich mehr als 5% noch immer hoch ausgefallen. In der Gruppe der Kern-Dienstleistungen ist momentan ein besonders starker Auftrieb bei den Preisen für Flugtickets (+11,6%), Pau schalreisen (+9,9%) sowie in den Bereichen Verpflegung (+8,4%), Wartung/Re paratur von Fahrzeugen (+8,5%) und Beherbergung (+8,6%) zu beobachten. Und darüber hinaus besteht ein nicht unerhebliches Risiko, dass das allmähli che Durchschlagen der beträchtlichen Lohnerhöhungen (im Zuge der laufenden Tarifrunde) die Dienstleistungspreisinflation weiter anheizen könnte. Jul i - Ausblick : Die VPI - Gesamtinflationsrate dürfte wieder fallen , möglicherweise auf ein Niveau von etwa 6,1% Nach dem erwarteten Juni-Anstieg gehen wir davon aus, dass die Jahresverän derungsrate des VPI schon im Juli wieder auf ihren Abwärtspfad zurückkehren dürfte. Konkret gehen wir davon aus, dass der VPI im Juli um rund 0,2% gg. Vm. (saisonbereinigt: ca. 0,0%) steigen dürfte, was zu einem Rückgang in der Jahresveränderungsgrate auf ca. 6,1% führen würde. Diese Prognose basiert auf unserer Erwartung, dass a) die Jahresteuerungsrate bei Energie temporär nur geringfügig weiter auf ca. 5% ansteigt (größtenteils eine Folge des Tankra batt-Effekts), b) die Nahrungsmittelpreisinflation sich weiter abschwächt (mög licherweise auf einen Wert von ca. 12% gg. Vj.) und c) der VPI ohne Ener gie/Nahrungsmittel nur um etwa 0,25% gg. Vm. (saisonbereinigt: ca. +0,2%) zu legt und damit die Kerninflationsrate wieder auf 5,4% absinkt. Die Gesamtinflation srate dürfte im weiteren Verlauf deutlich sin ken, aber die Ker ninflation könnte sich als hartnäckig erweisen Wir gehen davon aus, dass das Zusammenspiel mehrerer Faktoren die Ge samtinflationsrate im weiteren Verlauf deutlich nach unten drücken dürfte. Ers tens gehen wir davon aus, dass die Energiepreisinflation weiter abebbt und schließlich im Jahr 2024 deutlich negativ wird, was für sich genommen die Ge samtinflation erheblich dämpfen dürfte. So dürfte schließlich auch der Rückgang bei den Großhandelspreisen für Gas und Strom - mit einer gewissen Zeitverzö gerung - an die Verbraucher weitergegeben werden. Zweitens erwarten wir, dass die Jahresteuerungsrate für Nahrungsmittel angesichts einer sich normali sierenden Preisdynamik sowie ausgeprägter statistischer Basiseffekte noch stärker zurückgehen dürfte. Vor dem Hintergrund der bereits gesunkenen Ver kaufspreiserwartungen der Unternehmen 16 sowie der nachlassenden „Pipeline Inflation" auf Ebene der Agrargüterproduzenten 17 rechnen wir damit, dass sich die VPI-Lebensmittelpreisinflation bis Ende 2024 in die Richtung eines Niveaus von rund 3% ermäßigen dürfte. Drittens gehen wir davon aus, dass auch die Kerninflationsrate allmählich sinken sollte, was vor allem an der desinflationären Entwicklung bei den Kerngüterpreisen liegen dürfte. Für eine Desinflation bei den Kerngütern sprechen sowohl mehrere Vorlaufindikatoren (wie z.B. die Ver kaufspreiserwartungen der Unternehmen oder die Preisentwicklungen auf den vorgelagerten Stufen der Produzenten, Importeure und Großhändler) als auch 16 Laut einer Umfrage des ifo Instituts lag der Saldo der Unternehmen, die in den nächsten drei Mo naten die Verkaufspreise (im Einzelhandel mit Nahrungsmitteln, Getränken und Tabakwaren) er höhen wollen, im Juli trotz eines Wiederanstiegs bei „nur noch" 54,9% (Juni: 43,0%; Mai: 62,4%). Trotz des bereits deutlichen Rückgangs (von 99,9% im September 2022) heißt dies aber, dass noch immer mehr als jedes zweite Unternehmen beabsichtigt, die Preise weiter zu erhöhen. 17 Im Mai fielen die landwirtschaftlichen Erzeugerpreise um 2,2% gg. Vm. und den zweiten Monat in Folge. Aufgrund dessen ist die Jahresteuerungsrate für landwirtschaftlicher Erzeugnisse im Mai mit -7,7% deutlich negativ geworden (z. Vgl. Höchststand September 2022: +40,3% gg. Vj.). -5 0 5 10 15 20 25 19 20 21 22 23 Nahrungsmittel, a.n.g. Zucker/Marmelade/Honig/ andere Süßwaren Gemüse Obst Speisefette/-öle Molkereiprodukte und Eier Fisch, Meeresfrüchte Fleisch Brot und Getreide VPI: Nahrungsmittel Quellen: WEFA, Statistiscches Bundesamt, Deutsche Bank Research Die Nahrungsmittelpreisinflation ist zuletzt gesunken 8 % gg. Vj. bzw. Beiträge in Prozentpunkten -40 -20 0 20 40 60 80 100 15 16 17 18 19 20 21 22 23 Volkswirtschaft insgesamt Einzelhandel Verarbeitendes Gewerbe Dienstleistungen Nahrungs- und Genußmittel (Einzelhandel) Saldo (%) Quellen: ifo Institut, WEFA, Deutsche Bank Research Verkaufspreiserwartungen (ifo - Umfrage)* 9 * Saldo der Umfragemeldungen (saisonbereinigt) bezüglich der erwarteten Verkaufspreise in den nächsten drei Monaten. Positive bzw. negative Werte signalisieren einen Aufwärts - bzw. Abwärtsdruck auf die Preise. „Halbzeitbilanz" - Reformen zur Bewältigung der neuen Wachstumsherausforderung 20 | 27. Juli 2023 Ausblick Deutschland strukturelle Faktoren (wie eine Besserung bei den Materialknappheiten und Lie ferkettenproblemen). Insgesamt rechnen wir damit, dass die Gesamtteuerungsrate im Oktober unter 4% fallen dürfte, ehe sie im Dezember nochmals vorübergehend auf 4,3% an steigen dürfte (Grund: Basiseffekte, die im Zusammenhang mit der sogenannten „Dezemberhilfe" für Gas- und Fernwärmekunden aus dem Jahr 2022 stehen). Zum Jahreswechsel dürfte die Gesamtinflationsrate dann aber wieder sinken und könnte möglicherweise bereits Ende 2024 unter die Marke von 2% fallen. Im Unterschied zur Gesamtinflationsrate dürfte sich die Kerninflationsrate je doch wesentlich langsamer zurückbilden. Unserer Einschätzung nach dürfte die Kernrate somit auch erst im Oktober unter die Schwelle von 5% fallen und zum Jahresende noch immer einen erhöhten Wert von um die 4% ausweisen. Auch im Jahr 2024 dürfte die Normalisierung bei der Kerninflation nur allmählich vo ranschreiten. Denn unserer Einschätzung nach dürften die verzögerten Auswir kungen höherer Löhne dazu beitragen, dass die Kerninflationsrate auch zum Jahresende 2024 noch immer über der 3%-Marke liegen könnte. Die Risiken bleiben insgesamt aufwärtsgerichtet Weitestgehend begünstigt durch die desinflationären Effekte bei Energie, Nah rungsmitteln und den Kerngütern erwarten wir, dass die VPI-Inflationsrate im Jahresdurchschnitt 2023 auf 6,1% zurückgehen dürfte (2022: 6,9%). Für das Jahr 2024 rechnen wir mit einem Wert von 2,3%. Gleichzeitig gehen wir davon aus, dass die jahresdurchschnittliche Kerninflation bei 5,2% (2023) bzw. 3,4% (2024) liegen dürfte (2022: 3,8%). Mit Blick auf unsere Inflationsprognosen (weiterer Rückgang in unserer Basis Projektion) sind die Risiken in der Summe insgesamt aufwärtsgerichtet. Insbe sondere ein anhaltend hoher Lohndruck könnte die Dienstleistungspreisinflation anheizen und den Normalisierungsprozess bei der zugrunde liegenden Inflation verlangsamen, begrenzen oder schlimmstenfalls gar beenden. In diesem Zu sammenhang ist hervorzuheben, dass die Deutsche Bundesbank einen kräfti gen Anstieg der Bruttolöhne (je Arbeitnehmer) von 6,0% im Jahr 2023 und 5,2% im Jahr 2024 (2022: 4,1%) erwartet (siehe Monatsbericht (Juni 2023) ). 80 100 120 140 160 180 19 20 21 22 23 Index Preisentwicklung auf den vorgelagerten Stufen 10 -10 0 10 20 30 40 50 19 20 21 22 23 Verbraucherpreisindex (VPI) Erzeugerpreisindex Erzeugerpreisindex (landwirtschaftl. Produkte) Importpreisindex Großhandelspreisindex % gg. Vj. Quellen: WEFA, Statistisches Bundesamt, Deutsche Bank Research -60 -40 -20 0 20 40 60 80 100 -5 0 5 10 15 20 25 05 07 09 11 13 15 17 19 21 23 VPI: Nahrungsmittel (% gg. Vj.) (links) ifo-Verkaufspreiserwartungen (Nahrungs und Genussmitteln; Einzelhandel)* (% Saldo, 3 Monate Vorlauf) (rechts) Quellen: WEFA, Statistisches Bundesamt, ifo Institut, Deutsche Bank Research Saldo der Umfragemeldungen (saisonbereinigt) bezüglich der erwarteten Verkaufspreise in den nächsten drei Monaten. Positive bzw. negative Werte signalisieren einen Aufwärts - bzw. Abwärtsdruck auf die Preise. ifo - Verkaufspreiserwartungen vs. VPI - Nahrungsmittelpreise 11 75 100 125 150 175 200 225 250 15 16 17 18 19 20 21 22 23 Landwirtschaftlicher Erzeugerpreisindex: Insgesamt Landwirtschaftlicher Erzeugerpreisindex: Pflanzliche Erzeugnisse davon: Getreide davon: Gemüse davon: Obst Landwirtschaftlicher Erzeugerpreisindex: Tierische Erzeugnisse Landwirtschaftliche Erzeugerpreise 12 Index Quellen: WEFA, HWWI, Deutsche Bank Research „Halbzeitbilanz" - Reformen zur Bewältigung der neuen Wachstumsherausforderung 21 | 27. Juli 2023 Ausblick Deutschland Weitere Aufwärtsrisiken sind mit der (unsicheren) Entwicklung der Lebensmittel preise verbunden. In diesem Zusammenhang könnte die jüngste Aufkündigung des Getreideabkommens durch Russland - das bisher sichergestellt hatte, dass ukrainische Agrargüter über die Seehäfen des Landes am Schwarzen Meer ex portiert werden konnten - zumindest vorübergehend zu erneuten globalen Eng pässen bei der Nahrungsmittelversorgung und damit zu einem Wiederaufleben des Preisdrucks bei Nahrungsmitteln (insbesondere bei Weizen, Mais oder Öl saaten) führen. Aber auch die derzeitige Dürre in Südeuropa könnte die von uns erwartete Mäßigung bei den Lebensmittelpreisen über größere Ernteausfälle verlangsamen, wenn nicht gar verhindern. Sebastian Becker (+49 69 910-21548, sebastian-b.becker@db.com) -2 0 2 4 6 8 10 16 17 18 19 20 21 22 23 24 Gesamtrate Kernrate Verbraucherpreisindex, % gg. Vj. Die Gesamtinflationsrate dürfte 2023/24 deutlich zurückgehen 14 Quellen: WEFA, Statistisches Bundesamt, Deutsche Bank Research 0 1 2 3 4 5 6 95 97 99 01 03 05 07 09 11 13 15 17 19 21 23 25 Tarifverdienste Arbeitnehmerentgelt je Arbeitnehmer % gg. Vj. Quellen: WEFA, Statistisches Bundesamt, Deutsche Bundesbank, DB Research Prognose für 2023 - 25: Deutsche Bundesbank Die Tarif - und Effektivverdienste dürften 2023/24 spürbar steigen 13 „Halbzeitbilanz" - Reformen zur Bewältigung der neuen Wachstumsherausforderung 22 | 27. Juli 2023 Ausblick Deutschland Robuster Arbeitsmarkt stößt an strukturelle Gren zen - Die schwache Konjunktur hinterlässt ihre Spuren am ansonsten robusten Arbeitsmarkt. Die saisonbereinigte Arbeitslosenzahl ist von Februar bis Juni angestiegen, auch ohne den Faktor ukrainischer Flüchtlinge. Der daraus re sultierende Basiseffekt dürfte die jahresdurchschnittliche Arbeitslosenquote nun auch im Jahr 2024 bei 5,5% halten. - Trotz Fach- und Arbeitskräftemangel scheint der Beschäftigungsaufbau vor erst zu stagnieren und Arbeitsmarktfrühindikatoren lassen zunächst einen weiteren Anstieg der Arbeitslosenzahl erwarten. Offenbar fehlen den poten ziell vorhandenen Arbeitskräften die geforderten Qualifikationen und/oder die Personen sind geografisch nicht entsprechend verfügbar. - Noch keine Sommerpause in den Tarifverhandlungen. Die sich hinziehen den Tarifrunden sowie die erst im Oktober beginnenden Verhandlungen im Öffentlichen Dienst der Länder dürften noch spürbaren Einfluss auf die Ta rif- und Effektivlohnentwicklung der Jahre 2023 und 2024 haben. Der deutsche Arbeitsmarkt ist nach wie vor robust. Aber neben den Spuren der konjunkturellen Schwäche werden auch Indizien für dessen strukturelle Gren zen immer deutlicher. Zwar herrscht in vielen Wirtschaftsbereichen nach wie vor ein Fach- bzw. Arbeitskräftemangel, wie unter anderem das KfW-ifo-Fachkräf tebarometer aufgezeigt. Zu Beginn von Q2 gaben gut 42% (Q4: 45,7%) der be fragten Unternehmen an, dass Fachkräftemangel ihre Geschäftstätigkeit behin dert. Dennoch ist die saisonbereinigte Arbeitslosenzahl in den Monaten Februar bis Juni auch ohne den Einfluss ukrainischer Flüchtlinge um insgesamt 60.000 Personen (ansonsten 94.000) gestiegen. Auch in der zweiten Jahreshälfte ist durchaus noch mit monatlichen Anstiegen in der Größenordnung von etwa 10.000 Personen zu rechnen. Darauf deuten nicht zuletzt auch die Komponen ten der Arbeitsmarktfrühindikatoren von IAB und ifo. Zumindest für den Dienst leistungssektor sind die Signale aber noch positiv. Im Zeitraum vor der Pandemie muss schon bis in die Krisenjahre 2013 oder gar 2009 zurückgeschaut werden (abgesehen von einem statistischen Sondereffekt Mitte 2019), um einen ähnlich kräftigen Anstieg der saisonbereinigten Arbeitslo senzahl zu finden. Auch wenn die ökonomischen Rahmenbedingungen heute anders sind, sollte die aktuelle Entwicklung zu denken geben. Die saisonberei nigte Arbeitslosenquote kletterte im Juni auf 5,7% (Durchschnitt 2019: 5%). Der aus der Entwicklung in der ersten Jahreshälfte resultierende Basiseffekt dürfte die Arbeitslosenquote nun im Jahr 2024 bei 5,5% (zuvor 5,4% erwartet) halten. Das würde einer jahresdurchschnittlichen Arbeitslosenzahl von gut 2,5 Mio. ent sprechen. In 2023 dürfte die Arbeitslosenquote im Gesamtjahr bei 5,6% (2022: 5,3%) liegen. Zwar ließe sich relativierend einwenden, dass im Zuge der Registrierung von Kriegsflüchtlingen nun erwartbar vermehrt Personen nach Abschluss von Inte grationsmaßnahmen wieder in der Arbeitslosenstatistik auftauchen. Aber auch der Aufwuchs an sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung (Apr: 34,7 Mio.) und Erwerbstätigkeit insgesamt (Mai: 45,9 Mio.) scheint im saisonbe reinigten Vormonatsvergleich erst einmal auf den jeweiligen Höchstständen ein Plateau zu bilden. Und das angesichts der immer noch rund 762.000 bei den Arbeitsagenturen gemeldeten offenen Stellen. Die repräsentative Stellenerhe bung des IAB ergibt für Q1 trotz der konjunkturellen Schwäche sogar noch 1,75 Mio. (Q4: 1,98 Mio.) Vakanzen. Offenbar fehlen den potenziell schon vorhandenen Arbeitskräften die geforder ten Qualifikationen und/oder die Personen sind geografisch nicht entsprechend 4,5 5,0 5,5 6,0 6,5 7,0 400 450 500 550 600 650 700 750 800 850 900 16 17 18 19 20 21 22 23 Offene Stellen (links) Arbeitslosenquote (rechts) '000 % Arbeitsmarkt weiter stabil, aber strukturelle Grenzen werden zunehmend sichtbar 1 Quelle: Bundesagentur für Arbeit -5 -4 -3 -2 -1 0 1 2 3 18 19 20 21 22 IAB-Arbeitsmarktbarometer (Komponente A: Arbeitslosigkeit) ifo-Beschäftigungsbarometer PMI Composite Beschäftigungskomponente Standardisierte Werte Quellen: Bundesagentur für Arbeit, ifo, IAB, S&P, HCOB Arbeitsmarktindikatoren: Zunächst noch Anstieg der Arbeitslosigkeit zu erwarten 2 „Halbzeitbilanz" - Reformen zur Bewältigung der neuen Wachstumsherausforderung 23 | 27. Juli 2023 Ausblick Deutschland verfügbar. Angesichts dieser schon länger beobachtbaren „Matching-Probleme" (wir haben an dieser Stelle schon häufiger darauf hingewiesen), ist der Mangel geeigneter Fachkräfte mit Blick auf die weitere Arbeitsmarktentwicklung ein gro ßes Hindernis geworden. Wo sind die Arbeitskräfte hin? Entwicklung der sozialversiche rungspflichtigen Beschäftigung nach Wirtschaftszweigen Angesichts des vielfach zitierten Fachkräftemangels wird häufig etwas süffisant gefragt, wo denn die Arbeitskräfte geblieben sind. Zwar hatte die Pandemie auch spürbar dämpfende Auswirkungen auf die Zuwanderung, insbesondere von qualifizierten Fachkräften. Aber der entscheidende Faktor dürfte der fortge setzte Beschäftigungsaufbau gewesen sein. Von April 2020 bis zum April 2023 (akt. Datenstand) nahm die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung um gut 1,2 Mio. zu, auf rund 34,7 Mio.! Dieses recht dynamische Umfeld, zusammen mit den teilweise lockdownbedingten Auszeiten erlaubte vielfach auch eine be rufliche Neuorientierung. Grafik 4 gibt eine Übersicht zur Entwicklung in den ver schiedenen Wirtschaftszweigen während dieser Vergleichsperiode. Nach den qualifizierten Unternehmensdienstleistungen und IT waren vor allem der Öffent liche Dienst und die Sozialbereiche wichtige Jobmotoren mit einem Beschäfti gungsaufwuchs von gut 690.000 Stellen. Auf der anderen Seite verlor das Ver arbeitende Gewerbe und hier insbesondere die Metall- und Elektroindustrie deutlich an entsprechenden Arbeitsplätzen. Aber auch die Leiharbeit entwickelte sich rückläufig. Gemessen an der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung, verzeichnet das Gastgewerbe (Apr: 1,1 Mio.) nur noch einen relativ geringen Rückgang. Die in diesem Bereich besonders häufig anzutreffenden geringfügig entlohnten Beschäftigungsverhältnisse (Apr: rd. 1 Mio.) haben sich trotz vielfach anderer Wahrnehmung auch sehr gut erholt. Noch keine Sommerpause in den Tarifverhandl ungen Seit dem Frühsommer laufen in den verschiedenen Bundesländern die Tarifver handlungen im Einzelhandel (2,6 Mio. Tarifbeschäftigte) sowie im Groß- und Au ßenhandel (1,2 Mio.). Nach nun meist drei Verhandlungsrunden haben sich die Tarifpartner in den jeweiligen Regionen bis Mitte August oder Anfang Septem ber vertagt. Für die letztgenannte Gruppe fordert die Gewerkschaft ver.di eine Lohnerhö hung von 13% über einen Zeitraum von 12 Monaten. Für den Einzelhandel wird eine Erhöhung der Stundenlöhne um EUR 2,50 gefordert. Nach Angaben von 0 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 2017 2018 2019 2020 2021 2022 2023 Verarbeitendes Gewerbe Handel Dienstleistungen Bauhauptgewerbe Fachkräftemangel hat in einigen Bereichen zuletzt etwas nachgelassen 3 Anteil der Unternehmen, % Quellen: KfW, ifo -210 -110 -10 90 190 Verarbeitendes Gewerbe Metall-, Elektro- u. Stahlindustrie Arbeitnehmerüberlassung Gastgewerbe Sonstige wirtschaftl. Dienstleistungen Handel, Instandhaltung von Kfz Verkehr u. Lagerei Bau Erziehung u. Unterricht Heime u. Soziales Gesundheitswesen Öffentlicher Dienst Information u. Kommunikation Qualifizierte Unternehmensdienstl. Apr 2023 gg. Apr 2020, in Ths. (sb) Strukturelle Veränderungen in der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung 4 Quelle: Bundesagentur für Arbeit „Halbzeitbilanz" - Reformen zur Bewältigung der neuen Wachstumsherausforderung 24 | 27. Juli 2023 Ausblick Deutschland ver.di ist ein großer Teil der Beschäftigten im Einzelhandel in den unteren Lohn gruppen (Stundenlöhne zwischen EUR 12 und EUR 17,44) tätig. Die Lohnforde rung entspricht damit einer prozentualen Erhöhung im Bereich von gut 14% bis knapp 21%. Nach drei Verhandlungsrunden in den meisten Fällen haben sich die Tarifpartner in den jeweiligen Regionen nun auf Mitte August oder Anfang September vertagt. Nachdem das jüngste Angebot der Deutsche Bahn AG von der Tarifkommissi on der Gewerkschaft EVG abgelehnt worden war, hatten sich die Tarifparteien auf eine Schlichtung geeinigt. Die am 26. Juli vorgelegte Schlichtungsempfeh lung sieht für Oktober eine steuer- und abgabenfreie Inflationsausgleichszah lung in Höhe von EUR 2.850 vor. Die Löhne sollen in zwei Schritten (Dez. 2023: EUR 200, Aug. 2024: EUR 210) um einen Festbetrag von insgesamt EUR 410 angehoben werden. Zudem sind in bahnspezifischen Schlüsselberufen zusätzli che Lohnerhöhungen (lt. EVG für rund 70.000 Arbeitskräfte EUR 100 pro Mo nat) vorgesehen. Die Laufzeit soll 25 Monate betragen. Beide Tarifparteien empfehlen die Annahme des Schlichterspruchs. Wenn der Bundesvorstand der EVG dem Vorschlag am 28. Juli zustimmt, soll eine Urabstimmung der Gewerk schaftsmitglieder folgen. Das Abstimmungsergebnis wird für den 28. August er wartet. Bis dahin gilt eine Friedenspflicht, es darf nicht gestreikt werden. Das ist nicht nur eine gute Nachricht für Urlauber, sondern auch für den Güterverkehr. Die sich hinziehenden Tarifrunden sowie die ohnehin erst im Oktober beginnen den Verhandlungen im Öffentlichen Dienst der Länder (rd. 1 Mio., ohne Hessen) könnten spürbaren Einfluss auf die durchschnittliche Tariflohnentwicklung (mit und ohne Sonderzahlungen) der Jahre 2023 und 2024 haben. Die zu erwarten den Abschlüsse dürften sich in Höhe und Struktur an den Ergebnissen anderer Wirtschaftsbereiche orientieren. Entscheidend wird sein, wann und in welcher Höhe potenzielle inflationsbezo gene Sonderzahlungen (in Summe von 2023/24 insg. bis zu EUR 3.000 steuer- und abgabenfrei möglich) geleistet werden beziehungsweise langfristig wir kende prozentuale Lohnanhebungen einsetzen werden. Letztere dürften sich auch in den noch ausstehenden Abschlüssen auf das Jahr 2024 konzentrieren. Daher erwarten wir im laufenden Jahr einen reinen Tariflohnanstieg von „nur" gut 4%, gefolgt von rund 5 bis 6% in 2024. Nicht zuletzt da auch außerhalb der regulären Tarifverhandlungen Inflationsausgleichsprämien vereinbart wurden, dürften Effektivverdienste 18 in diesem Jahr um rund 6% zulegen und in 2024 um 18 Im Zuge der Neukonzeption der Verdiensterhebung (breitere Basis der Erhebung) durch das Sta tistische Bundesamt wurden Nominal- und Reallohnindex auf das Basisjahr 2022 umgestellt und bisherige Ergebnisse revidiert. Durch den Übergang zur neuen Verdiensterhebung und der damit verbundenen Verknüpfung der Indexreihen könnten Ausreißer, wie z.B. „Corona-Sonderzahlun gen" in 2022 nicht vollumfänglich abgebildet sein. Tarifverhandlungen in ausgewählten* Branchen 5 Quellen: WSI-Tarifarchiv, Deutsche Bank Research Tarifbereich Kündigungstermin Beschäftigte Deutsche Bahn AG laufend 180.000 Einzelhandel (Hessen) laufend 592.700 Einzelhandel (NRW und w eitere Regionen) laufend 1.583.900 Groß- und Außenhandel (NRW und w eitere Regionen) laufend 1.175.300 Einzelhandel (Sachsen Anhalt, Thüringen, Sachsen) laufend 212.200 Einzelhandel (Berlin, Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg) laufend 234.400 Öffentlicher Dienst (Länder o. Hessen) 30. Sep. 2023 938.800 Holz und Kunststoff verarbeitende Industrie (versch. Regionen) 30. Nov. 2023 178.900 *Verhandlungen für mehr als 100.000 tariflich gebundene Beschäftigte „Halbzeitbilanz" - Reformen zur Bewältigung der neuen Wachstumsherausforderung 25 | 27. Juli 2023 Ausblick Deutschland gut 5%. Dann könnte sich die Lohndrift nach etwa 1,5 %-Punkten wieder auf gut ¼ %-Punkte (2023: 1,5) zurückbilden. Da die Lohnentwicklung ein wichtiger Be stimmungsgrund der Rentenanpassungen ist, könnte diese im kommenden Jahr sogar noch etwas kräftiger ausfallen als in 2023 (West: 4,39%, Ost: 5,86%). Marc Schattenberg (+49 69 910-31875, marc.schattenberg@db.com) „Halbzeitbilanz" - Reformen zur Bewältigung der neuen Wachstumsherausforderung 26 | 27. Juli 2023 Ausblick Deutschland Öffentliche Finanzen: Leere Kassen und Schul denbremse erfordern eine finanzpolitische Wende - Nach einer längeren Vorbereitungszeit mit intensiven regierungsinternen Beratungen hat sich die Ampelkoalition schließlich auf einen Entwurf zum Bundeshaushalt 2024 geeinigt. Die dafür erforderliche kritische Überprüfung aller Ausgaben markiert einen Wendepunkt in der Finanzpolitik. Trotz er heblicher fiskalischer Puffer außerhalb des Kernhaushalts dürften die fi nanzpolitischen Spielräume in den kommenden Haushaltsjahren zuneh mend enger werden. - Der Konsolidierungsdruck dürfte wohl kaum nachlassen, da beispielsweise die Verteidigungsausgaben im Kernhaushalt deutlich erhöht werden müs sen, um das NATO-Ziel von 2% dauerhaft einzuhalten. Darüber hinaus wer den die Tilgungsverpflichtungen - die zur Rückführung der ausnahmebe dingten, „übermäßigen" Nettokreditaufnahme während der Pandemie und Energiekrise geleistet werden müssen - den fiskalischen Spielraum gegen Ende des Jahrzehnts weiter deutlich verringern. Und schließlich ergibt sich noch ein nicht unbedeutendes Haushaltsrisiko aus dem 2. Nachtragshaus haltsgesetz für das Jahr 2021, mit dem die Regierung nicht beanspruchte Kreditaufnahmeermächtigungen in Höhe von EUR 60 Mrd. aus dem Kern haushalt in den außerbudgetären „Klima- und Transformationsfonds" über tragen hat. - Aufgrund der zunehmend enger werdenden Finanzspielräume liegt es nahe, dass die Regierung ihre Prioritäten bei den Ausgaben zukünftig noch strikter setzen muss. Angesichts unterschiedlicher politischer Prioritäten zwischen den drei Koalitionspartnern sowie der derzeit festgefahrenen Situation im Bundeshaushalt (Begrenzung der Nettokreditaufnahme durch die Schulden bremse, Ablehnung von Steuererhöhungen) dürften sich die Fragen zur Fi nanzierbarkeit der Wirtschaftspolitik auf absehbare Zeit nicht leichter beant worten lassen. Haushalt 2024: Ausgabenzurückhaltu ng ist das Gebot der Stunde Kurz vor Beginn der parlamentarischen Sommerpause und nach einer längeren Vorbereitungszeit mit intensiven regierungsinternen Beratungen hat sich die Ampelkoalition schließlich auf einen Entwurf zum Bundeshaushalt 2024 geei nigt. Der Haushaltsentwurf 2024 und die aktualisierte Finanzplanung bis 2027 beruhen auf der grundsätzlichen Übereinkunft, a) den ultra-expansiven fiskalpo litischen Kurs zu beenden (und die normalen Regeln der Schuldenbremse ein zuhalten), b) die Investitions- und Verteidigungsausgaben (im Kernhaushalt) auf relativ hohen Niveaus zu halten und c) weiterhin auf Steuererhöhungen zu ver zichten. Aufgrund des schwachen Wirtschaftswachstums und der enormen kurz- bis mittelfristigen fiskalischen Herausforderungen (Sozialausgaben/altersbe dingte Ausgaben, grüne/digitale Investitionen, Verteidigung, Zinsausgaben, Til gungsverpflichtungen im Kontext der Schuldenbremse) war für den aktuellen Haushaltsaufstellungsprozess eine kritische Überprüfung aller Bundesausgaben erforderlich. Daher markiert der Haushaltsentwurf 2024 auch laut Regierung ei nen „Wendepunkt in der Finanzpolitik" auf dem Weg von einer pandemie- und krisenbedingten Politik der öffentlichen Defizitfinanzierung hin zur finanzpoliti schen „Normalität". Finanzminister Christian Lindner (FDP) gab zu bedenken, dass dieser Kurswechsel auch deshalb notwendig sei, um die fiskalpolitischen Puffer (für die nächste Krise) wiederaufzufüllen und der hohen Inflation entge genzuwirken. -300 -200 -100 0 100 200 300 400 500 600 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021 2022 2023 2024 2025 2026 2027 Saldo der Rücklagenbewegungen Nettokreditaufnahme Ausgaben Einnahmen Finanzierungssaldo Steuereinnahmen EUR Mrd. (Kernhaushalt des Bundes) Quellen: Bundesfinanzministerium, Deutsche Bank Research Haushaltsentwurf 2024 und Finanzplan bis 2027 1 „Halbzeitbilanz" - Reformen zur Bewältigung der neuen Wachstumsherausforderung 27 | 27. Juli 2023 Ausblick Deutschland Konkret strebt die Bundesregierung im Kernhaushalt 19 für das Haushaltsjahr 2024 ein Ausgabenniveau von „nur noch" 445,7 Mrd. EUR an (ca. 10,4% des BIP 2024F). Dies entspräche einem Rückgang um rund EUR 30 Mrd. oder 6,4% gegenüber dem Sollwert für das laufende Haushaltsjahr 2023. Angesichts eines prognostizierten Anstiegs der Bundeseinnahmen auf EUR 421,3 Mrd. - was ei nen Anstieg um EUR 31,4 Mrd. bzw. 8,0% gegenüber dem Vorjahr gleichkäme - würde die für die Schuldenbremse relevante Nettokreditaufnahme auf „nur noch" EUR 16,6 Mrd. (Sollwert 2023: EUR 45,6 Mrd.) absinken und damit ein Niveau erreichen, welches noch mit der Schuldenbremse vereinbar wäre. In den darauffolgenden Haushaltsjahren soll die Nettokreditaufnahme schließlich bei EUR 16,0 Mrd. (2025), EUR 15,4 Mrd. (2026) und EUR 15,0 Mrd. (2027) liegen. Die am Markt beanspruchte Nettok reditaufnahme dürfte deutlich höher sein … Aus dem aktualisierten Finanzplan sind drei Dinge erwähnenswert. Erstens wä ren die für den Kernhaushalt des Bundes angestrebten Gesamtausgaben trotz der verordneten Ausgabenzurückhaltung immer noch um gut EUR 100 Mrd. (oder fast 30%) höher als im letzten Vorpandemiejahr (2019: EUR 343,2 Mrd.). Zweitens lägen die Einnahmen des Bundes um knapp EUR 65 Mrd. bzw. fast ein Fünftel höher als vor der Pandemie (2019: EUR 356,5 Mrd.). Und drittens dürfte die tatsächliche (am Markt beanspruchte) Nettokreditaufnahme des Bun des - die nicht nur den Kernhaushalt, sondern auch die finanziell bedeutenden Sondervermögen umfasst - deutlich höher ausfallen, als es der im Kontext der Schuldenbremse (für den Kernhaushalt) aufgezeigte Betrag von „nur" EUR 16,6 Mrd. auf den ersten Blick vermuten lässt. … als der im Kontext der Schuldenbremse aufgezeigte Betrag Dies liegt daran, dass der Bund in zunehmendem Maße von Kreditaufnahmeer mächtigungen Gebrauch machen dürfte, die noch nicht am Kapitalmarkt in An spruch genommen wurden, aber bereits in früheren Haushaltsjahren auf die Schuldenbremse angerechnet wurden. 20 Wir schätzen, dass diese (hauptsäch lich) in Sondervermögen gehaltenen Finanzreserven derzeit noch ca. EUR 400 Mrd. (oder ca. 10% des BIP) betragen dürften (siehe auch unseren Artikel zur Finanzpolitik im Ausblick Deutschland: Nur eine technische Rezession? Wirk lich?). Diese zusätzlichen Finanzpuffer dürften die Bundesregierung (trotz der Wiedereinhaltung der Schuldenbremse) in die Lage versetzen, auch in den kommenden Haushaltsjahren Finanzierungsdefizite aufzuweisen, die deutlich oberhalb der Verfassung gezogenen Obergrenze von 0,35% des BIP liegen. Die Regierung läutet eine finanzpolitische Wende ein Finanzminister Lindner stellte fest, dass die Bundesregierung mit dem Haus haltsentwurf 2024 und dem aktualisierten Finanzplan bis 2027 lediglich zu einer „normalen" Finanzpolitik zurückkehre, bei der die strukturelle Nettokreditauf nahme des Bundes nicht mehr als 0,35% des BIP betragen darf (dies entspricht ca. EUR 13,5 Mrd. im Jahr 2024). 21 Lindner ergänzte, dass der fiskalische Rich 19 Diese Zielgröße beinhaltet keine Ausgaben, die über Nebenhaushalte bzw. von den Sonderver mögen (wie z.B. dem „Klima- und Transformationsfonds" oder dem „Sondervermögen Bundes wehr") getätigt werden. 20 Im Monatsbericht vom Juni 2023 hat die Deutsche Bundesbank einen Artikel über die zuneh mende Bedeutung der außerbudgetären Einheiten des Bundes veröffentlicht. 21 Die zwischen den Jahren 2020 und 2023 im Kontext der Schuldenbremse aufgenommene Netto kreditaufnahme des Bundes beläuft sich auf EUR 506,9 Mrd. (ca. 13,1% des BIP 2022). Ein 8 9 10 11 12 13 14 15 16 Ausgaben Einnahmen Steuereinnahmen % BIP Kernhaushalt des Bundes: Finanzplan bis 2027 2 Quellen: Bundesfinanzministerium, Deutsche Bank Research „Halbzeitbilanz" - Reformen zur Bewältigung der neuen Wachstumsherausforderung 28 | 27. Juli 2023 Ausblick Deutschland tungswechsel den neuen fiskalischen Realitäten Rechnung trage, die es erfor derlich machten, dass neue strukturelle Ausgabenpositionen künftig nur noch mit entsprechenden strukturellen Gegenfinanzierungsmaßnahmen realisiert werden können. Mit Blick auf die grundsätzliche Übereinkunft der Koalitionäre (Einhaltung der Schuldenbremse, keine Steuererhöhungen) impliziert dies, dass neue Ausgabenprojekte entsprechende Ausgabenkürzungen in anderen Haus haltsbereichen nach sich ziehen müssten - es sei denn, die Wirtschaft bzw. die Steuereinnahmen wachsen schneller als erwartet. Nach Ansicht von Lindner ist die fiskalische Wende nicht nur eine verfassungsrechtliche Verpflichtung, son dern aufgrund der Kehrtwende in der Geldpolitik und den wieder höheren Zin sen auch ein Gebot der ökonomischen Vernunft. In diesem Zusammenhang wies er darauf hin, dass das Bundesfinanzministerium mit einem weiteren deutli chen Ausgabenanstieg bei den Schuldzinsen auf rund EUR 37 Mrd. im Haus haltsjahr 2024 rechne. Damit lägen die Zinsausgaben des Bundes nochmals hö her als im laufenden Haushaltsjahr (Sollwert für 2023: EUR 29,5 Mrd.) und er heblich über dem Zinsausgabentief von nur EUR 3,9 Mrd. aus dem Jahr 2021. 22 Die Botschaft ist eindeutig: Die Verfassung und die fiskalischen Realitäten dürf ten in den kommenden Haushaltsjahren - und im Gegensatz zum vorherigen „fi nanzpolitisch goldenen" Jahrzehnt - eine weitere Konsolidierung der Bundesfi nanzen und damit eine fortan striktere Überprüfung und Priorisierung der Bun desausgaben erfordern. Lindner sagte, dass der Haushaltsentwurf 2024 („quan titative Konsolidierung") nur der Ausgangspunkt auf dem Weg der Konsolidie rung sein werde. Er fügte hinzu, dass aufgrund eines hohen Anteils an nicht-dis kretionären bzw. bereits gebundenen Bundesausgaben (z.B. in den Bereichen Soziales, Zinsen und Personalausgaben) 23 die Regierung erst wieder fiskalische Spielräume („Freiheitsräume") schaffen müsse, um neue Ausgabenbedarfe fi nanzieren zu können („qualitative Konsolidierung"). Eine wachsende Ausgabenlücke bei Verteidigung , … Trotz erheblicher fiskalischer Puffer, die außerhalb des Kernhaushalts gehalten werden, dürften die finanzpolitischen Spielräume zunehmend enger werden (Stichworte: Zinswende, ungünstige Demografie, Dekarbonisierung, Digitalisie rung, Ausbau der Verteidigungsfähigkeit). Der Druck, die öffentlichen Finanzen in den kommenden Haushaltsjahren weiter entschlossen zu konsolidieren, dürfte unseres Erachtens nicht nachlassen. Auch wenn es der Regierung gelun gen ist, im Haushalt 2024 eine anfängliche Deckungslücke von ca. EUR 20 Mrd. zu schließen 24 , muss sie darüber hinaus noch eine nicht näher spezifizierte Großteil davon entfällt auf die Haushaltsjahre 2020, 2021 und 2022, in denen die Schulden bremse unter Verweis auf eine außergewöhnliche Notsituation (Ausnahmeklausel) ausgesetzt war. Um die Schuldenbremse bereits im Haushaltjahr 2023 wieder einhalten zu können, muss die Bundesregierung etwa EUR 40 ½ Mrd. der sich auf ca. EUR 48,2 Mrd. belaufenden allgemeinen Rücklage - die sich aus bereits in den Vorjahren auf die Schuldenbremse angerechneten Kredit aufnahmeermächtigungen speist - beanspruchen. Für das Haushaltsjahr 2024 ist vorgesehen, die restlichen Kreditaufnahmeermächtigungen aus der allgemeinen Rücklage zu nutzen. 22 Die Zinsausgaben wären damit mehr als doppelt so hoch wie der von der Schuldenbremse gezo gene (reguläre) Verschuldungsspielraum bzw. würden mehr als zwei Drittel der für das Verteidi gungsministerium vorgesehenen Ausgaben im Kernhaushalt 2024 ausmachen. 23 Laut des Haushaltsentwurfs 2024 sollen allein die Bundeszuschüsse zur gesetzlichen Rentenver sicherung etwa EUR 117,2 Mrd. betragen, was ca. 26,3% der gesamten Ausgaben im Kernhaus halt entsprechen würde. 24 Um diese Lücke zu schließen, müssen alle Ressorts - mit Ausnahme des Bundesverteidigungs ministeriums - in den Jahren 2024 und 2025 entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit zusätzliche Einsparungen in Höhe von insgesamt EUR 3,5 Mrd. erbringen. Darüber hinaus hat die Regierung entschieden, das Sondervermögen „Digitale Infrastruktur" aufzulösen, das mit Bundesmitteln aus gestattet worden war, um den Digitalisierungsprozess zu finanzieren. Die Auflösung dieses Ne benhaushalts wird zwar den Kernhaushalt zunächst im Jahr 2024 um EUR 4,8 Mrd. entlasten, jedoch in späteren Haushaltsjahren zu höheren Ausgaben im Kernhaushalt führen. Laut Regie rung ist für diese künftigen Belastungen in der Finanzplanung eine Vorsorge getroffen worden. 0 5 10 15 20 25 30 35 40 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021 2022 2023 2024 % Gesamtausgaben EUR Mrd. Zinsausgaben des Bundes (in Abgrenzung der Finanzstatistik) Quellen: Bundesfinanzministerium, Deutsche Bank Research Die Zinsausgaben dürften 2023/24 weiter ansteigen 3 0 10 20 30 40 50 60 70 80 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021 2022 2023 2024 % Gesamtausgaben EUR Mrd. Die Investitionen sollen auf hohem Niveau verstetigt werden 4 Investive Ausgaben des Bundes (in Abgrenzung der Finanzstatistik) Quellen: Bundesfinanzministerium, Deutsche Bank Research „Halbzeitbilanz" - Reformen zur Bewältigung der neuen Wachstumsherausforderung 29 | 27. Juli 2023 Ausblick Deutschland Konsolidierungsleistung in Höhe von rund EUR 10 Mrd. (ca. 2 ¼% der Kern haushaltsausgaben) erbringen. 25 Und für den Zeitraum 2025-27 hat das Bun desfinanzministerium einen weiteren finanzpolitischen Handlungsbedarf von EUR 14,4 Mrd. ausgemacht, was einer Konsolidierungsleistung in Höhe von ca. EUR 5 Mrd. pro Haushaltsjahr oder einem Prozent der Ausgaben im Kernhaus halt entsprechen würde (siehe Monatsbericht des Bundesfinanzministeriums vom Juli 2023). Doch damit könnte es noch nicht getan sein. Denn neben dem oben identifizier ten finanzpolitischen Handlungsbedarf könnte die Regierung noch mit weiteren Finanzierungslücken konfrontiert werden. Auch wenn die Regierung mit EUR 54,2 Mrd. im Jahr 2024 und fast EUR 59 Mrd. im Durchschnitt der Jahre 2025 27 ein recht hohes Niveau für die investiven Ausgaben vorgesehen hat (z. Vgl.: 2023: EUR 71,5 Mrd.; 2019: EUR 38,1 Mrd.), bleibt abzuwarten, ob diese Be träge ausreichen werden, um die dringendsten Investitionsbedarfe in den priori sierten Bereichen Dekarbonisierung, Digitalisierung, Mobilität 26 sowie Forschung & Entwicklung zu finanzieren. In diesem Kontext ist auch erwähnenswert, dass die Regierung den „Klima- und Transformationsfonds" nunmehr auch damit be auftragt hat, die Halbleiterindustrie zu subventionieren, statt die dazu benötigten Finanzmittel aus dem Kernhaushalt bereitzustellen. Die Verteidigung ist ein weiterer Bereich, in dem es einen dringenden Finanzie rungs-/Investitionsbedarf gibt. In der Tat müssten die im Kernhaushalt getätigten Verteidigungsausgaben in der mittleren Frist erheblich ansteigen, um das NATO-Ausgabenziel von 2% des BIP nachhaltig zu erfüllen. Ausgehend von den Ausgabenzielen für 2024 (EUR 51,8 Mrd. über das Budget des Verteidi gungsministeriums im Kernhaushalt und weitere EUR 19,2 Mrd. über „Sonder vermögen Bundeswehr") würde immer noch eine Lücke von mehr als EUR 10 Mrd. gegenüber dem NATO-Ausgabenziel bestehen. Die Regierung hat jedoch darauf hingewiesen, dass Deutschland - unter Berücksichtigung sonstiger ver teidigungsbezogener Ausgabenposten in anderen Einzelplänen - das 2%-Ziel bereits im Jahr 2024 erfüllen würde. Ungeachtet dessen dürften aber die - zu sätzlich über das Sondervermögen - bereitgestellten Kreditaufnahmeermächti gungen von EUR 100 Mrd. wahrscheinlich bis zum Haushaltsjahr 2027/28 voll ständig aufgebraucht sein. Demnach würden diese - zur Aufstockung der (noch) relativ niedrigen Verteidigungsausgaben im Kernhaushalt - bereitgestell ten Zusatzmittel ab Ende der 2020er Jahre fehlen. Ab diesem Zeitpunkt könnte die Regierung plötzlich mit einem zusätzlichen Ausgabenbedarf (Kernhaushalt) von rund EUR 40 Mrd. konfrontiert werden - es sei denn, sie stellt im mittelfristi gen Finanzplan deutlich höhere Planwerte für die Verteidigungsausgaben (Kernhaushalt) ein. In diesem Zusammenhang warnte das ifo Institut in einem kürzlich erschienenen Research-Bericht, dass die Einhaltung des 2%-NATO Ziels durch Deutschland gefährdet sei. Das Institut kam zu dem Schluss, dass nur etwa die Hälfte der über das „Sondervermögen Bundeswehr" erteilten Kre ditaufnahmeermächtigungen von EUR 100 Mrd. für die Beschaffung neuen mili 25 Die Regierung hat eine sogenannte „globale Mehreinnahme" von EUR 2 Mrd. eingeplant. Diese Budgetposition impliziert, dass entweder die Wirtschaft (also die Steuereinnahmen) positiv über raschen und/oder die Regierung Steuervergünstigungen abschaffen muss. Darüber hinaus wurde eine „globale Minderausgabe" von EUR 8 Mrd. verbucht. Dies heißt, dass die vorgesehenen Ge samtausgaben noch genau um diesen Betrag gedrückt werden müssen - sei es über noch näher auszugestaltende Kürzungsmaßnahmen und/oder unter Plan liegende Mittelabflüsse. 26 Mit dem Beschluss des Koalitionsausschusses im März hat die Bundesregierung sich dazu bereit erklärt, bis zu EUR 45 Mrd. des Investitionsbedarfs der Deutschen Bahn zu finanzieren. Auch wenn ein Teil der benötigten Mittel u.a. über Einnahmen aus dem CO 2 -Zuschlag der LKW-Maut gedeckt werden sollen, ist absehbar, dass auch größere Summen über den Kernhaushalt ge stemmt werden müssen. In diesem Zusammenhang hat das Bundesfinanzministerium festge stellt, dass derzeit geprüft wird, wie in den kommenden zwei Jahren ein Betrag von EUR 15 Mrd. über den Haushalt bereitgestellt werden kann. Dies legt nahe, dass zur Erreichung des Zielwerts von EUR 45 Mrd. noch größere Gegenfinanzierungsfragen zu klären sein könnten. 0 20 40 60 80 100 17 18 19 20 21 22 23 24 Verteidigungsausgaben des BW-SV Verteidigungsausgaben im Kernhaushalt NATO-Ausgabenziel von 2% des BIP EUR Mrd. Quellen: WEFA, Statistisches Bundesamt, Bundesfinanzministerium, Deutsche Bank Research * Historische Daten in Abgrenzung der Finanzstatistik (Ausgaben nach Aufgabengebiet). Projektionen für 2023/24: Planwerte für die Ausgaben des Bundesverteidigungsministeriums (Einzelplan 14 im Kernhaushalt des Bundes) sowie zusätzlich geplante Ausgaben des Bundeswehr - Sondervermögens. Verteidigungsausgaben* 5 0 1 2 3 17 18 19 20 21 22 23 24 Verteidigungsausgaben des BW-SV Verteidigungsausgaben im Kernhaushalt NATO-Ausgabenziel von 2% des BIP % BIP Quellen: WEFA, Statistisches Bundesamt, Bundesfinanzministerium, Deutsche Bank Research * Historische Daten in Abgrenzung der Finanzstatistik (Ausgaben nach Aufgabengebiet). Projektionen für 2023/24: Planwerte für die Ausgaben des Bundesverteidigungsministeriums (Einzelplan 14 im Kernhaushalt des Bundes) sowie zusätzlich geplante Ausgaben des Bundeswehr - Sondervermögens. Verteidigungsausgaben* 6 „Halbzeitbilanz" - Reformen zur Bewältigung der neuen Wachstumsherausforderung 30 | 27. Juli 2023 Ausblick Deutschland tärischen Materials verwendet werden könne, da 33% dieser Zusatzmittel ledig lich entsprechende Einsparungen im Kernhaushalt kompensierten und weitere 8% für Zinszahlungen benötigt werden würden. … schuldenbremsenbedingte Tilgungspflichten dürften eine noch stärkere Konsolidierung erfordern Zusätzlich zu dem oben genannten Ausgabendruck muss die Bundesregierung gegen Ende des Jahrzehnts mit der Tilgung der krisen- und pandemiebedingten „Notlagenkredite" beginnen, die mit Verweis auf die Ausnahmeregelung in der Schuldenbremse aufgenommen wurden. Diese Tilgungspflichten, die sich be reits ab 2028 auf fast EUR 12 Mrd. pro Haushaltsjahr belaufen dürften (siehe Zusatzinformation des Bundesfinanzministeriums zum Haushaltsentwurf 2024), werden den finanzpolitischen Spielraum im Bundeshaushalt weiter einschrän ken. Und ab dem Haushaltsjahr 2031 könnten sich die jährlichen Tilgungslasten sogar auf einen Gesamtbetrag von ca. EUR 22-25 Mrd. erhöhen. 27 Damit könn ten sich die jährlichen Tilgungspflichten auf eine Summe belaufen, die etwa doppelt so hoch wäre wie der diesjährige Nettokreditaufnahmespielraum unter der im Grundgesetz verankerten Schuldenbremse. Und schließlich ergibt sich noch ein nicht unbedeutendes Haushaltsrisiko aus dem 2. Nachtragshaushaltsgesetz für das Jahr 2021, mit dem die Regierung nicht beanspruchte Kreditaufnahmeermächtigungen in Höhe von EUR 60 Mrd. aus dem Kernhaushalt in den außerbudgetären „Klima- und Transformations fonds" übertragen hat. Die CDU/CSU-Opposition hat beim Bundesverfassungs gericht Klage eingereicht, weil diese finanzpolitische Operation ihrer Ansicht nach gegen das Grundgesetz vorstoßen hat. Kurz gesagt: Das Bundesverfas sungsgericht wird beurteilen müssen, ob die Umwidmung dieser pandemiebe dingten Kreditaufnahmeermächtigungen - die unter der Aktivierung der Ausnah meklausel erteilt wurden - noch mit der grundgesetzlichen Schuldenbremse ver einbar war. Während die mündliche Verhandlung bereits im Juni dieses Jahres stattfand (siehe Mitteilung des Bundesverfassungsgerichts), ist laut Pressebe richten mit einer Urteilsverkündung nicht vor Mitte/Ende September zu rechnen. Fazit Aufgrund der zunehmend enger werdenden Finanzspielräume liegt es nahe, dass die Regierung ihre Prioritäten bei den Ausgaben zukünftig noch strikter setzen muss. In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass das von FDP ge führte Bundesfinanzministerium laut dem aktualisierten Finanzplan für das Bun deshaushaltsjahr 2025 eine Vorsorge von „nur" EUR 2 Mrd. für die geplante Kindergrundsicherung - ein Schlüsselprojekt von Bündnis 90/Die Grünen - ein gestellt hat. Dieser Betrag ist offenkundig deutlich niedriger als die von Familien ministerin Paus (Grüne) ursprünglich geforderten EUR 12 Mrd. pro Jahr. Gleich zeitig hat Finanzminister Lindner erst kürzlich ein größeres Steuerentlastungs paket („Wachstumschancengesetz") vorgelegt, das darauf abzielt, das Wirt schaftswachstum und die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands zu stärken, und welches den gesamtstaatlichen Haushalt um schätzungsweise EUR 6 Mrd. pro Jahr belasten dürfte. 28 Und unterdessen schlug SPD-Chef Lars Klingbeil vor, das Ehegattensplitting bei der Einkommensteuer für neue Ehen abzuschaffen, 27 Die endgültige Tilgungshöhe wird auch entscheidend davon abhängen, wie hoch die tatsächli chen Ausgaben des Wirtschaftsstabilisierungsfonds (WSF-E) zur Finanzierung der energiebezo genen Entlastungsmaßnahmen (wie z.B. der „Energiepreisbremsen") ausfallen werden. 28 Lindners Steuerentlastungspaket umfasst u.a. die Einführung einer Prämie für grüne Investitionen (in Klimaschutz und Energie-/Ressourceneffizienzmaßnahmen), eine höhere Forschungsförde rung durch den Staat sowie großzügigere Verlustverrechnungsregeln für Unternehmen (siehe z.B. FAZ vom 13. Juli 2023). 0 5 10 15 20 25 30 2028 2030 2032 2034 2036 2038 2040 2042 2044 2046 2048 2050 2052 2054 2056 2058 2060 EU-Wiederaufbaufonds (NGEU) Bundeswehr Sondervermögen WSF-Energie 2022 Bundeshaushalte 2020-22 EUR Mrd. Quellen: Bundesfinanzministerium, Deutsche Bank Research Möglicher Tilgungsplan des Bundes im Kontext der Schulden - bremse und NGEU* 7 * Schätzungen von Deutsche Bank Research. Der endgültige Tilgungsplan wird auch davon abhängen, wie hoch die Beanspruchung des WSF - Energie ausfallen wird. Der hier dargestellte Tilgungsbetrag ergibt sich bei einer vollständigen Beanspruchung der dem WSF - Energie zugeteilten Kreditaufnahmeermächtigungen von bis zu EUR 200 Mrd. „Halbzeitbilanz" - Reformen zur Bewältigung der neuen Wachstumsherausforderung 31 | 27. Juli 2023 Ausblick Deutschland um zusätzliche Staatseinnahmen zu generieren (siehe FAZ-Artikel vom 10. Juli 2023) - was von Finanzminister Lindner umgehend zurückgewiesen wurde. An gesichts unterschiedlicher politischer Prioritäten zwischen den drei Koalitions partnern sowie der derzeit festgefahrenen Situation im Bundeshaushalt (Be grenzung der Nettokreditaufnahme durch die Schuldenbremse, Verzicht auf Steuererhöhungen) dürften sich die Fragen zur Finanzierbarkeit der Wirtschafts politik auf absehbare Zeit nicht leichter beantworten lassen. Sebastian Becker (+49 69 910-21548, sebastian-b.becker@db.com) „Halbzeitbilanz" - Reformen zur Bewältigung der neuen Wachstumsherausforderung 32 | 27. Juli 2023 Ausblick Deutschland Rückläufiger Energieverbrauch spiegelt Schwä che energieintensiver Industrien wider - Der Primärenergieverbrauch in Deutschland sank im letzten Jahr um 5,4%. Dies war der drittgrößte Einbruch seit der deutschen Wiedervereinigung, et was weniger als 2020 (-7,1% aufgrund von COVID-19) und 2009 (-5,4%, globale Finanzkrise). Das Wirtschaftswachstum hat sich in den letzten drei Jahrzehnten vom Energieverbrauch abgekoppelt. Dennoch ist es bemer kenswert, dass der Primärenergieverbrauch sank, obwohl das reale BIP 2022 um 1,8% stieg. Der Rückgang des Primärenergieverbrauchs setzte sich Anfang 2023 fort (-6,8% gg. Vj. in Q1). - Die industrielle Gasnachfrage ist in der ersten Jahreshälfte 2023 weiter ge sunken (-11,2% gg. Vj.), nach einem Rückgang um 16,4% im Jahr 2022. Die geringe industrielle Gasnachfrage spiegelt den Rückgang der Industrie produktion in energieintensiven Branchen wider. In den ersten fünf Monaten des Jahres 2023 schrumpfte die Produktion in der chemischen Industrie um 17,2% gg. Vj. Auch die Baustoffindustrie (-17,7%) sowie die Papierindustrie (-14,4%) verzeichneten deutliche Verluste. - Im 1. Halbjahr 2023 sank der Stromverbrauch um überraschend hohe 6,2% gegenüber dem Vorjahr (bereits -3% im Jahr 2022). Die schwache Wirt schaftsleistung der energieintensiven Industrien und höhere Strompreise waren erneut ein wesentlicher Treiber. Ferner sank die Bruttostromerzeu gung in Deutschland im 1. Halbjahr 2023 um mehr als 10% gg. Vj. Der Rückgang der inländischen Stromerzeugung in den ersten Monaten des Jahres wurde durch höhere Stromimporte (+29,3%) und geringere Exporte (-17,7%) kompensiert. Dennoch war Deutschland im bisherigen Jahresver lauf ein Nettoexporteur von Strom. Im Mai und Juni, den ersten vollen Mo naten nach dem endgültigen Ausstieg aus der Kernenergie, erhöhte Deutschland jedoch seine Stromimporte und wurde zum Nettoimporteur von Strom. Primärenergieverbrauch geht Anfang 2023 weiter zurück Die Energiekrise des Jahres 2022 hatte massive Auswirkungen auf den Ener gieverbrauch in Deutschland. Der Primärenergieverbrauch sank im letzten Jahr um 5,4%. Dies war der drittstärkste Einbruch seit der deutschen Wiedervereini gung, etwas weniger als 2020 (-7,1% aufgrund von COVID-19) und 2009 (-5,4%, globale Finanzkrise). Das Wirtschaftswachstum hat sich in den letzten drei Jahrzehnten vom Energieverbrauch abgekoppelt (siehe Grafik). Dennoch ist es bemerkenswert, dass die Primärenergienachfrage trotz eines Anstiegs des realen BIP um 1,8 % zurückging. Im Jahr 2022 verbrauchte Deutschland fast 16% weniger Gas (Unterbrechung der Gaslieferungen aus Russland und höhere Gaspreise) und etwa 50% weni ger Kernenergie (drei von sechs Kernkraftwerken wurden Ende 2021 abge schaltet). Um den geringeren Beitrag von Gas und Kernenergie zum Primär energieverbrauch auszugleichen, wurden mehr Braunkohle (+4,2%), Steinkohle (+4%), erneuerbare Energien (+3,9%) und Mineralöl (+2,9%) eingesetzt. Der Rückgang des deutschen Primärenergieverbrauchs setzte sich zu Beginn des Jahres 2023 fort. Die gesamte Primärenergienachfrage sank im 1. Quartal um 6,8% gg. Vj. Erstaunlich ist, dass alle Energieträger einen Rückgang ver zeichneten. Am meisten verlor die Kernenergie (-31,9% gg. Vj. wegen des Streckbetriebs der letzten drei Kernkraftwerke), gefolgt von Gas (-12,8%), Stein kohle (-7%), Braunkohle (-6,9%) und Mineralöl (-2,6%). Der Beitrag der erneuer 70 80 90 100 110 120 130 140 150 91 95 99 03 07 11 15 19 BIP Primärenergieverbrauch Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Energieverbrauch 1 Reales BIP und Primärenergieverbrauch in Deutschland, 1991=100 Quellen: Statistisches Bundesamt, AG Energiebilanzen „Halbzeitbilanz" - Reformen zur Bewältigung der neuen Wachstumsherausforderung 33 | 27. Juli 2023 Ausblick Deutschland baren Energien zum Primärenergieverbrauch stagnierte aufgrund der ungünsti gen Witterungsverhältnisse in den ersten Monaten des Jahres 2023. Hohe Energiepreise, milde Temperaturen und eine strukturell geringere industrielle Gasnachfrage trugen zu dem deutlichen Rückgang des Primärenergiever brauchs bei. Mineralöl war auch im Jahr 2022 der wichtigste Primärenergieträger, gefolgt von Erdgas, erneuerbaren Energien, Braunkohle und Steinkohle. Alle fossilen Ener gieträger zusammen deckten im vergangenen Jahr 79% des Primärenergiever brauchs ab. Gas: S trukturelle Verluste bei der industriellen Nachfrage Nach Angaben der Bundesnetzagentur sank der industrielle Gasverbrauch in Deutschland bereits 2022 um 16,4%. Zu Beginn dieses Jahres erwarteten wir, dass sich die industrielle Gasnachfrage im Jahr 2023 auf einem niedrigen Ni veau einpendeln würde, und argumentierten, dass ein weiterer Rückgang unter das bereits niedrige Niveau von 2022 eher unwahrscheinlich sei. Allerdings ist die industrielle Gasnachfrage in der ersten Hälfte des Jahres 2023 weiter deut lich zurückgegangen (-11,2% gg. Vj.). Die jüngsten wöchentlichen Daten zeigen zumindest, dass die Lücke in der industriellen Gasnachfrage zwischen 2023 und 2022 kleiner wird. Die geringe industrielle Gasnachfrage spiegelt den Rückgang der Industriepro duktion in energieintensiven Branchen wider. In den ersten fünf Monaten des Jahres 2023 sank die Produktion in der chemischen Industrie um 17,2% gg. Vj. Auch die Baustoffindustrie (-17,7%) und die Papierindustrie (-14,4%) verzeich neten deutliche Einbußen. Der Rückgang in der Metallerzeugung (-2,2%) war weniger ausgeprägt. Alle vier energieintensiven Sektoren mussten bereits im vergangenen Jahr einen Rückgang der Inlandsproduktion hinnehmen, wobei die chemische Industrie am stärksten betroffen war (-11,9%). Wir erwarten, dass ei nige Produktionskapazitäten, die aufgrund der höheren Gaspreise und der Sorge um die Versorgungssicherheit stillgelegt wurden, nicht mehr auf den Markt zurückkehren werden. Damit hat sich ein struktureller Rückgang des in dustriellen Gasverbrauchs eingestellt. Hinzu kommt, dass die Auftragseingänge im Verarbeitenden Gewerbe in den letzten Quartalen trotz einiger Aufs und Abs zu Beginn des Jahres 2023 (Volatilität aufgrund von Großaufträgen) tendenziell rückläufig waren. Somit könnte auch die Gasnachfrage der nicht-energieintensi ven Industrien in den nächsten Monaten schrumpfen. 0 5 10 15 20 25 30 35 40 45 9092949698000204060810121416182022 Mineralöl Erdgas Braunkohle Steinkohle Kernenergie Erneuerbare* Öl, Kohle und Erneuerbare gewinnen an Bedeutung 2 Anteil der Energieträger am Primärenergie - verbrauch in Deutschland, % * Inklusive Sonstige Quellen: AG Energiebilanzen, BMWK 60 70 80 90 100 110 120 17 18 19 20 21 22 23 Chemieindustrie Metallerzeugung Baustoffe Papierindustrie Produktion in ausgewählten Industriebranchen in DE, 2015=100 Quelle: Statistisches Bundesamt Spürbarer Produktionsrückgang in energieintensiven Sektoren 4 0 500 1.000 1.500 2.000 2.500 3.000 3.500 4.000 4.500 Jan Feb Mrz Apr Mai Jun Jul Aug Sep Okt Nov Dez Haushalte und Gewerbe 2023 Industrie 2023 Gesamtverbrauch 2022 Durchschnittsverbrauch 2018-2021 Gasverbrauch erneut unter Vorjahresniveau 3 Monatlicher durchschnittlicher Gasverbrauch in Deutschland, GWh pro Tag Quelle: Bundesnetzagnetur „Halbzeitbilanz" - Reformen zur Bewältigung der neuen Wachstumsherausforderung 34 | 27. Juli 2023 Ausblick Deutschland Der Gasverbrauch privater Haushalte und (kleiner) gewerblicher Kunden ging 2022 um 18,3% zurück (höhere Preise, milder Winter). Im 1. Halbjahr 2023 sank der Verbrauch um 8,9% gegenüber dem Vorjahr. Da die Gaspreise über dem Vorkrisenniveau bleiben werden, haben die privaten Haushalte weiterhin An reize Gas zu sparen. Die wöchentlichen Verbrauchsdaten zeigen, dass die Temperaturen der wichtigste Faktor für den privaten Gasverbrauch sind: In den wenigen Wochen mit sehr niedrigen Temperaturen im Winter 2022/23 zeigte sich, dass die privaten Haushalte trotz höherer Preise ihren Gasverbrauch kaum einschränkten. Daher werden die Temperaturen im Winter 2023/24 erneut der wichtigste Risikofaktor für die private Gasnachfrage sein. 29 Strom : G eringere Nachfrage, mehr Importe Neben dem Primärenergieverbrauch und der Gasnachfrage ist auch der Strom verbrauch im Jahr 2022 gesunken (-3% laut BDEW-Daten). Im 1. Halbjahr 2023 nahm der Stromverbrauch um überraschend hohe 6,2% gg. Vj. ab. Die schwa che Wirtschaftsleistung der energieintensiven Industrien und die gestiegenen Strompreise waren erneut ein wesentlicher Treiber. Darüber hinaus ging die Bruttostromerzeugung in Deutschland um mehr als 10% gg. Vj. zurück. Die Stromerzeugung aus Kernenergie sank um 57% gg. Vj. (Streckbetrieb und end gültige Stilllegung von Anlagen Mitte April; 2021: -49,8%). Auch die Stromerzeu gung auf Basis von Steinkohle (-21%) und Braunkohle (-20,9%) schrumpfte deutlich, nachdem sie 2022 noch um 18% bzw. 5,5% gestiegen war. Die Strom erzeugung aus Gaskraftwerken sank um 3,8% gg. Vj. (2022: -11,6%). Aufgrund der ungünstigen Wetterbedingungen in den ersten Monaten des Jah res 2023 (weniger Wind und weniger Sonnenstunden) und trotz eines erhebli chen Anstiegs der installierten Kapazität, insbesondere bei der Fotovoltaik (+5 GW in den ersten fünf Monaten des Jahres 2023), ging die Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien um 1,3% gg. Vj. zurück. Im Juni stieg die Stromerzeu gung aus Fotovoltaik jedoch aufgrund der hohen Anzahl an Sonnenstunden und des Anstiegs der installierten Kapazität um mehr als 10% gg. Vj. Der Rückgang der inländischen Stromerzeugung in den ersten Monaten des Jahres 2023 wurde durch höhere Stromimporte (+29,3%) und geringere Exporte (-17,7%) kompensiert. Dennoch war Deutschland im bisherigen Jahresverlauf ein Nettoexporteur von Strom. Im Mai und Juni, den ersten vollen Monaten nach dem endgültigen Ausstieg aus der Kernenergie, erhöhte Deutschland jedoch 29 Für weitere Informationen über die Situation der Gasversorgung und -nachfrage in Deutschland siehe Heymann, Eric und Marion Muehlberger (2023). Energy Transition Monitor #2 - Lower en ergy consumption, no supply worries. Deutsche Bank Research. Focus Germany. 60 70 80 90 100 110 120 17 18 19 20 21 22 23 Produktion Aufträge Verarbeitendes Gewerbe in DE, 2015=100 Quelle: Statistisches Bundesamt Auftragseingänge volatil 5 0 50 100 150 Erneuerbare Braunkohle Erdgas Steinkohle Kernenergie H1 2023 H1 2022 Deutlicher Rückgang der nuklearen und fossilen Stromerzeugung 6 Bruttostromerzeugung in Deutschland, TWh Quelle: BDEW 0 10 20 30 40 50 60 00 02 04 06 08 10 12 14 16 18 20 22 Braunkohle Steinkohle Erdgas Kernenergie Erneuerbare Sonstige Quelle: AG Energiebilanzen Anteil einzelner Energieträger an der Brutto - stromerzeugung in Deutschland, % Erneuerbare an der Spitze 7 2023: 1. Halbjahr -10 -8 -6 -4 -2 0 2 4 6 8 21 22 23 Importe Exporte Saldo Deutschland zuletzt Netto - Importeur von Strom 8 Deutscher Stromaustausch mit dem Ausland, physikalischer Lastfluss, TWh Quelle: BDEW „Halbzeitbilanz" - Reformen zur Bewältigung der neuen Wachstumsherausforderung 35 | 27. Juli 2023 Ausblick Deutschland seine Stromimporte und wurde zum Nettoimporteur von Strom. Mit dem steigen den Beitrag der Fotovoltaik in den Sommermonaten erwarten wir, dass die Stromexporte wieder steigen werden. Bei längeren Phasen mit geringen Nieder schlägen in Mitteleuropa könnte Deutschland wieder dazu beitragen, die gerin gere thermische Stromerzeugung in Nachbarländern wie Frankreich auszuglei chen. Es wird jedoch auch weiterhin längere Zeiträume geben, in denen Deutschland ein Nettoimporteur von Strom sein wird. Eric Heymann (+49 69 910-31730, eric.heymann@db.com) „Halbzeitbilanz" - Reformen zur Bewältigung der neuen Wachstumsherausforderung 36 | 27. Juli 2023 Ausblick Deutschland Büromarkt: Bremst die Infrastruktur die Nachfrage in den Metropolen ? - Die Auswirkungen von Homeoffice auf die Büronachfrage dürften generell gering sein. Die Ausnahme könnten A-Städte mit einem hohen Anteil an Wissensarbeitern sein. - Die hohe Kapazitätsauslastung der Infrastruktur in den Metropolen könnte ein wichtiges und bisher vernachlässigtes Argument sein. Die steigende Einwohner- und Pendlerzahl könnte die lokale Infrastruktur an oder sogar über ihr Kapazitätsmaximum gebracht haben. Lange Pendlerzeiten könnte die Nachfrage nach Büroflächen in den Metropolen reduziert haben. - Die geringere Nachfrage nach Büroflächen in den A-Städten könnte auch den Einzelhandelssektor belasten. - Die Insolvenzen nehmen zu, allerdings von einem sehr niedrigen Niveau aus. Die Kreditausfälle dürften aber nur verhalten zulegen. Starker Rückgang auf dem US - Büromarkt Die Pandemie und der Zinsschock der letzten Jahre haben tiefe Spuren auf dem Gewerbeimmobilienmarkt hinterlassen. In den USA hat die intensive Nut zung von Homeoffice die Leerstandsquote auf dem Büromarkt erheblich erhöht. In einigen US-Städten stehen mehr als 20% der Büros leer. Im Gewerbeimmobi liensektor sind die Preise vom Höchststand im April 2022 bis Dezember 2023 um etwa 12% gesunken. Im Jahr 2023 haben die Preise begonnen, seitwärts zu laufen. Der jüngste US-Bankenstress ergab, dass die großen US-Banken sogar einen sehr starken Rückgang der Preise für Gewerbeimmobilien um 40% ver kraften können. Deutschland: Homeoffice hat einen geringen Einfluss auf die Nachfrage nach Büroflächen Angesichts der Entwicklungen in den USA steht auch die Zukunft des Büro marktes in Deutschland auf dem Prüfstand, zumal sich die Umfrageindikatoren für den Büromarkt in letzter Zeit drastisch verschlechtert haben. Bislang hält sich die negative Entwicklung in Deutschland in Grenzen. Die Leerstandsquoten auf dem Büromarkt haben sich nur leicht erhöht. In unseren 126 Städten, typi scherweise den größten Städten, in denen insgesamt rund 31 Millionen Men schen leben, steigt die bevölkerungsgewichtete Leerstandsquote von 3,5% im Jahr 2019 auf 4,1% im Jahr 2022. Vermutlich wird die Leerstandsquote im Jahr 2023 weiter ansteigen. Wir denken aber, dass die aktuelle Leerstandsquote im mer noch unter 4,5% liegt und den langfristigen Durchschnitt von 5,4% nicht er reichen wird. Hinter dem bevölkerungsgewichteten Durchschnitt verbergen sich zwei sehr un terschiedliche Entwicklungen. Von 2019 bis 2022 stieg die Leerstandsquote in A-Städten (Metropolen) und B-Städten, d. h. in Städten mit mehr als 500.000 Einwohnern, erheblich an. In A-Städten stieg sie von 3,2% auf 5,0% und in B Städten von 3,1% auf 3,9%. Im Gegensatz dazu bewegten sich die Leerstands quoten in C-Städten, typischerweise Städte mit etwa 200.000 Einwohnern, klei neren, gut angebundenen Städten und oft sehr guten Universitäten, mit 4,1% seitwärts. Noch interessanter ist die Entwicklung in den 83 D-Städten mit jeweils etwa 100.000 Einwohnern. Hier sank die Leerstandsquote von 4,6% auf 3,9%. Leerstandsrate in 126 Städten 1 Quellen: bulwiengesa, Deutsche Bank Research Leerstandsrate in % Städteklasse A B C D # Städte 7 14 22 83 1990-2022 Durchschnitt 6,1 5,3 4,9 5,4 2019 3,2 3,1 4,1 4,6 2020 3,8 3,5 4,2 4,4 2021 4,8 3,8 4,1 4,0 2022 5,0 3,9 4,1 3,9 „Halbzeitbilanz" - Reformen zur Bewältigung der neuen Wachstumsherausforderung 37 | 27. Juli 2023 Ausblick Deutschland Unserer Meinung nach gibt es mehrere Gründe für die Divergenz zwischen den verschiedenen Typen von Städten. Erstens befinden sich die Hauptsitze großer Unternehmen häufig in A- und B-Städten. Sie haben in der Regel einen relativ hohen Anteil an Wissensarbeitern, was die anekdotische Evidenz erklären könnte, dass dort Homeoffice intensiver genutzt wird als in kleineren Firmen. Zweitens könnte die öffentliche Infrastruktur in vielen deutschen Städten, insbe sondere in A- und B-Städten, an ihre Kapazitätsgrenzen gestoßen sein. In den letzten zehn Jahren ist die Einwohnerzahl in den A-Städten um etwa 10% ge stiegen, in den B- und C-Städten um etwas mehr als 6% und in allen D-Städten nur um 3,5%. In diesem Zeitraum hat die Pendlerzahl in allen ABCD-Städten noch stärker zugenommen. Das Verhältnis von Pendlern zu Einwohnern er höhte sich von 27% auf 30%. In den A-Städten ist der Anteil mit 32,3% beson ders hoch. Umgekehrt hat sich die Qualität der Infrastruktur vermutlich ver schlechtert. Verspätungen und Ausfälle sind an der Tagesordnung. Ein riesiger Investitionsstau wird nun abgearbeitet. Langfristig wird die geplante Modernisie rung die Probleme verringern. In den kommenden Jahren werden jedoch mehr Baustellen und Streckenstilllegungen erforderlich sein, die die Pendlerzeiten noch weiter verlängern dürften. Infolgedessen könnten Büros in den Metropolen derzeit besonders unattraktiv sein, da sich die hohe Auslastung der Pendlerka pazitäten negativ auf die Produktivität der Büroangestellten auswirkt. Drittens sind die Spitzenmieten während des Booms in den A-Städten um 55%, in den B-Städten um 38% und in den C- und D-Städten nur um 34% bzw. 27% gestie gen. Dadurch stieg die Spanne zwischen A- und D-Städten von etwa 15 EUR pro m² im Jahr 2009 auf 25 EUR pro m² im Jahr 2022. Auch die Spanne zwi schen B- und D-Städten hat sich von 3 EUR pro m² auf 5 EUR pro m² vergrö ßert. Auch gibt es einige Belege dafür, dass Co-Working-Spaces auch in ländli chen Gebieten auf dem Vormarsch sind. Besonders Regionen, die in der Nähe von Metropolen liegen, dürften besonders attraktiv sein. Unserer Einschätzung nach besteht weiterhin eine hohe Nachfrage nach deut schen Büroflächen. Allerdings scheint die Flächennachfrage in den Metropolen zu sinken, womöglich zugunsten einer höheren Nachfrage in umliegenden Städ ten und Regionen. Weiterhin dürfte der Homeoffice-Effekt in Bezug auf die Ge samtnachfrage nach Büroflächen relativ gering sein. Warum verschlechtern sich die Umfragewerte? Die oben erwähnte gedämpfte Stimmung unter Immobilienmaklern und Markt teilnehmern könnte die etwas geringere fundamentale Nachfrage widerspiegeln. Bedeutender ist aber wahrscheinlich das Ende des Booms. Von 2009 bis 2022 haben sich die Preise bundesweit etwa verdoppelt. In Q1 2023 fielen die vdp Büropreise um 4,3% ggü. Vorquartal, was der zweithöchste Rückgang der Zeit reihe ist und der dritte Rückgang in Folge. Vom Hochpunkt bis zu Q1 fielen die Preise um rund 8%, was eindeutig auf die höheren Refinanzierungskosten zu rückzuführen ist. Im ersten Quartal gingen die Mieten zum ersten Mal seit der Pandemie um 0,2% ggü. dem Vorquartal zurück. Infolgedessen stiegen die an fänglichen Mietrenditen von 2,7% in Q4 2021 auf 3,5% in Q1 2023. Allerdings handelt es sich bei den Preisen und Mieten um nicht saisonbereinigte Daten, und historisch gesehen ist das erste Quartal bei beiden Zeitreihen besonders schwach. Für den gesamten deutschen Büromarkt erwarten wir, dass sich bald ein neues Gleichgewicht mit leicht niedrigeren Preisen im Vergleich zum aktuel len Niveau und höheren Mieten einstellen wird. Die Inflation dürfte die Mieten im Büromarkt erhöhen. Dies wird auch durch die Entwicklung in den A-Städten be stätigt, wo die Spitzenmieten in den 1a-Lagen in allen A-Städten trotz steigen der Leerstände im 1. Quartal 2023 neue Allzeithochs erreicht haben und in Köln und Düsseldorf um satte 24% bzw. 28% im Jahresvergleich gestiegen sind, was deutlich zeigt, dass Büros sehr gefragt sind. Dass der Markt in eine neue Büroflächennachfrage und Homeoffice 2 Die Nachfrage nach Büroraum wird sehr oft mit der intensiveren Homeoffice - Nutzung in Ver bindung gebracht. In Deutschland ist das typi sche Hybrid - Arbeitsmodell , an einem oder zwei Tagen pro Woche Homeoffice zu machen. Hier haben Marc Schattenberg und ich deutli ch ge zeigt, dass dieses Modell die Nachfrage nach Büroflächen nur geringfügig verändert. Dies gilt insbesondere, da die Daten des Statistischen Bundesamtes zeigen, dass der Anteil der Be schäftigten, die gelegentlich von zu Hause ar beiten können, im Jahr 20 22 nur noch 24, 2% betrug und bereits 2021 unter 24, 9% lag. Un serer Einschätzung nach geht der Anteil im Jahr 2023 weiter zurück. Darüber hinaus liegt die durchschnittliche Intensität des Homeoffice nach Angaben des ifo Instituts bei nur einem Tag pro Woche Quelle: Deutsche Bank Reseaerch 20 25 30 35 40 2 4 6 8 2003-2008 2009-2014 2020-2023 2015-2019 2003 - 2023 Büromarkt in A - Städten: Durchschnittliche Spitzenmiete vs. Leerstandsrate 3 EUR/qm Quellen: bulwiengesa, Deutsche Bank Research 80 100 120 140 160 180 08 10 12 14 16 18 20 22 Kapitalwert Mieten Büromarkt 4 2008=100 Quellen: vdp, Deutsche Bank Research „Halbzeitbilanz" - Reformen zur Bewältigung der neuen Wachstumsherausforderung 38 | 27. Juli 2023 Ausblick Deutschland Marktphase eingetreten ist, zeigt sich auch in einem deutlich geringeren Trans aktionsvolumen. Wir rechnen nicht mit einer Erholung der Transaktionen, da die Refinanzierungskosten auf einem viel höheren Niveau bleiben werden. Die In flationsraten sind immer noch zu hoch und könnten über dem 2%-Ziel verhar ren. Dies bedeutet weiterhin hohe Refinanzierungskosten und relativ niedrige Transaktionsvolumina. Die sehr hohen Transaktionsvolumina der Boomjahre gehören wohl dauerhaft der Vergangenheit an. A - Städte: Geringere Büronachfrage könnte sich negativ auf den Einzelhandel auswirken In den A-Städten können höhere Leerstandsquoten auf dem Büromarkt auch Auswirkungen auf den Einzelhandel haben. Wenn weniger Büroangestellte in die A-Städte pendeln, schrumpft ceteris paribus die Zahl der Verbraucher und damit der Umsatz. Dies könnte die laufende Strukturanpassung im Einzelhandel noch verschärfen. Von 2017 bis 2022 sind die inflationsbereinigten Spitzenmie ten im Einzelhandel in den A-Städten um 27% gesunken, weil es weniger Ein zelhandel in den Straßen und mehr Online-Verkäufe gibt. Aber auch die große Einkommensunsicherheit durch die Energiekrise im Herbst und über das Winter halbjahr war ein weiterer Faktor. Seit Oktober 2022 hat sich das deutsche Kon sumklima zwar etwas verbessert, ist aber immer noch sehr schwach. Der reale private Konsum ist von Q3 2022 bis Q1 2023 um rund 3% gesunken. Im zweiten Quartal 2023 haben sich die realen Einzelhandelsumsätze im Vergleich zum ersten Quartal in etwa seitwärts bewegt, und die erwartete Erholung dürfte ge dämpft ausfallen. Daher ist es keine Überraschung, dass die Spitzenmieten im Einzelhandel 2023 erneut zurückgingen. Es gibt auch zwei wesentliche positive Entwicklungen. Besonders wichtig ist die hohe Inflation. Nominal steigen die Umsätze im deutschen Einzelhandel sowohl für Lebensmittel als auch für Nichtlebensmittel seit 2009 kontinuierlich an. So sinken die nominalen Spitzenmieten im Einzelhandel in den A-Städten von 2017 bis 2022 nur um 13%. Ein weiterer Faktor ist die steigende Bevölkerung in den Metropolen, die durch Zuwanderung aus dem In- und Ausland getrieben wird. In den letzten zehn Jahren legte die Einwohnerzahl aller A-Städte von 9,28 Millio nen auf 10,18 Millionen zu. Diese positiven Entwicklungen sind jedoch weniger wichtig als die strukturelle Anpassung aufgrund des anhaltenden Trends zu mehr Online-Handel. Dieser wird sich voraussichtlich fortsetzen. Im Jahr 2022 lag der bundesweite Anteil des Online-Umsatzes am gesamten Einzelhandel bei knapp über 25% für Nichtlebensmittel, aber nicht einmal 2% für Lebensmittel. Wir gehen nach wie vor davon aus, dass diese Anteile in den nächsten Jahren auf 30 bis 50% bei Nichtlebensmitteln und 5 bis 25% bei Lebensmitteln steigen werden. Die strukturelle Anpassung des Einzelhandelsmarktes dürfte sich in den Jahren 2023 und 2024 also fortsetzen. Dies dürfte die nominalen Spitzen mieten in den A-Städten weiter reduzieren. Die Zahl der Insolvenzen könnte etwas steigen Der Boom ist vorbei. Der Markt für Gewerbeimmobilien normalisiert sich. Das bedeutet auch höhere Insolvenzen bei Unternehmen. Zum Teil ist dies auch eine Folge der besonders niedrigen Insolvenzen während der Pandemie. Die deutlich höheren Refinanzierungskosten sind aber der entscheidende Treiber, insbesondere für risikofreudige Investoren. Laut Bundesbank sind risikobehaf tete Kredite nach ESRB-Definition im Jahr 2022 von einem sehr niedrigen Ni veau aus um rund 5% ggü. Vorjahr gestiegen. In Anbetracht der weiter fallen den Preise im Gewerbeimmobiliensektor ist für 2023 mit einem weiteren Anstieg zu rechnen. Dies wird jedoch vor allem bei sehr risikofreudigen Investoren mit hohen Beleihungsausläufen und variabel verzinsten Hypotheken zum Tragen 20 24 28 32 94 98 02 06 10 14 18 22 Quellen: bulwiengesa, Deutsche Bank Research Einpendler zu Einwohner 5 Anteil in %, Durchschnitt über 126 Städte „Halbzeitbilanz" - Reformen zur Bewältigung der neuen Wachstumsherausforderung 39 | 27. Juli 2023 Ausblick Deutschland kommen. Für sie könnten sich die Investitionen nicht auszahlen. Die meisten von ihnen dürften jedoch über ausreichende Puffer verfügen, um die Anpassung zu bewältigen, nachdem sich die Preise in den Boomjahren etwa verdoppelt ha ben. Im Gegensatz dazu bevorzugten die meisten Investoren Hypotheken mit langen Laufzeiten. Sie sollten genügend Zeit haben, sich auf die Normalisierung des Gewerbeimmobilienmarktes einzustellen. Das dürfte die negativen Auswir kungen begrenzen. Jochen Möbert (+49 69 910-31727, jochen.moebert@db.com) „Halbzeitbilanz" - Reformen zur Bewältigung der neuen Wachstumsherausforderung 40 | 27. Juli 2023 Ausblick Deutschland Rück - und Ausblick zur Halbzeit - Anpassung des Wachstumsmodells im Fokus - Regierungsbilanz zur Halbzeit - Glas halb leer oder halb voll. Unsere Matrix bietet einen Überblick über die wichtigsten Meilensteine, die die Regierung seit Amtsantritt im Dezember 2021 in verschiedenen Politikfeldern erreicht hat. Das Krisenmanagement zur Verhinderung eines Energieversorgungs engpasses und zur Abfederung des Energiepreisschocks kann als weitge hend erfolgreich angesehen werden - wenn auch nicht in vollem Umfang zielgenau. Darüber hinaus lassen sich Fortschritte beim beschleunigten Ausbau der erneuerbaren Energien, eine schrittweise Verwirklichung der „Zeitenwende" und eine starke Dynamik in Bezug auf eine grüne Industrie politik (z.B. Investitionszuschüsse für grüne Technologien als Teil der vor zwei Wochen vorgeschlagenen Steuerreform) feststellen. Um die Heraus forderungen in der zweiten Hälfte der Legislaturperiode zu verstehen, hilft es, einen Blick aus der Vogelperspektive auf das deutsche Wirtschaftsmo dell insgesamt zu werfen. - Anpassung des Wachstumsmodells - wir werfen einen Blick auf unsere SWOT - Analyse aus dem Jahr 2021. In unserer SWOT-Analyse vom März 2021 kamen wir zu dem Schluss, dass die wichtigsten Risiken für das deut sche Wachstumsmodell aus dem global zunehmenden wirtschaftlichen Nati onalismus und einem beschleunigten Green-Tech/AI-Wettlauf resultieren. Beide haben sich ziemlich schnell materialisiert. Während Deutschland im mer noch einen Wettbewerbsvorteil bei der Herstellung grüner Exportgüter hat, gewinnt China rasch Marktanteile auf diesem wachsenden Markt. Da her scheint die „grüne Exportchampion-Strategie" mit weiteren Wachs tumsstrategien kombiniert werden zu müssen. Künftige Maßnahmen der Regierung und der Unternehmen sollten daher auch auf eine optimale Ver teilung der F&E-Investitionen, die Nutzung der Potenziale von Industrieda ten, eine beschleunigte Verbreitung sektorübergreifender Technologien wie KI, eine erfolgreiche Umschulung von Arbeitskräften in Verbindung mit einer gezielten Zuwanderung und Verbesserungen der (digitalen) Infrastruktur ausgerichtet sein. - Der Aufstieg der AfD in den aktuellen Umf ragen wird nicht zu einer Kehrt wende des wirtschaftspolitischen Kurses führen, aber möglicherweise zu mehr Pragmatismus in der zweiten Hälfte der Legislaturperiode. Die Mi schung aus hartnäckiger Inflation, sich verschlechternden Wirtschaftsaus sichten, anhaltenden Koalitionsstreitigkeiten und als hastig wahrgenomme nen Gesetzgebungsverfahren haben zu einem deutlichen Rückgang der Po pularität der Regierung und zu einem historischen Höchststand der Zustim mungsraten für die AfD beigetragen. Alles in allem erwarten wir, dass die Regierung ihre Reformagenda nach der Sommerpause weiter umsetzen wird, aber möglicherweise mit etwas mehr Pragmatismus. Halbzeitbilanz - Glas halb leer oder halb voll. Die Sommerpause zur Hälfte der Legislaturperiode ist ein klassischer Zeitpunkt für eine Bestandsaufnahme des sen, was die amtierende Regierung bisher erreicht hat. Da der russische Angriff auf die Ukraine und die anschließende Energiekrise einen (anhaltenden) exter nen Schock für die deutsche Wirtschaft darstellen, müssen sowohl die unmittel bare Krisenbewältigung als auch die Fortschritte bei der angepassten Reform agenda der Regierung in eine Bewertung mit einfließen. Unsere Matrix (siehe Grafik 1) bietet einen Überblick über die wichtigsten Meilensteine, die die Regie rung seit ihrem Amtsantritt im Dezember 2021 in verschiedenen Politikfeldern erreicht hat. Das Krisenmanagement zur Verhinderung eines Energieversor gungsengpasses und zur Abfederung des Energiepreisschocks kann als weitge SWOT-Analyse 1 Quelle: Deutsche Bank Stärken Schwächen • Solides makroöko nomisches Rahmenw erk und solide Wirtschafts politik • Teil des EU-Binnenmarkts • Relativ geringe Ungleichheit • Starke industrielle Basis • Forschungs- & Innova tionsstärke • Hohe Abhängigkeit von Exportnachfrage • Rasch alternde Bevölkerung • Relativ schw ache digitale Infrastruktur • Anhaltend niedriges Potenzialw achstum • Relativ schw aches Finanzsystem (Wagniskapital) Risiken Chancen • Verlagerung des Ver arbeitenden Gew erbes nach Asien • Zurückfallen im KI-Wettlauf • Sandw ich-Position im US-/China-Handels- und Technologiestreit • Verlust des sozialen Zusammenhalts / zunehmende Instabilität • Technologieführerschaft bei grüner Technologie • Von der vierten industriellen Revolution (IoT) profitieren • Schaffung eines digitalen EU-Binnenmarkts • Re-Globalisierung & Stärkung der multi lateralen, regelbasierten Ordnung „Halbzeitbilanz" - Reformen zur Bewältigung der neuen Wachstumsherausforderung 41 | 27. Juli 2023 Ausblick Deutschland hend erfolgreich angesehen werden - wenn auch nicht in vollem Umfang zielge nau. Darüber hinaus lassen sich Fortschritte beim beschleunigten Ausbau der erneuerbaren Energien, eine schrittweise Verwirklichung der „Zeitenwende" und eine starke Dynamik in Bezug auf eine grüne Industriepolitik (z.B. Investitionszu schüsse für grüne Technologien als Teil der vor zwei Wochen vorgeschlagenen Steuerreform) feststellen (weitere Details zu den einzelnen Politikfeldern siehe unten). Die Reform der Altersvorsorge, die die Einführung einer kapitalgedeck ten Pensionssäule mit einem Startkapital von EUR 10 Mrd. vorsieht, dürfte einer der wirtschaftspolitischen Meilensteine im Jahr 2024 sein. Halbzeitbilanz der Ampelkoalition, ausgewählte Politikbereiche 2 Politikbereich Maßnahmen Status Außen - und Ver teidigungs - poli tik Schaffung eines EUR 100 Mrd. Sondervermögens zur Finan zierung der Zeitenwende   Bisher EUR 1,1 Mrd. abgerufen und ca. 1/3 des Fonds ver traglich gebunden; Mittel zum Erreichen des 2% - Natoziels langfristig nicht gesichert Erste Nationale Sicherheitsstrategie   Vorgestellt am 14. Juni Deutsche China - Strategie   Vorgestellt am 13. Juli Energie - und Klimapolitik Sicherung der Energieversorgung durch den Bau von LNG - Terminals mit dem neuen Deutschlandtempo   Dazu gehören auch verlängerte Laufzeiten von Kohlekraft werken und die Abschaltung der letzten Atommeiler im April Ausbau der erneuerbaren Energien: Beschleunigte Genehmi gungsverfahren, Wind - an - Land - Gesetz   Weitere Gesetzesvorhaben wie das Solarpaket I & II sind bereits als Entwurf veröffenticht bzw. angekündigt Dekarbonisierung des Wärmesektors: Revidiertes Gebäu deenergiegesetz, kommunale Wärmeplanung, Energieeffi zienzgesetz → Laufendes Gesetzgebungsverfahren, Abschluss im Herbst 2023 erwartet Neufassung des Klimaschutzgesetztes: Erhöhte Reduktions ziele und Abkehr von sektorspezifischen Zielen → Am 21. Juni vom Kabinett verabschiedet; parlamentarische Beratung beginnt nach der Sommerpause Haushalts - und Steuerpolitik EUR 200 Mrd. Abwehrschirm zur Senkung der Strom - und Gaspreise (" Doppel - Wumms" )   Am 29. September 2022 angekündet Inflationsausgleichsgesetz zum Abfedern der kalten Progres sion bei der Einkommensteuer   Am 10. November vom Bundestag beschlossen, seit 1. Ja nuar 2023 in Kraft Wachstumschancengesetz: Zuschüsse für grüne Investitionen, ausgebaute steuerliche Forschungsförderung → Entwurf aktuell in der Ressortabstimmung zwischen den Mi nisterien Digitalisierung Breitbandausbau und digitale Infrastruktur → Fortlaufender Prozess: 61 der 100 Maßnahmen der Gi gabitstrategie umgesetzt; Onlinezugangsgesetz 2.0 am 26. Mai vom Kabinett verabschiedet Arbeitsmarkt - politik Erhöhung des Mindestlohns auf 12 EUR/h (+22% gg. Vj.)   Gilt seit dem 1. Oktober 2022; aktueller Vorschlag für wei tere, etwas moderatere Erhöhungen für 2024/25 Reform des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes   Vor der Sommerpause vom Bundestag und Bundesrat ver abschiedet Sozialpolitik Einführung des Bürgergelds   Am 25. November vom Bundestag/Bundesrat verabschie det; in Kraft seit 1. Januar 2023 Rentenreform: Stabilisierung des Rentenniveaus auf 48% und Einführung einer Aktienrente mit einem Kapital von EUR 10 Mrd.   Gesetzesentwurf liegt noch nicht vor; die Grünen haben Fragen zur Konformität der Aktienrente mit der Schulden bremse aufgeworfen. Eine Reform der private Altersvor sorge ist für 2024 geplant. Kindergrundsicherung   Einführung in 2025 geplant, Kabinettsbeschluss im August erwartet Status:  verabschiedet → in Bearbeitung  anhängig Quelle: Deutsche Bank, Medienberichte „Halbzeitbilanz" - Reformen zur Bewältigung der neuen Wachstumsherausforderung 42 | 27. Juli 2023 Ausblick Deutschland Überarbeitung des Wachstumsmodells - wir werfen einen Blick auf unsere SWOT - Analyse aus dem Jahr 2021. Neben dem Monitoring des Fortschritts ver schiedener Gesetzesvorhaben ist es ebenso wichtig, einen Blick aus der Vogel perspektive auf das deutsche Wirtschaftsmodell zu werfen. Im Jahr 2021 haben wir eine SWOT-Analyse 30 durchgeführt (siehe Grafik 1) und kamen zum Schluss, dass „die Hauptrisiken von einem global zunehmenden wirtschaftlichen Nationalismus und einem beschleunigten Green-Tech/AI-Wettlauf ausgehen". Beides hat sich ziemlich schnell materialisiert. Während Deutschland immer noch einen Wettbewerbsvorteil bei der Herstellung grüner Technologien hat, ge winnt China rasch Marktanteile auf dem wachsenden Exportmarkt für grüne Pro dukte und hat im Jahr 2022 einen Anteil von 26% am grünen Weltmarkt 31 er reicht, gegenüber 18% für Deutschland (siehe Grafik 3). Daher gilt es, die „grüne Exportchampion-Strategie" mit weiteren Wachstumsstrategien zu kom plettieren (siehe auch CER, Juni 2023 32 ). Damals im Jahr 2021 zählten zu unse ren Kernpunkten für künftige Maßnahmen der Regierung und der Unternehmen eine angemessene Verteilung der F&E-Investitionen (nicht in erster Linie in die Automobilindustrie, siehe Grafik 4), die Nutzung der Potenziale von Industrieda ten, eine beschleunigte Verbreitung sektorübergreifender Technologien wie KI, eine erfolgreiche Umschulung von Arbeitskräften in Verbindung mit einer geziel ten Zuwanderung und Verbesserungen der (digitalen) Infrastruktur. 33 All diese Punkte sind nach wie vor valide, wenn auch nicht ganz einfach umzusetzen. Haushaltsentwurf 2024 - grundsätzliche Einigung auf einen restriktiveren fiskali schen Kurs. Die Ampelkoalition hat am 5. Juli ihren ersten nicht-expansiven Haushaltsentwurf vorgelegt und somit diese wichtige Hürde genommen. Wie er wartet wurden die Ausgaben in einigen Resorts (z.B. Gesundheitsausgaben) stark gekürzt, während die Mittel im Verteidigungsetat leicht gestiegen sind (um EUR 1,7 Mrd. im Vergleich zum Vorjahr). Da das Haushaltsverfahren jedoch noch nicht abgeschlossen ist und der Haushalt 2024 erst im November vom Bundestag verabschiedet wird (siehe Grafik 5), könnte das Ringen um einige Ausgabenposten nach der Sommerpause erneut beginnen. Die Debatte über die Verwendung der eingebauten fiskalischen Puffer wurde bereits angestoßen, 30 Es handelt sich dabei um ein strategisches Managementinstrument, das die Stärken, Schwä chen, Chancen und Risiken von Unternehmensstrategien untersucht. 31 Der IWF definiert eine Liste von 124 grünen Produkten, die von E-Autos bis zu Isolationsmaterial reichen. 32 CER, Deutschland braucht ein neues Wachstumsmodell, 30. Juni 2023, CER, Europa kann US amerikanischen und chinesischen Subventionen für grüne Technologien widerstehen, Juni 2023 33 Focus Deutschland, 4. März 2021, Deutschland im nächsten Jahrzehnt: Ambitionen und Potenzi ale. Prozess zur Aufstellung des Bundeshaus halts 5 Quellen: Bundesfinanzministerium, Deutsche Bank 16 19 53 72 53 40 23 16 7 2 4 10 10 23 6 16 20 … 33 7 7 3 8 10 5 9 3 10 9 7 31 20 5 12 14 0 50 100 Fahrzeuge und Fahrzeugteile (EUR 138 Mrd.) Elektronik und elektronische Ausrüstung (97) Pharmazeutik & Biotechnologie (EUR 213 Mrd.) Software & Computer dienstleistungen (EUR 200 Mrd.) Technologie-Hardware & Ausrüstung (EUR 164 Mrd.) Gesamte Industrie (EUR 1094 Mrd.) US JP CN DE Restliche EU Rest der Welt F&E - Investitionen der 2500 größten Unternehmen % der Summe innerhalb einer Branche Quellen: Europäische Kommission, Europäischer Innovationsanzeiger 2022 Alles auf eine Karte: Deutsche F&E - Aus - gaben konzentriert auf Automobilindustrie 3 0,00 0,05 0,10 0,15 0,20 0,25 0,30 USA China Deutschland 2015 2019 2021 Wettbewerb um Marktanteile beim Export von grünen Produkten 4 Marktanteil an weltweiten Exporten von Umweltgütern* * 223 vom IWF klassifizierte Güter, die sowohl Güter in Verbindung mit Umweltschutz sind als auch umweltfreundlicher ausgestaltete Güter von Produkten zur Abwasserreinigung bis hin zu erneuerbaren Energietechnologien. Quellen: UN Comtrade, Deutsche Bank Research 150 Mrd. USD 253 Mrd. USD 354 Mrd. USD „Halbzeitbilanz" - Reformen zur Bewältigung der neuen Wachstumsherausforderung 43 | 27. Juli 2023 Ausblick Deutschland als Finanzminister Lindner am 12. Juli einen Steuerreformvorschlag 34 vorlegte, der eine jährliche Entlastung von rund EUR 6 Mrd. für Unternehmen vorsieht (siehe Tabelle im Referentenentwurf für Kostenschätzung für Bund vs. Länder). Ungebrochene Dynamik bei grüner Industriepolitik. Die deutsche Antwort auf den US-amerikanischen Inflation Reduction Act besteht aus einer Mischung aus Subventionen und Steueranreizen. - EUR 50 Mrd. für Klimaschutzverträge (CCfD), um die Dekarbonisierung der Industrie in den nächsten fünfzehn Jahren zu unterstützen . Seit dem 5. Juni können Unternehmen ihr verbindliches Interesse an einem Klimaschutzver trag (CCfD) bekunden. 35 Dabei handelt es sich um ein Subventionsinstru ment auf der Grundlage eines vertraglich festgelegten CO 2 -Strikepreises (der zwischen der Regierung und dem Unternehmen vereinbart wird), das darauf abzielt, kohlenstoffarme Technologien wettbewerbsfähig zu machen. Es wird erwartet, dass die ersten CCfDs bis Ende des Jahres in einem Auk tionsausschreibungsverfahren für einen Zeitraum von 15 Jahren vergeben und über den außerbudgetären Klima- und Transformationsfonds finanziert werden. Deutschland plant, rund EUR 50 Mrd. für dieses Subventionsinstru ment zur Verfügung zu stellen. 36 Neben Deutschland werden CCfDs auch von den Niederlanden angeboten und sind dort als „Stimulation of Sustainable Energy Production and Climate Transition" (SDE++) bekannt. 37 - Deutschland will die gelockerten EU - Beihilfevorschriften nutzen, um die hei mische Produktion von Solar - und Windtechnologien anzukurbeln. Bis zum 15. August können Hersteller von Solarmodulen ihr Interesse an einer staat lichen Förderung bekunden. 38 Damit nutzt Deutschland offenbar die von der EU-Kommission bereits im März angekündigten vorübergehenden und ge zielten Lockerungen der EU-Beihilferegeln. Die gelockerten Regeln erlau ben es den Mitgliedstaaten, einen Teil der Investitionskosten in Produktions kapazitäten für nachhaltige Technologien (Batterien, Solarzellen, Wärme pumpen, Windturbinen, Elektrolyseure, Technologien zur Kohlenstoffab scheidung und Recyclingkapazitäten für kritische Rohstoffe) zu subventio nieren. Der Höchstbetrag der Beihilfe ist auf EUR 150 Mio. für ein einzelnes Unternehmen in strukturstarken Regionen und auf bis zu EUR 350 Mio. pro gefördertem Unternehmen in strukturschwachen Regionen festgelegt (siehe Fördermatrix ). - Drittens hat FinMin Lindner am 12. Juli seinen lang erwarteten Steuerre formvorschlag vorgestellt. Er beinhaltet Investitionszuschüsse für grüne Technologien und Energieeffizienzmaßnahmen, insbesondere in Form einer Zulage in Höhe von 15% der Investitionssumme oder maximal EUR 30 Mio. Weitere Maßnahmen sind (i) verstärkte steuerliche Anreize für Forschungs tätigkeiten mit einer Verdreifachung des maximalen Abzugsbetrags auf EUR 12 Mio., (ii) die Beibehaltung und Ausweitung der Regeln für den Verlustvor trag aus der Pandemie, (iii) Vereinfachungen für kleinere Unternehmen und schnellere Abschreibung von Kleininvestitionen unter EUR 5.000 sowie (iv) einige Maßnahmen für eine faire Besteuerung, d.h. eine Meldepflicht für be stimmte inländische Steueroptimierungsprogramme. Der Vorschlag dürfte frühestens Mitte August vom Kabinett gebilligt werden, um dann in das for male Gesetzgebungsverfahren einzutreten - zumindest über Teile der Steu erreform (z.B. grüne Investitionszulagen) scheint weitgehender Konsens in der Regierung zu bestehen. 34 Siehe Referentenentwurf vom 14. Juli. 35 BMWK - Vorbereitendes Verfahren des Förderprogramms Klimaschutzverträge 36 Berlin lanciert 50 Milliarden Euro schwere „Klimaverträge" für die Industrie - EURACTIV.de 37 Merkmale SDE++ | RVO.nl 38 https://www.iwr.de/news/habeck-plant-aufbau-einer-deutschen-solarindustrie-interessensbekun dung-fuer-foerderung-laeuft-news38349 „Halbzeitbilanz" - Reformen zur Bewältigung der neuen Wachstumsherausforderung 44 | 27. Juli 2023 Ausblick Deutschland Energiepolitik - Fortschritte beim Ausbau der erneuerbaren Ener gien und bei der Steigerung der Energieeffizienz. Es besteht kein unmittelbares Risiko von Engpässen bei der Gas-/Energieversorgung mehr und dieses wird auch in der zweiten Hälfte dieses Jahres voraussichtlich nicht wieder auftreten (siehe unse ren Energy Transition Monitor vom 9. Juli). Daher konzentrieren sich die (wirt schafts-)politischen Maßnahmen auf nationaler und EU-Ebene auf den Ausbau der erneuerbaren Energien und die weitere Verbesserung der gesamtwirtschaft lichen Energieeffizienz, um die Energiewende zu beschleunigen. Während sich einige Maßnahmen unmittelbar auf die inländischen Energiekapazitäten auswir ken (Erschließung neuer Standorte für Solar- und Windenergie, Beseitigung ge setzlicher Hürden, Erleichterung der Zuwanderung von Arbeitskräften), werden andere erst mittelfristig Wirkung zeigen (z.B. PPAs, d.h. Abnahmevereinbarun gen zwischen Unternehmen, die zum Bau neuer Offshore-Windparks führen oder staatliche Beihilfen zur Förderung der inländischen Produktion von Solar- und Windtechnologien). Der Ausbau der Photovoltaik gewinnt bereits an Fahrt (siehe Grafik 6). Deutschland ist auf gutem Weg, sein diesjähriges Ausbauziel von 9 GW-Kapazität zu erreichen, wobei in den ersten fünf Monaten bereits 5 GW hinzugekommen sind. Neue Gesetze zur weiteren Erleichterung des Aus baus (z.B. Solarpaket II) dürften die Dynamik noch verstärken. Vorläufige Daten zur Energieeffizienz der deutschen Wirtschaft haben gezeigt, dass die Gesamt energieproduktivität im Jahr 2022 um 7,7% gegenüber dem Vorjahr gestiegen ist, was weit über dem historischen Durchschnitt von 2,2% für den Zeitraum 1990-2022 liegt (siehe Grafik 7), aber auch teilweise auf die preisinduzierte Nachfragereduktion der privaten Haushalte zurückzuführen ist. Ausgehend von den Q1-Daten für die Primärenergienachfrage (-7% gg. Vj.) dürfte die Gesamt energieeffizienz auch in diesem Jahr überdurchschnittlich steigen. Zeitenwende for real - Deutschland hat am 14. Juni seine allererste Nationale Sicherheitsstrategie vorgestellt . Die neue deutsche Strategie enthält erwar tungsgemäß ein Bekenntnis zum NATO-Verteidigungsausgabenziel von 2% des BIP, das allerdings nur schrittweise umgesetzt werden soll (siehe Grafik 8). Dar über hinaus zeigt sie, dass die nationale Verteidigungs- und Sicherheitspolitik in Zukunft eine wichtigere Rolle in der deutschen Politik spielen wird. Allerdings wird angesichts ministerieller Unstimmigkeiten kein Nationaler Sicherheitsrat für eine schnellere Entscheidungsfindung eingerichtet. Die von Kanzler Scholz am 27. Februar 2022 ausgerufene „Zeitenwende" in Deutschland vollzieht sich nur schrittweise. Zum Vergleich: Die Nationale Sicherheitsstrategie der USA ist ein seit 1986 gesetzlich vorgeschriebener Bericht. Die lang erwartete deutsche China - Strategie bleibt rec ht vage - und überlässt das De - Risking vorrangig den Unternehmen. Die Strategie zielt darauf ab, das Risikomanagement von der Einzelunternehmensebene auch auf die national staatliche Ebene zu heben. Jedoch bleibt sie in Bezug auf die Instrumente, mit denen dies erreicht werden soll, recht vage. Die Strategie wurde nach den deutsch-chinesischen Regierungskonsultationen am 20. Juni verabschiedet und folgt der Haltung von Olaf Scholz, der betont, dass es beim De-Risking vorran gig um Unternehmensentscheidungen geht. 39 Wie erwartet beinhaltet die Strate gie (i) Empfehlungen (aber keine Reporting- oder Stresstest-Anforderungen) für mehr Transparenz in Bezug auf das China-Geschäft deutscher Unternehmen, um Klumpen-/Bailout-Risiken zu minimieren, (ii) Obergrenzen für Investitionsga rantien von EUR 3 Mrd. pro Land und Unternehmen, (iii) die Zusage, das Han dels- und Investitionsschutzinstrumentarium auf EU-Ebene weiter auszubauen (z.B. das neue Instrument gegen Zwangsmaßnahmen), (iv) der Aufbau neuer Handels- und Investitionsbeziehungen mit regionalen Mächten in Asien und La teinamerika (z.B. Mercosur) und (v) die Förderung von Vorzeigeprojekten im Rahmen der Global Gateway Initiative der EU. Wie wir schon im Januar ge schrieben haben, bleibt das De-Risking ein langfristiger Balanceakt für ein Land 39 Reuters, Companies rather than countries must de-risk relations, Scholz says, June 30 th , 2023 0 200 400 600 800 1.000 1.200 Jun-22 Sep-22 Dez-22 März-23 Fotovoltaik Onshore Windkraft Beschleunigter Zubau bei Fotovoltaik 6 Brutto - Zubau von erneuerbaren Energien im deutschen Stromsektor, MW Quelle: Bundesnetzagentur 100 120 140 160 180 200 220 240 260 280 300 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010 2012 2014 2016 2018 2020 2022 Reales BIP in EUR/GJ Quellen: AG Energiebilanzen, Deutsche Bank Anstieg der gesamtwirtschaftlichen Energieeffizienz im Jahr 2022 7 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 2010 2012 2014 2016 2018 2020 2022e 2024 2026 EUR 100 Mrd. Sondervermögen* Verteidigungsausgaben (NATO Definition bis 2022, dann EP 14 plus andere Etats) 2% NATO-Ziel Verteidigungsausgaben, Mrd. EUR * Hypothetische Aufteilung des Sondervermögens ohne Zinskosten ab 2025 Deutschland droht langfristig das NATO - Ziel zu verfehlen 8 Quellen: NATO, Bundesfinanministerum, Eurostat, Deutsche Bank Research https://history.defense.gov/historical-sources/national-security-strategy/ „Halbzeitbilanz" - Reformen zur Bewältigung der neuen Wachstumsherausforderung 45 | 27. Juli 2023 Ausblick Deutschland mit einem exportorientierten Wachstumsmodell (Grafik 9). Die Frage, inwieweit Deutschland bereit ist, einen kurzfristigen wirtschaftlichen Preis für langfristige nationale Sicherheitsgewinne zu zahlen, bleibt weitgehend der Summe der Ent scheidungen deutscher Unternehmen überlassen (siehe auch unseren Focus Germany über die sich entwickelnden Beziehungen zu China). EU - Stabilitätspakt: Möglicher Kompromiss zwischen Berlin und Brüssel erst im Oktober? Im Juni schrieben Deutschland und 10 weitere EU-Länder in einem gemeinsamen Positionspapier 40 , dass „quantitative Kriterien, die für alle Mit gliedstaaten gelten, helfen, indem sie klare Mindestanforderungen formulieren, die eine Konsolidierung ermöglichen und das Wachstum unterstützen." In einem technischen Non-Paper hatte Deutschland bereits im April die Notwendigkeit be tont, mechanistische Mindestvorgaben für die Reduktion der öffentlichen Ver schuldung (u.a. Reduktion des Schuldenstands von 1% des BIP pro Jahr für hoch verschuldete Länder - sogenannte „common quantitative benchmarks") in den länderspezifischen Schuldenabbauplänen beizubehalten und eine Revisi onsklausel einzuführen. Die EU-Kommission hatte in ihrem Legislativvorschlag vom April, der eine Mischung aus dem alten regelbasierten und dem neuen, auf Schuldentragfähigkeit basierenden Ansatz darstellt, teilweise Zugeständnisse an Deutschland gemacht. Obwohl sich Finanzminister Lindner in seinem Mei nungsbeitrag für die FT 41 klar gegen länderspezifische Schuldenabbaupläne aussprach und seine Position nun im Juni 42 bekräftigte, dürften die finanzpoliti schen Vorbehalte teilweise durch innenpolitische Erwägungen in Deutschland bedingt sein. Eine Reihe von Wahlniederlagen der FDP bei Landtagswahlen dürfte dazu beitragen, dass Finanzminister Lindner sein Profil als „freundlicher Falke in der EU-Haushaltsdebatte" weiter schärfen wird. Ein möglicher Kompro miss auf EU-Ebene könnte nach den Landtagswahlen im Oktober in Hessen und Bayern gefunden werden, obwohl die vorgezogenen Wahlen in Spanien und den Niederlanden die Kompromissfindung weiter erschweren könnten. Da auch Deutschland kein Interesse daran haben dürfte, dass die alten Fiskalre geln 2024 wieder in vollem Umfang in Kraft gesetzt werden, besteht Spielraum für einen politischen Kompromiss (z.B. eine modifizierte Form mechanistischer Schuldenreduzierungsanforderungen), und das gesamte Gesetzgebungsverfah ren könnte Anfang nächsten Jahres abgeschlossen werden (siehe unseren Eu rope Blog vom April; Grafik 10). 40 Bundesministerium der Finanzen - Stellungnahme von Bundesfinanzminister Christian Lindner und anderen europäischen Finanzministern zur Reform der europäischen Fiskalregeln (bundesfi nanzministerium.de) 41 Christian Lindner, Wir müssen die Steuervorschriften stärken, nicht verwässern, FT, 25. April 42 FT, Deutschland warnt vor Stillstand bei EU-Finanzreformen, 9. Juni 2023 0 200 400 600 800 1.000 1.200 1.400 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 Übrige EU in China D in China Restliche EU in den USA D in den USA DE Auslandsunternehmenseinheiten aktiver in den USA als in China 9 Quellen: Eurostat (FATS), Deutsche Bank Umsatz (Industrie, Bau & Dienstleistungen), Mrd. EUR 0 2 4 6 8 10 40 50 60 70 80 90 100 00 04 08 12 16 20 Staatsverschuldung (links) Staatsdefizit (rechts) 2005 Reform "Six P ack" Fiskal - pakt 2023/24 Reform EU - 27 Staatsverschuldung, in % des BIP (links) Staatsdefizit, in % des BIP (rechts) Quellen: Eurostat, Deutsche Bank Research Entwicklung der EU - Fiskalregeln 10 https://research.db.com/research/namedfileproxy/2795-838164e6_dec9_4b87_a570_b7ec3d974315_604/838164e6_dec9_4b87_a570_b7ec3d974315_604.pdf?filetoken=yyy122_jlgpzmizxj%2flh0henmsufrzxtofyd2z65%2frewtvbjvn002tpoltg1dclntqbwydo7ciczmgfyldri6bsttjwczmyeshxj0chu6wh „Halbzeitbilanz" - Reformen zur Bewältigung der neuen Wachstumsherausforderung 46 | 27. Juli 2023 Ausblick Deutschland Update zur Stabilität der Koalition Beliebtheitswerte der Regierung erreichen ein en neuen Tiefstand - dreht die öf fentliche Wahrnehmung über die Sommermonate? Die Beliebtheitswerte der Regierung sind in den letzten Wochen erneut gesunken und erreichten in der ersten Julihälfte einen neuen Tiefstand von 39%(siehe Grafik 11). Die hartnä ckige Inflation, die sich verschlechternden Wirtschaftsaussichten, die anhalten den Koalitionsstreitigkeiten und die als hastig wahrgenommenen Gesetzge bungsverfahren (insbesondere in Bezug auf das heftig debattierte Gebäu deenergiegesetz) haben zu sinkenden Beliebtheitswerten der Regierung beige tragen. Relativ niedrige Beliebtheitswerte im zweiten Jahr einer Legislaturperiode sind jedoch nichts Ungewöhnliches (die aktuellen niedrigen Werte entsprechen den Zustimmungsraten der Vorgängerregierung von 39% im Juni 2019). Regierun gen neigen dazu, potenziell unpopuläre politische Maßnahmen vorzuziehen, um die Wähler gegen Ende des Wahlzyklus wieder für sich zu gewinnen (siehe Gra fik 12 und Ausblick Deutschland, 29. Mai). Allerdings dürfte es für die Ampelkoa lition nicht allzu einfach sein, enttäuschte Wähler zurückzugewinnen, da der Haushaltsentwurf für 2024 Ausgabenkürzungen und eine Neupriorisierung der Ausgaben (z.B. zugunsten des Verteidigungsetats) vorsieht. Rechtspopulismus im Aufwind - ein gesamteuropäisches Phänomen. Die wach sende Unzufriedenheit mit der derzeitigen Regierung hat in erster Linie der AfD genutzt, deren Umfragewerte auf ein neues Allzeithoch von 20,6% 43 geklettert sind, und nicht der CDU/CSU als stärkster Oppositionspartei. Dies hat eine Diskussion über die Gründe des Anstiegs der Umfragewerte, die mögliche Dauer des Umfragehochs und dessen Auswirkungen auf den künftigen wirt schaftspolitischen Kurs angestoßen. Zur Beantwortung dieser Fragen ziehen wir ein Modell heran, das Politikwissenschaftler zur Erklärung von Wahlentschei dungen verwenden, den sogenannten „Kausaltrichter" (Grafik 13 Trichter der Kausalität). 43 Bisheriges Allzeithoch im Umfragemittel von 16,5% im September 2018 0 5 10 15 20 25 30 35 40 20 21 22 23 CDU/CSU SPD Grüne FDP Linke AfD Wahl Krieg in der Ukraine % der Stimmen, wöchentlicher Durchschnitt der aktuellen Umfrageergebnisse* * Umfragen der führenden Meinungsforschungs institute (Allensbach, Kantar, Forsa, FG Wahlen, Infratest, INSA). Quellen: Wahlrecht.de, Deutsche Bank Research Pandemie Ampelkoalition verfehlt in den Umfragen die Mehrheit 11 GEG Novelle -1,0 -0,5 0,0 0,5 1,0 1,5 2,0 2,5 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 Merkel III Kabinett CDU/CSU - SPD Merkel IV Kabinett CDU/CSU - SPD Ampel - Koalition COVID - 19 Pandemie Flüchtlings - krise Krieg in der Ukraine Zufriedenheit mit der Bundesregierung, Skala von -5 (sehr unzufrieden) bis 5 (sehr zufrieden) Quellen: FG Wahlen Politbarometer, Deutsche Bank Geringe Zufriedenheit mit der Regierung in den ersten Jahren einer Legislaturperiode ist nicht außergewöhnlich 12 „Halbzeitbilanz" - Reformen zur Bewältigung der neuen Wachstumsherausforderung 47 | 27. Juli 2023 Ausblick Deutschland Dieses Modell hilft dabei, längerfristige Erklärungsvariablen für Wählerpräferen zen wie soziale Herkunft und Wirtschaftsstruktur von kurzfristigen Einflussfakto ren wie z.B. der aktuellen Wirtschaftslage, politischen Skandalen, Naturkatastro phen und Medienkampagnen zu trennen. i. Welche Treiber stecken hinter dem jüngsten Anstieg? Im Jahr 2021 haben wir die Ursachen für kurzfristige Schwankungen der Wählerpräferenzen auf der Basis von historischen Ausschlägen in vier Hauptkategorien eingeteilt: (i) Naturkatastrophen, (ii) personelle Veränderungen in politischen Schlüs selpositionen, (iii) politische Skandale und (iv) Enttäuschung über den aktu ellen politischen Kurs (siehe Focus Germany, 4 th Mai 2021). Der vierte Trei ber scheint momentan ausschlaggebend zu sein, denn 67% der AfD-Wähler geben an, dass Unzufriedenheit mit den anderen Parteien und nicht Über zeugung vom Angebot der AfD selbst der Hauptgrund für ihre Wahlent scheidung ist. 44 Die Kombination aus Unzufriedenheit mit den (wirtschafts-) politischen Antworten der etablierten Parteien und einer wachsenden Frus tration über die Migration (siehe Grafik 14) hat zu den steigenden Zustim mungsraten für die AfD beigetragen. Ein Blick auf historische Episoden von Schwankungen von Wählerpräferenzen zeigt, dass die Zustimmungsraten in den meisten Fällen dazu neigen, sich nach ein paar Wochen (teilweise) wieder dem historischen Mittelwert anzunähern (siehe Abbildung 15). 44 ARD DeutschlandTrend Juni 2023 Kausaltrichter mit Faktoren, welche die Wahlentscheidung beeinflussen 13 Quellen: Milic et al. (2014). Handbuch der Abstimmungsforschung, Deutsche Bank -30 -20 -10 0 10 20 30 40 50 17 18 19 20 21 22 23 Jamaica-Koalitions verhandlungen Pandemie: Flucht in Sicherheit Baerbock Kanzler - kandidatur GEG Ukraine krieg Energie - krise Zustimmungswerte, % gg. Vm. (7 Tage gleitender Durchschnitt) Quellen: Wahlrecht.de, Deutsche Bank Mean Reversion bei den Zustimmungs werten der Grünen 15 Heisse & trockene Sommer 0 1 2 3 4 EU-27 DEU LTU IRE SVK LVA CYP POL CZE EST Registrierte Flüchtlinge, in % der Gesamt - bevölkerung, Juni 2023 Quelen: UNHCR, Deutsche Bank Viele ukrainische Flüchtlinge in Mittel - und Osteuropa 14 „Halbzeitbilanz" - Reformen zur Bewältigung der neuen Wachstumsherausforderung 48 | 27. Juli 2023 Ausblick Deutschland ii. Stecken auch strukturelle Veränderungen hinter dem jüngsten Anstieg? Ab gesehen von kurzfristigen Schwankungen der Wählerpräferenzen gilt es je doch auch mögliche strukturelle Treiber für eine Verschiebung der Wähler präferenzen zu beleuchten. Dabei handelt es sich um (i) eine mögliche an haltende Veränderungsmüdigkeit in einem Zeitalter der Polykrisen sowie grüner und digitaler Transformation und (ii) die sogenannte Normalisie rungsstrategie rechtspopulistischer Parteien. Die Mehrfachkrisen der letzten Jahre haben ein Gefühl des Kontrollverlusts 45 und Angst vor wirtschaftli chem und sozialem Abstieg (siehe Grafik 16 Wirtschaftslage) ausgelöst und eine Anti-Establishment-Stimmung befeuert. In jüngsten Studien wird be tont, dass „AfD-Wähler im Vergleich zu den anderen Wählern zum einen ein wesentlich höheres Unzufriedenheitsniveau, zum anderen eine gewisse Neigung zu rechtsextremen Überzeugungen aufweisen, insbesondere eine einwanderungskritische und Anti-Establishment-Haltung". 46 Darüber hinaus haben neuere Untersuchungen ergeben, dass eine „bürgerlich-nationalisti sche Normalisierungsstrategie" zum Erfolg der Rechtsparteien in Öster reich, Frankreich und Deutschland beigetragen hat. Rechtspopulistischen Parteien ist es gelungen, über ihre Stammwählerschaft hinaus Wähler anzu ziehen (darunter viele Nichtwähler), indem sie deren Sorgen über die mögli chen wirtschaftlichen Auswirkungen der Einwanderung ansprachen 47 (siehe Grafik 17 zur EU). Diese Normalisierung manifestiert sich in Verschiebun gen bei an sich „trägen" (also sich nur langsam verändernden) Indikatoren wie dem Wählerpotenzial von Parteien. In Deutschland ist der Anteil der Wähler, die eine Stimmabgabe für die AfD ausschließen, von 70% im Jahr 2021 auf 57% derzeit geschrumpft (Grafik 18: träge Indikatoren). iii. Was sind die möglichen Auswirkungen auf den künftigen wirtschaftspoliti schen Kurs der Regierung? Alles in allem gehen wir davon aus, dass die Regierung ihre Reformagenda nach der Sommerpause weiter umsetzen wird, wenn auch möglicherweise mit etwas mehr Pragmatismus. Alle drei Regierungsparteien haben noch etwa zwölf Monate Zeit, um ihre gemein same Reformagenda voranzutreiben, bevor im September 2024 die indivi duelle Positionierung für den nächsten Wahlkampf beginnt. Ein Wiederauf flammen der Diskussion um noch nicht endgültig beschlossene oder noch im Gesetzgebungsprozess befindliche Vorhaben (z.B. das kontrovers disku tierte Gebäudeenergiegesetz und die Kindergrundsicherung) könnten die Zustimmungsraten der Koalition weiterhin belasten. iv. Welche Auswirkungen hat dies auf die künftige Koalitionsbildung auf Bun desebene? Der sogenannte Cordon sanitaire verhindert, dass die AfD Re gierungsverantwortung auf Bundes- oder Landesebene übernimmt, da alle etablierten Parteien jede Form der Zusammenarbeit auf Landes- oder Bun desebene ausschließen. Für die bevorstehenden Landtagswahlen in Bayern und Hessen im Oktober deuten die Umfragen nicht auf einen großen An stieg der AfD-Zustimmungsraten hin. In beiden Bundesländern liegen die Unionsparteien in den Umfragen vorn (Grafik 19). Im Jahr 2024 stehen je doch in drei ostdeutschen Bundesländern (Brandenburg, Thüringen, Sach sen) Landtagswahlen an. Da die AfD dort derzeit in den Umfragen führt, dürfte dies wahrscheinlich zu mehr Mehrparteienkoalitionen (ohne AfD) und möglicherweise sogar Minderheitsregierungen führen. 45 In einer aktuellen Umfrage von Allensbach (FAZ, 28 th Juni 2023) sind 52% der Befragten der Mei nung, dass sie "keinen Einfluss darauf haben, was hier vor Ort passiert" - ein Anstieg gegenüber 30% im Jahr 2021. 46 Bundeszentrale für politische Bildung (BPB) (2022). Wahlergebnisse und Wählerschaft der AfD. 47 Friedrich Ebert Stiftung (FES) (2022). Rechtspopulismus verstehen und was dagegen tun. 0 50 100 Grüne FDP CDU/CSU SPD AfD weniger gut/schlecht sehr gut/gut Quelle: ARD DeutschlandTrend, Juni 2023 Einschätzung der eigenen wirtschaftlichen Lage, in % AfD - Wähler bewerten ihre eigene wirtschaftliche Lage als eher schlecht 16 0 5 10 15 20 25 30 35 40 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 FPÖ RN Fratelli AfD VOX Zustimmungswerte, in % Quellen: Politico Polls of Polls, Deutsche Bank * Gemäss Definition von PopuList 2.0 Normalisierungsstrategien von rechts - populistischen Parteien* in der EU 17 28 16 24 31 40 38 42 39 39 46 45 39 57 68 65 41 30 26 24 24 21 24 24 28 0 20 40 60 80 100 Jul '23 Jul '22 Sep '18 Jul '23 Jul '22 Sep '18 Jul '23 Jul '22 Sep '18 Jul '23 Jul '22 Sep '18 AfD Grüne SPD CDU/CSU Wahl dieser Partei ist keine Option Unentschlossen Maximales Wählerpotenzial* % der Stimmen Quellen: INSA, Deutsche Bank Wähler, die der Partei die Stimme geben oder dies in Betracht ziehen Bewegung bei trägen Indikatoren deu tet auf strukturelle Veränderung hin 18 „Halbzeitbilanz" - Reformen zur Bewältigung der neuen Wachstumsherausforderung 49 | 27. Juli 2023 Ausblick Deutschland Marion Mühlberger (+49 69 910-31815, marion.muehlberger@db.com) Ursula Walther (ursula.walther@db.com) *Wir möchten Madeleine Grözinger für ihren wertvollen Beitrag danken. 0 5 10 15 20 25 30 35 40 45 CSU SPD Grüne FDP AfD FW CDU SDP Grüne FDP AfD Linke CDU SDP Grüne FDP AfD Linke CDU SDP Grüne FDP AfD Linke CDU SDP Grüne FDP AfD Linke Bayern Hessen Brandenburg Thüringen Sachsen Aktuelle Umfragen* Letztes Wahlergebnis Landtagswahlen im September 2024 Landtagswahlen am 8. Oktober 2023 * 16. Juni und 4./5. Juli Quellen: Wahlrecht.de, Deutsche Bank % der Stimmen CDU/CSU führt in den Umfragen für Bayern und Hessen, AfD liegt in ostdeutschen Bundesländern vorne 19 „Halbzeitbilanz" - Reformen zur Bewältigung der neuen Wachstumsherausforderung 50 | 27. Juli 2023 Ausblick Deutschland Marc Schattenberg, Sebastian Becker & Jochen Möbert (+49 69 910-31727, jochen.moebert@db.com) Deutschland: Datenkalender Datum Uhrzeit Daten Berichtszeitraum DB Schätzung Letzter Wert 28.07.2023 10:00 Reales BIP (% gg. Vq., sb.) - Schnellmeldung Q2 2023 0,2 - 0,3 28.07.2023 14:00 Vorläufiger VPI (% gg. Vj.) Juli 6,1 6,4 28.07.2023 14:00 Vorläufiger VPI (% gg. Vm.) Juli 0,2 0,3 31.07.2023 8:00 Einzelhandelsumsätze (Index, sb.), % gg. Vm.* Juni 0,8 1,6 01.08.2023 9:55 Arbeitslosenrate (%, sb.) Juli 5,7 5,7 03.08.2023 8:00 Warenexporte (% gg. Vm., sb.) Juni 1,5 0,3 03.08.2023 8:00 Warenimporte (% gg. Vm., sb.) Juni 0,5 2,1 03.08.2023 8:00 Handelsbilanz (EUR Mrd., sb.) Juni 16,3 14,6 04.08.2023 8:00 Auftragseingang im Ver. Gewerbe (% gg. Vm., sb.) Juni - 3,0 6,4 07.08.2023 8:00 Industrieproduktion (% gg. Vm., sb.) Juni 0,5 0,2 08.08.2023 8:00 VPI ohne Energie und Nahrungsmittel (% gg. Vj.) Juli 5,4 5,8 08.08.2023 8:00 VPI ohne Energie und Nahrungsmittel (% gg. Vm.) Juli 0,2 0,4 23.08.2023 9:30 PMI Verarbeitendes Gewerbe (Flash) August 40,0 38,8 23.08.2023 9:30 PMI Dienstleistungssektor (Flash) August 52,5 52,0 25.08.2023 8:00 Reales BIP (% gg. Vq., sb.) - Tiefer gegliederte Ergebnisse Q2 2023 0,2 - 0,3 25.08.2023 10:00 ifo Geschäftsklima (Index, sb.) August 88,0 87,3 *lt. Statistischem Bundesamt auch früherer Veröffentlichungstermin möglich Quellen: Deutsche Bank Research, Statistisches Bundesamt, Bundesagentur für Arbeit, ifo, S&P, HCOB „Halbzeitbilanz" - Reformen zur Bewältigung der neuen Wachstumsherausforderung 51 | 27. Juli 2023 Ausblick Deutschland Deutschland: Datenmonitor DX Q2 2022 Q3 2022 Q4 2022 Q1 2023 Q2 2023 Jan 2023 Feb 2023 Mrz 2023 Apr 2023 Mai 2023 Jun 2023 Konjunkturumfragen Gesamtwirtschaft ifo Geschäftsklima 92,3 87,7 86,8 91,5 91,2 90,1 91,1 93,2 93,5 91,5 88,5 ifo Geschäftserwartungen 86,2 79,3 80,1 88,4 87,9 86,1 88,2 91,0 91,9 88,3 83,6 Produzierendes Gewerbe ifo Verarbeitendes Gewerbe 93,9 89,6 88,7 94,6 92,9 93,0 94,2 96,7 96,5 93,3 88,9 Produktion (% gg. Vp.) - 0,5 0,7 0,1 1,7 2,3 1,7 - 1,9 0,4 0,2 Auftragseingang (% gg. Vp.) - 6,4 - 0,5 - 3,3 0,0 0,5 4,5 - 10,9 0,2 6,4 Grad der Kapazitätsauslastung 84,9 85,0 84,9 84,6 84,2 Bauhauptgewerbe Produktion (% gg. Vp.) - 2,9 - 1,1 - 0,8 3,6 10,0 2,4 - 3,2 1,2 1,1 Auftragseingang (% gg. Vp.) - 12,7 - 2,6 - 1,0 - 4,0 - 5,8 4,0 0,6 - 1,3 ifo Bauhauptgewerbe 94,3 92,6 90,2 91,8 92,1 90,8 91,9 92,6 93,0 92,1 91,3 Konsumentennachfrage EC Konsumentenbefragung - 19,0 - 26,2 - 25,1 - 17,4 - 13,3 - 19,2 - 15,8 - 17,1 - 13,2 - 13,0 - 13,7 Einzelhandelsumsätze (% gg. Vp.) - 2,8 - 0,8 - 2,0 - 1,0 0,4 - 0,1 - 0,9 0,7 0,4 Neuzulassungen PKW (% gg. Vj.) - 16,7 0,5 29,6 6,5 19,3 - 2,6 2,8 16,6 12,6 19,2 24,8 Außenhandel Auslandsaufträge (% gg. Vp.) - 8,6 1,7 - 5,3 1,6 4,9 4,3 - 13,2 - 0,8 6,4 Exporte (% gg. Vp.) 6,2 2,1 - 0,4 - 0,6 2,8 4,1 - 5,7 1,0 0,3 Importe (% gg. Vp.) 9,8 3,1 - 5,5 - 4,8 0,3 3,7 - 5,6 - 0,1 2,1 Nettoexporte (EUR Mrd.) 13,8 10,4 30,6 46,0 15,0 16,0 15,1 16,5 14,6 Arbeitsmarkt Arbeitslosenquote (%) 5,1 5,4 5,5 5,5 5,6 5,5 5,5 5,6 5,6 5,6 5,7 Veränderung Arbeitslosigkeit (Tsd. gg. Vp.) 1,0 146,0 37,7 8,7 58,7 - 5,0 9,0 20,0 25,0 12,0 28,0 Beschäftigung (% gg. Vj.) 1,5 1,1 1,0 1,0 1,0 1,0 1,0 0,9 0,8 ifo Beschäftigungsbarometer 103,2 100,5 99,0 99,8 98,9 100,1 99,4 99,8 100,1 98,2 98,4 Preise, Löhne und Arbeitskosten Preise HVPI (% gg. Vj.) 8,2 9,4 10,8 8,8 6,9 9,2 9,3 7,8 7,6 6,3 6,8 Kern - HVPI (% gg. Vj.) 3,7 3,8 5,2 5,5 5,6 5,1 5,4 5,9 5,6 5,1 6,1 Harmonisierter PPI (% gg. Vj.) Rohstoffe ohne Energie (% gg. Vj.) 23,5 12,4 1,9 - 15,0 - 23,5 - 8,3 - 11,9 - 23,4 - 24,9 - 25,1 - 20,2 Rohöl, Brent (USD/Bbl) 111,7 98,7 89,6 84,2 78,6 88,4 84,8 79,7 84,1 76,4 75,5 Inflationserwartungen EC Haushaltsumfrage 56,7 53,3 42,9 26,3 21,5 27,6 24,0 27,3 23,8 22,8 17,9 EC Unternehmensumfrage 67,2 56,0 49,4 26,3 9,9 35,5 24,4 18,9 14,6 8,9 6,1 Lohnstückkosten (gg. Vj.) Lohnstückkosten 3,4 2,6 4,9 6,1 Arbeitnehmerentgelt je Arbeitnehmer 3,5 2,8 3,8 5,1 Arbeitnehmerentgelt je Stunde 4,6 1,8 5,8 5,0 Monetärer Sektor (gg. Vj.) M3 5,5 6,8 5,1 3,0 4,2 3,5 3,0 3,1 2,8 Trend von M3* 5,1 4,3 3,6 3,2 3,0 Kredite an Unternehmen und Privatpersonen 6,6 8,2 6,8 5,5 6,4 6,1 5,5 5,0 0,0 Kredite an öffentliche Haushalte 13,6 18,5 7,3 - 7,1 - 3,6 - 5,3 - 7,1 - 7,7 - 6,0 % gg. VP = Veränderung gegenüber der Vorperiode; * zentrierter 3M - Durchschnitt Quellen: Bundesagentur für Arbeit, Deutsche Bundesbank, Europäische Kommission, Eurostat, Statistisches Bundesamt, HWWI, ifo, IHS Markit „Halbzeitbilanz" - Reformen zur Bewältigung der neuen Wachstumsherausforderung 52 | 27. Juli 2023 Ausblick Deutschland Finanzmarktprognosen DX US JP EWU GB CH SE DK NO PL HU CZ Leitzinssatz, % Aktuell 5,375 - 0,10 3,75 5,00 6,75 14,39 7,00 Sep 23 5,375 - 0,10 3,75 5,50 6,50 12,00 7,00 Dez 23 5,375 - 0,10 3,75 5,75 5,75 9,00 6,50 Mrz 24 4,875 - 0,10 3,75 5,75 5,00 7,50 5,50 3M Geldmarktsatz, % Aktuell 5,63 0,00 Sep 23 5,40 0,00 Dez 23 4,75 0,00 Mrz 24 0,00 Rendite 10J Staatsanleihen, % Aktuell 3,86 0,45 2,48 4,28 Sep 23 3,70 0,45 2,60 4,00 Dez 23 3,35 0,45 2,60 4,00 Mrz 24 3,45 0,50 2,50 4,00 Wechselkurse EUR/USD USD/JPY EUR/GBP GBP/USD EUR/CHF EUR/SEK EUR/DKK EUR/NOK EUR/PLN EUR/HUF EUR/CZK Aktuell 1,11 140,06 0,86 1,29 0,95 11,56 11,21 4,43 383,73 24,03 Sep 23 1,10 140,00 0,85 1,29 0,97 11,76 11,45 Dez 23 1,15 135,00 0,88 1,31 0,95 12,00 11,70 4,55 390,00 24,00 Mrz 24 Quellen: Bloomberg Finance LP, Deutsche Bank Research © Copyright 2023. Deutsche Bank AG, Deutsche Bank Research, 60262 Frankfurt am Main, Deutschland. Alle Rechte vorbehalten. Bei Zitaten wird um Quellenangabe „Deutsche Bank Research" gebeten. Die vorstehenden Angaben stellen keine Anlage-, Rechts- oder Steuerberatung dar. Alle Meinungsaussagen geben die aktuelle Einschätzung des Ver fassers wieder, die nicht notwendigerweise der Meinung der Deutsche Bank AG oder ihrer assoziierten Unternehmen entspricht. Alle Meinungen kön nen ohne vorherige Ankündigung geändert werden. Die Meinungen können von Einschätzungen abweichen, die in anderen von der Deutsche Bank veröffentlichten Dokumenten, einschließlich Research-Veröffentlichungen, vertreten werden. Die vorstehenden Angaben werden nur zu Informations zwecken und ohne vertragliche oder sonstige Verpflichtung zur Verfügung gestellt. Für die Richtigkeit, Vollständigkeit oder Angemessenheit der vorste henden Angaben oder Einschätzungen wird keine Gewähr übernommen. 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